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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Afghanistan und die Afghanen.

Noch fruchtbarer und noch besser bebaut ist die Umgebung von Kandahar, und
dasselbe gilt von der Oase der Wüste, in welcher Herat liegt. In Kabulistan
aber, wo Jawvrski seiue Beobachtungen anstellte, ist das vom Kabul durch¬
strömte, sechs bis sieben Werst breite Maidanthal von der Natur in besonderen
Maße gesegnet. Die Gurten bilden hier wahre Wälder, und die Erträge der
Getreidefelder machen diese Gegend zur Kornkammer für die ganze Provinz.
Auch der Viehbesitz der Landstriche Afghanistans ist erheblich, und zwar besteht
er vorzüglich in großen Schafherden von der fettschwänzigen Rasse. Ferner
werden in vielen Gegenden, besonders in der von Kandahar, Pferde von guter
Beschaffenheit in Menge gezüchtet. Endlich fehlt es auch uicht an Rindern und
Kameelen, von denen jene meist Buckel haben und vielfach zum Tragen von
Lasten verwendet werden, die Kameele aber der bayrischen Rasse angehören,
welche zwei Höcker hat und in ganz Mittelasien zur Beförderung von Waaren
und von Produkten der Landwirtschaft dient. Berühmt sind die Windhunde
des Landes.

Die Mehrzahl der Bevölkerung besteht aus Afghanen oder Pathans.
Dazu kommen viele Tadschiks, Hasaren, Kisilbaschi und Hindki und einige
tausend Kurden und Armenier, desgleichen Juden, deren es anch in Turkestan
und Buchara eine Anzahl giebt. Im ganzen soll die Bevölkerung zwischen
4 und 5 Millionen betragen, aber große Strecken sind als Wüsten unbewohnt,
und selbst zum Anbau geeignete Teile des Landes, z. B. der Nordwesten, zwischen
dem Margab und Herirud, wo einst zahlreiche Ortschaften mit seßhaften Be¬
wohnern standen und der Acker- und Gartenbau blühte, sind gegenwärtig, da
räuberische Turkmenen die Ansiedler in die Sklaverei weggeschleppt haben und
die Bewässernngsaustalten meist verfallen sind, weithin zu Einöden geworden, in
denen man, wenn überhaupt Menschen, nur wandernden Hirten begegnet.

Die Afghanen sind ein arisches Volk, das mit den Persern verwandt und
im neunten Jahrhundert von Südwesten her hier eingewandert ist und die Ur¬
einwohner in den schwerzugänglichen Nordosten, die Schluchten des Hindukusch,
zurückgedrängt hat, wo sie als "Kafirs" (Ungläubige, Heiden) in wildem Zu¬
stande leben und größtenteils ihre Unabhängigkeit behaupten. Die afghanische
Sprache, das Paschen, wurde früher deu semitischen Idiomen beigezählt, wie
die, welche sich ihrer bedienen, sich selbst für die Abkömmlinge der alten Juden,
d- h. entweder Sauls oder der sogenannten "Verlornen zehn Stämme," hielten --
eine Meinung, der uoch schir Ali in seinen Unterhaltungen mit Jaworski
huldigte. Beides ist unrichtig. Das Paschen ist unes Spiegels und Trumpps
Untersuchungen eine selbständige Sprache, die indes am Wortschatze und an den
Flexionsgesetzcn der Sprachen teilnimmt, welche in den westlichen und südöstlichen
Nachbarländern gesprochen werden, und in ihren östlichen Dialekten mehr ein
indisches Gepräge trägt. Die arabischen Wörter, die sie enthält, sind durch
den Islam in sie gekommen, zu dem sich das Volk bekennt. Das Judentum


Afghanistan und die Afghanen.

Noch fruchtbarer und noch besser bebaut ist die Umgebung von Kandahar, und
dasselbe gilt von der Oase der Wüste, in welcher Herat liegt. In Kabulistan
aber, wo Jawvrski seiue Beobachtungen anstellte, ist das vom Kabul durch¬
strömte, sechs bis sieben Werst breite Maidanthal von der Natur in besonderen
Maße gesegnet. Die Gurten bilden hier wahre Wälder, und die Erträge der
Getreidefelder machen diese Gegend zur Kornkammer für die ganze Provinz.
Auch der Viehbesitz der Landstriche Afghanistans ist erheblich, und zwar besteht
er vorzüglich in großen Schafherden von der fettschwänzigen Rasse. Ferner
werden in vielen Gegenden, besonders in der von Kandahar, Pferde von guter
Beschaffenheit in Menge gezüchtet. Endlich fehlt es auch uicht an Rindern und
Kameelen, von denen jene meist Buckel haben und vielfach zum Tragen von
Lasten verwendet werden, die Kameele aber der bayrischen Rasse angehören,
welche zwei Höcker hat und in ganz Mittelasien zur Beförderung von Waaren
und von Produkten der Landwirtschaft dient. Berühmt sind die Windhunde
des Landes.

Die Mehrzahl der Bevölkerung besteht aus Afghanen oder Pathans.
Dazu kommen viele Tadschiks, Hasaren, Kisilbaschi und Hindki und einige
tausend Kurden und Armenier, desgleichen Juden, deren es anch in Turkestan
und Buchara eine Anzahl giebt. Im ganzen soll die Bevölkerung zwischen
4 und 5 Millionen betragen, aber große Strecken sind als Wüsten unbewohnt,
und selbst zum Anbau geeignete Teile des Landes, z. B. der Nordwesten, zwischen
dem Margab und Herirud, wo einst zahlreiche Ortschaften mit seßhaften Be¬
wohnern standen und der Acker- und Gartenbau blühte, sind gegenwärtig, da
räuberische Turkmenen die Ansiedler in die Sklaverei weggeschleppt haben und
die Bewässernngsaustalten meist verfallen sind, weithin zu Einöden geworden, in
denen man, wenn überhaupt Menschen, nur wandernden Hirten begegnet.

Die Afghanen sind ein arisches Volk, das mit den Persern verwandt und
im neunten Jahrhundert von Südwesten her hier eingewandert ist und die Ur¬
einwohner in den schwerzugänglichen Nordosten, die Schluchten des Hindukusch,
zurückgedrängt hat, wo sie als „Kafirs" (Ungläubige, Heiden) in wildem Zu¬
stande leben und größtenteils ihre Unabhängigkeit behaupten. Die afghanische
Sprache, das Paschen, wurde früher deu semitischen Idiomen beigezählt, wie
die, welche sich ihrer bedienen, sich selbst für die Abkömmlinge der alten Juden,
d- h. entweder Sauls oder der sogenannten „Verlornen zehn Stämme," hielten —
eine Meinung, der uoch schir Ali in seinen Unterhaltungen mit Jaworski
huldigte. Beides ist unrichtig. Das Paschen ist unes Spiegels und Trumpps
Untersuchungen eine selbständige Sprache, die indes am Wortschatze und an den
Flexionsgesetzcn der Sprachen teilnimmt, welche in den westlichen und südöstlichen
Nachbarländern gesprochen werden, und in ihren östlichen Dialekten mehr ein
indisches Gepräge trägt. Die arabischen Wörter, die sie enthält, sind durch
den Islam in sie gekommen, zu dem sich das Volk bekennt. Das Judentum


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[0600] Afghanistan und die Afghanen. Noch fruchtbarer und noch besser bebaut ist die Umgebung von Kandahar, und dasselbe gilt von der Oase der Wüste, in welcher Herat liegt. In Kabulistan aber, wo Jawvrski seiue Beobachtungen anstellte, ist das vom Kabul durch¬ strömte, sechs bis sieben Werst breite Maidanthal von der Natur in besonderen Maße gesegnet. Die Gurten bilden hier wahre Wälder, und die Erträge der Getreidefelder machen diese Gegend zur Kornkammer für die ganze Provinz. Auch der Viehbesitz der Landstriche Afghanistans ist erheblich, und zwar besteht er vorzüglich in großen Schafherden von der fettschwänzigen Rasse. Ferner werden in vielen Gegenden, besonders in der von Kandahar, Pferde von guter Beschaffenheit in Menge gezüchtet. Endlich fehlt es auch uicht an Rindern und Kameelen, von denen jene meist Buckel haben und vielfach zum Tragen von Lasten verwendet werden, die Kameele aber der bayrischen Rasse angehören, welche zwei Höcker hat und in ganz Mittelasien zur Beförderung von Waaren und von Produkten der Landwirtschaft dient. Berühmt sind die Windhunde des Landes. Die Mehrzahl der Bevölkerung besteht aus Afghanen oder Pathans. Dazu kommen viele Tadschiks, Hasaren, Kisilbaschi und Hindki und einige tausend Kurden und Armenier, desgleichen Juden, deren es anch in Turkestan und Buchara eine Anzahl giebt. Im ganzen soll die Bevölkerung zwischen 4 und 5 Millionen betragen, aber große Strecken sind als Wüsten unbewohnt, und selbst zum Anbau geeignete Teile des Landes, z. B. der Nordwesten, zwischen dem Margab und Herirud, wo einst zahlreiche Ortschaften mit seßhaften Be¬ wohnern standen und der Acker- und Gartenbau blühte, sind gegenwärtig, da räuberische Turkmenen die Ansiedler in die Sklaverei weggeschleppt haben und die Bewässernngsaustalten meist verfallen sind, weithin zu Einöden geworden, in denen man, wenn überhaupt Menschen, nur wandernden Hirten begegnet. Die Afghanen sind ein arisches Volk, das mit den Persern verwandt und im neunten Jahrhundert von Südwesten her hier eingewandert ist und die Ur¬ einwohner in den schwerzugänglichen Nordosten, die Schluchten des Hindukusch, zurückgedrängt hat, wo sie als „Kafirs" (Ungläubige, Heiden) in wildem Zu¬ stande leben und größtenteils ihre Unabhängigkeit behaupten. Die afghanische Sprache, das Paschen, wurde früher deu semitischen Idiomen beigezählt, wie die, welche sich ihrer bedienen, sich selbst für die Abkömmlinge der alten Juden, d- h. entweder Sauls oder der sogenannten „Verlornen zehn Stämme," hielten — eine Meinung, der uoch schir Ali in seinen Unterhaltungen mit Jaworski huldigte. Beides ist unrichtig. Das Paschen ist unes Spiegels und Trumpps Untersuchungen eine selbständige Sprache, die indes am Wortschatze und an den Flexionsgesetzcn der Sprachen teilnimmt, welche in den westlichen und südöstlichen Nachbarländern gesprochen werden, und in ihren östlichen Dialekten mehr ein indisches Gepräge trägt. Die arabischen Wörter, die sie enthält, sind durch den Islam in sie gekommen, zu dem sich das Volk bekennt. Das Judentum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/600>, abgerufen am 22.07.2024.