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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Goethe und Levezow.

Levezow ist Agcimemiwn edler dargestellt worden. Dem Wohle des Va¬
terlandes bringt er nach schwersten innern Kampfe das Opfer; in seinem
einmal gefaßten Entschlüsse wird er aber nicht wieder wankend. Auch ist das
Motiv seines Handelns das Gemeinwohl, während bei Euripides und Racine
Furcht vor den Fürsten, Hcrrschbegier und jämmerlicher Ehrgeiz das Mitgefühl
ersticken. Eine kleinere Abweichung Lcvezows von seinen Vorbildern ist die,
daß bei ihnen der alte Diener (Arktis) der Klhtämnestra das Geheimnis des
Königs verrät, während bei Levezow KalchaS (der bei den andern garnicht
handelnd auftritt) offen und weihevoll das göttliche Opfer fordert, Auch hat
Levezow den an die Komödie erinnernden Zug seiner Vorgänger, daß Aga-
memnon um jeden Preis die Mutter vom Altare und womöglich wieder aus
dem Griechenlager entfernen will, nicht nachgeahmt. Erheblicher ist Levezows
Änderung, daß er die Handlung in einer viel frühern Entwicklungsstufe beginnen
läßt als der Grieche und Franzose. Bei diesen ist zu Anfang nicht allein das
Orakel bereits gegeben worden, sondern auch der erste Schritt zu dessen Er¬
füllung gethan: der Bote nach Argos ist längst hinweggeeilt. Bei unserm Dichter
hingegen wird erst im dritten Auftritte des ersten Aktes das Orakel verkündigt,
und auch späterhin giebt er die Handlung vollständiger, indem er die Botschaft
in Argos in der von ihm erfundenen verwickelten Weise fast während eines
ganzen Aktes vor dem Zuschauer ausrichten läßt.

Der Aufbau des Dramas ist Levezow gut gelungen: mit theatralischen
Geschick hat er einen regelmäßigen Fortgang, Spannung, Steigerung und
Kontrastwirkungen erzielt. Die Charaktere sind gleichfalls scharf gezeichnet und
mit gewinnenden Zügen ausgestattet worden; in Iphigenie und Agcuncmnon voll¬
zieht sich ein Gesinnungswechsel: erst zurückschandernd vor der ungeheuern That,
wollen sie dieselbe später zum gemeinen Wohle ausführen; Iphigenie hat hier einen
heroischen Zug, der ähnlich, nnr nicht in so breiter Ausführung, sich schon bei Euri¬
pides findet, während sie bei Racine nur deshalb sterben will, um dem Achill den
Weg zum Ruhme zu eröffnen, oder später, weil sie der Liebe entsagen soll, ohne die¬
selbe das Leben aber nicht ertragen mag. Also immer persönliche Motive, dort all¬
gemeine. Achill ist bei dem französischen Meister heroischer gezeichnet worden.
Der sprachliche Ausdruck ist bei Levezow manchmal spröde und ohne Fluß. Als
Versmaß ist durchschnittlich der fünffüßige Jambus verwendet worden, öfter
aber auch, vereinzelt und an größern Stellen, der Trimetcr; much ein gereimter
Monolog und ein andrer in den kurzen, zwcitaktigen Versen des Goethischen
Parzenliedes finden sich vor; den Fehler harter Enjambements teilt Levezow
mit größern Zeitgenossen.

Von den drei hier verglichenen Werken dürfte das Racinesche unserm Ge¬
schmacke noch am nächsten stehen, da sein ethischer Kern uns nicht verletzt. Auch
durch sprachliche Schönheiten steht der Franzose obenan. Aber die großen Auf¬
regungen seiner Personen sind auf ein göttliches Mißverständnis begründet, und


Goethe und Levezow.

Levezow ist Agcimemiwn edler dargestellt worden. Dem Wohle des Va¬
terlandes bringt er nach schwersten innern Kampfe das Opfer; in seinem
einmal gefaßten Entschlüsse wird er aber nicht wieder wankend. Auch ist das
Motiv seines Handelns das Gemeinwohl, während bei Euripides und Racine
Furcht vor den Fürsten, Hcrrschbegier und jämmerlicher Ehrgeiz das Mitgefühl
ersticken. Eine kleinere Abweichung Lcvezows von seinen Vorbildern ist die,
daß bei ihnen der alte Diener (Arktis) der Klhtämnestra das Geheimnis des
Königs verrät, während bei Levezow KalchaS (der bei den andern garnicht
handelnd auftritt) offen und weihevoll das göttliche Opfer fordert, Auch hat
Levezow den an die Komödie erinnernden Zug seiner Vorgänger, daß Aga-
memnon um jeden Preis die Mutter vom Altare und womöglich wieder aus
dem Griechenlager entfernen will, nicht nachgeahmt. Erheblicher ist Levezows
Änderung, daß er die Handlung in einer viel frühern Entwicklungsstufe beginnen
läßt als der Grieche und Franzose. Bei diesen ist zu Anfang nicht allein das
Orakel bereits gegeben worden, sondern auch der erste Schritt zu dessen Er¬
füllung gethan: der Bote nach Argos ist längst hinweggeeilt. Bei unserm Dichter
hingegen wird erst im dritten Auftritte des ersten Aktes das Orakel verkündigt,
und auch späterhin giebt er die Handlung vollständiger, indem er die Botschaft
in Argos in der von ihm erfundenen verwickelten Weise fast während eines
ganzen Aktes vor dem Zuschauer ausrichten läßt.

Der Aufbau des Dramas ist Levezow gut gelungen: mit theatralischen
Geschick hat er einen regelmäßigen Fortgang, Spannung, Steigerung und
Kontrastwirkungen erzielt. Die Charaktere sind gleichfalls scharf gezeichnet und
mit gewinnenden Zügen ausgestattet worden; in Iphigenie und Agcuncmnon voll¬
zieht sich ein Gesinnungswechsel: erst zurückschandernd vor der ungeheuern That,
wollen sie dieselbe später zum gemeinen Wohle ausführen; Iphigenie hat hier einen
heroischen Zug, der ähnlich, nnr nicht in so breiter Ausführung, sich schon bei Euri¬
pides findet, während sie bei Racine nur deshalb sterben will, um dem Achill den
Weg zum Ruhme zu eröffnen, oder später, weil sie der Liebe entsagen soll, ohne die¬
selbe das Leben aber nicht ertragen mag. Also immer persönliche Motive, dort all¬
gemeine. Achill ist bei dem französischen Meister heroischer gezeichnet worden.
Der sprachliche Ausdruck ist bei Levezow manchmal spröde und ohne Fluß. Als
Versmaß ist durchschnittlich der fünffüßige Jambus verwendet worden, öfter
aber auch, vereinzelt und an größern Stellen, der Trimetcr; much ein gereimter
Monolog und ein andrer in den kurzen, zwcitaktigen Versen des Goethischen
Parzenliedes finden sich vor; den Fehler harter Enjambements teilt Levezow
mit größern Zeitgenossen.

Von den drei hier verglichenen Werken dürfte das Racinesche unserm Ge¬
schmacke noch am nächsten stehen, da sein ethischer Kern uns nicht verletzt. Auch
durch sprachliche Schönheiten steht der Franzose obenan. Aber die großen Auf¬
regungen seiner Personen sind auf ein göttliches Mißverständnis begründet, und


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[0576] Goethe und Levezow. Levezow ist Agcimemiwn edler dargestellt worden. Dem Wohle des Va¬ terlandes bringt er nach schwersten innern Kampfe das Opfer; in seinem einmal gefaßten Entschlüsse wird er aber nicht wieder wankend. Auch ist das Motiv seines Handelns das Gemeinwohl, während bei Euripides und Racine Furcht vor den Fürsten, Hcrrschbegier und jämmerlicher Ehrgeiz das Mitgefühl ersticken. Eine kleinere Abweichung Lcvezows von seinen Vorbildern ist die, daß bei ihnen der alte Diener (Arktis) der Klhtämnestra das Geheimnis des Königs verrät, während bei Levezow KalchaS (der bei den andern garnicht handelnd auftritt) offen und weihevoll das göttliche Opfer fordert, Auch hat Levezow den an die Komödie erinnernden Zug seiner Vorgänger, daß Aga- memnon um jeden Preis die Mutter vom Altare und womöglich wieder aus dem Griechenlager entfernen will, nicht nachgeahmt. Erheblicher ist Levezows Änderung, daß er die Handlung in einer viel frühern Entwicklungsstufe beginnen läßt als der Grieche und Franzose. Bei diesen ist zu Anfang nicht allein das Orakel bereits gegeben worden, sondern auch der erste Schritt zu dessen Er¬ füllung gethan: der Bote nach Argos ist längst hinweggeeilt. Bei unserm Dichter hingegen wird erst im dritten Auftritte des ersten Aktes das Orakel verkündigt, und auch späterhin giebt er die Handlung vollständiger, indem er die Botschaft in Argos in der von ihm erfundenen verwickelten Weise fast während eines ganzen Aktes vor dem Zuschauer ausrichten läßt. Der Aufbau des Dramas ist Levezow gut gelungen: mit theatralischen Geschick hat er einen regelmäßigen Fortgang, Spannung, Steigerung und Kontrastwirkungen erzielt. Die Charaktere sind gleichfalls scharf gezeichnet und mit gewinnenden Zügen ausgestattet worden; in Iphigenie und Agcuncmnon voll¬ zieht sich ein Gesinnungswechsel: erst zurückschandernd vor der ungeheuern That, wollen sie dieselbe später zum gemeinen Wohle ausführen; Iphigenie hat hier einen heroischen Zug, der ähnlich, nnr nicht in so breiter Ausführung, sich schon bei Euri¬ pides findet, während sie bei Racine nur deshalb sterben will, um dem Achill den Weg zum Ruhme zu eröffnen, oder später, weil sie der Liebe entsagen soll, ohne die¬ selbe das Leben aber nicht ertragen mag. Also immer persönliche Motive, dort all¬ gemeine. Achill ist bei dem französischen Meister heroischer gezeichnet worden. Der sprachliche Ausdruck ist bei Levezow manchmal spröde und ohne Fluß. Als Versmaß ist durchschnittlich der fünffüßige Jambus verwendet worden, öfter aber auch, vereinzelt und an größern Stellen, der Trimetcr; much ein gereimter Monolog und ein andrer in den kurzen, zwcitaktigen Versen des Goethischen Parzenliedes finden sich vor; den Fehler harter Enjambements teilt Levezow mit größern Zeitgenossen. Von den drei hier verglichenen Werken dürfte das Racinesche unserm Ge¬ schmacke noch am nächsten stehen, da sein ethischer Kern uns nicht verletzt. Auch durch sprachliche Schönheiten steht der Franzose obenan. Aber die großen Auf¬ regungen seiner Personen sind auf ein göttliches Mißverständnis begründet, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/576>, abgerufen am 22.07.2024.