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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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hingegen wird das Opfer durch ein unerhebliches Vergehen des Agamemnon
begründet, für welches man im klassischen Zeitalter der deutschen Literatur kaum
noch ein ausreichendes Verständnis besaß. Ist also bei diesem Dichter auch
Schuld und Sühne in nahe Beziehung gebracht worden, so ist doch das Ver¬
hältnis derselben für unser Gefühl peinlich und lange nicht so befriedigend wie
in Racincs Meisterwerk; man wird wohl nicht fehlgehen, wenn man die nur
vorübergehende Wirkung des Levezvwschen Dramas in erster Linie diesem
Umstände Allschreibt. Während bei Racine und Euripides die Opferung in
mehr oder minder naher Beziehung zu dem Frevel der Helena geblieben ist,
hat der deutsche Dichter diesen Zusammenhang im Anschluß an eine antike
Wendung der Sage gelöst, ohne etwas dem Geist seiner Zeit Entsprechendes
an dessen Stelle zu setzen. Der Ernst des göttlichen Gebotes wird übrigens
bei keinem so streng aufgefaßt wie bei Levezow: bei Euripides wird die Priester¬
sippschaft in bedenkliches Licht gestellt, und auch bei Racine fürchtet man
Doppelsinn, was sich später dadurch als richtig offenbart, daß Eriphile, nicht
Iphigenie, als das erkorne Opfer bezeichnet wird. -- Eine erhebliche Abweichung
des Nacineschen und Levczowschcn Dramas von dem des Euripides liegt darin,
daß Achill bei den Modernen schon zu Anfang des Stückes Iphigenien liebt.
Auch bei Euripides handelt Achill für die bedrängte Jungfrau, aber seiue Be¬
weggründe sind Mitleid und beleidigtes Ehrgefühl; er erblickt Iphigenie zum
erstenmale gegen Ende des Stückes. Bei Racine steht die Liebe im Vorder¬
grunde, aber sie ist mit begeistertem Ehrgeize verbunden: durch ruhmvolle Thaten
will der Sohn der Thetis seine Liebe krönen. Bei Levezow ist die Verschiebung
der Motive noch weiter vorgeschritten: die Liebe allein regt zu dem beherzter
Eintreten für die Jungfrau an. -- Ein weiterer Zug, durch den sich Levezow
von Euripides (und noch mehr von Racine) unterscheidet, ist der, daß er Iphi¬
genie thatsächlich töten läßt und vom Mitgefühl der Diana keine stellvertretende
Hirschkuh erbeten hat. Abgesehen von dem Orakel als der Grundlage der
Handlung, ist überhaupt das Wunderbare bei dein deutschen Dichter in den
Hintergrund gedrängt worden, während der französische überall betont, daß wir
uns in einer mythologischen Welt befinden, und die Helden auf ihre Abstammung
von den Göttern stolz sein läßt. -- Eine wichtige Umgestaltung hat bei Levezow
der Charakter Agamemuons erfahren. Bei Euripides und Racine schwankt
der König hin und her: vor Beginn des Dramas hat er das Opfer durch
die Finte der Hochzeit herbcfohleu, zu Anfang desselben schickt er bei beiden
einen zweiten Brief ab, worin er wünscht, man möge die Reise unterlassen.
Bei Euripides wird dieser Brief gar uicht ausgehändigt, bei Racine zu
spät. Die Absicht, von dem Opfer abzulassen, wird also hinfällig. Diesem
Zufalle fügt sich der König in beiden Dramen, um freilich bei Racine im
vierten Akte noch einmal der Opferung entgegenzuwirken und schließlich
doch wieder der lebeusüberdrüssigen Iphigenie ihren Willen zu lassen. Bei


hingegen wird das Opfer durch ein unerhebliches Vergehen des Agamemnon
begründet, für welches man im klassischen Zeitalter der deutschen Literatur kaum
noch ein ausreichendes Verständnis besaß. Ist also bei diesem Dichter auch
Schuld und Sühne in nahe Beziehung gebracht worden, so ist doch das Ver¬
hältnis derselben für unser Gefühl peinlich und lange nicht so befriedigend wie
in Racincs Meisterwerk; man wird wohl nicht fehlgehen, wenn man die nur
vorübergehende Wirkung des Levezvwschen Dramas in erster Linie diesem
Umstände Allschreibt. Während bei Racine und Euripides die Opferung in
mehr oder minder naher Beziehung zu dem Frevel der Helena geblieben ist,
hat der deutsche Dichter diesen Zusammenhang im Anschluß an eine antike
Wendung der Sage gelöst, ohne etwas dem Geist seiner Zeit Entsprechendes
an dessen Stelle zu setzen. Der Ernst des göttlichen Gebotes wird übrigens
bei keinem so streng aufgefaßt wie bei Levezow: bei Euripides wird die Priester¬
sippschaft in bedenkliches Licht gestellt, und auch bei Racine fürchtet man
Doppelsinn, was sich später dadurch als richtig offenbart, daß Eriphile, nicht
Iphigenie, als das erkorne Opfer bezeichnet wird. — Eine erhebliche Abweichung
des Nacineschen und Levczowschcn Dramas von dem des Euripides liegt darin,
daß Achill bei den Modernen schon zu Anfang des Stückes Iphigenien liebt.
Auch bei Euripides handelt Achill für die bedrängte Jungfrau, aber seiue Be¬
weggründe sind Mitleid und beleidigtes Ehrgefühl; er erblickt Iphigenie zum
erstenmale gegen Ende des Stückes. Bei Racine steht die Liebe im Vorder¬
grunde, aber sie ist mit begeistertem Ehrgeize verbunden: durch ruhmvolle Thaten
will der Sohn der Thetis seine Liebe krönen. Bei Levezow ist die Verschiebung
der Motive noch weiter vorgeschritten: die Liebe allein regt zu dem beherzter
Eintreten für die Jungfrau an. — Ein weiterer Zug, durch den sich Levezow
von Euripides (und noch mehr von Racine) unterscheidet, ist der, daß er Iphi¬
genie thatsächlich töten läßt und vom Mitgefühl der Diana keine stellvertretende
Hirschkuh erbeten hat. Abgesehen von dem Orakel als der Grundlage der
Handlung, ist überhaupt das Wunderbare bei dein deutschen Dichter in den
Hintergrund gedrängt worden, während der französische überall betont, daß wir
uns in einer mythologischen Welt befinden, und die Helden auf ihre Abstammung
von den Göttern stolz sein läßt. — Eine wichtige Umgestaltung hat bei Levezow
der Charakter Agamemuons erfahren. Bei Euripides und Racine schwankt
der König hin und her: vor Beginn des Dramas hat er das Opfer durch
die Finte der Hochzeit herbcfohleu, zu Anfang desselben schickt er bei beiden
einen zweiten Brief ab, worin er wünscht, man möge die Reise unterlassen.
Bei Euripides wird dieser Brief gar uicht ausgehändigt, bei Racine zu
spät. Die Absicht, von dem Opfer abzulassen, wird also hinfällig. Diesem
Zufalle fügt sich der König in beiden Dramen, um freilich bei Racine im
vierten Akte noch einmal der Opferung entgegenzuwirken und schließlich
doch wieder der lebeusüberdrüssigen Iphigenie ihren Willen zu lassen. Bei


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[0575] hingegen wird das Opfer durch ein unerhebliches Vergehen des Agamemnon begründet, für welches man im klassischen Zeitalter der deutschen Literatur kaum noch ein ausreichendes Verständnis besaß. Ist also bei diesem Dichter auch Schuld und Sühne in nahe Beziehung gebracht worden, so ist doch das Ver¬ hältnis derselben für unser Gefühl peinlich und lange nicht so befriedigend wie in Racincs Meisterwerk; man wird wohl nicht fehlgehen, wenn man die nur vorübergehende Wirkung des Levezvwschen Dramas in erster Linie diesem Umstände Allschreibt. Während bei Racine und Euripides die Opferung in mehr oder minder naher Beziehung zu dem Frevel der Helena geblieben ist, hat der deutsche Dichter diesen Zusammenhang im Anschluß an eine antike Wendung der Sage gelöst, ohne etwas dem Geist seiner Zeit Entsprechendes an dessen Stelle zu setzen. Der Ernst des göttlichen Gebotes wird übrigens bei keinem so streng aufgefaßt wie bei Levezow: bei Euripides wird die Priester¬ sippschaft in bedenkliches Licht gestellt, und auch bei Racine fürchtet man Doppelsinn, was sich später dadurch als richtig offenbart, daß Eriphile, nicht Iphigenie, als das erkorne Opfer bezeichnet wird. — Eine erhebliche Abweichung des Nacineschen und Levczowschcn Dramas von dem des Euripides liegt darin, daß Achill bei den Modernen schon zu Anfang des Stückes Iphigenien liebt. Auch bei Euripides handelt Achill für die bedrängte Jungfrau, aber seiue Be¬ weggründe sind Mitleid und beleidigtes Ehrgefühl; er erblickt Iphigenie zum erstenmale gegen Ende des Stückes. Bei Racine steht die Liebe im Vorder¬ grunde, aber sie ist mit begeistertem Ehrgeize verbunden: durch ruhmvolle Thaten will der Sohn der Thetis seine Liebe krönen. Bei Levezow ist die Verschiebung der Motive noch weiter vorgeschritten: die Liebe allein regt zu dem beherzter Eintreten für die Jungfrau an. — Ein weiterer Zug, durch den sich Levezow von Euripides (und noch mehr von Racine) unterscheidet, ist der, daß er Iphi¬ genie thatsächlich töten läßt und vom Mitgefühl der Diana keine stellvertretende Hirschkuh erbeten hat. Abgesehen von dem Orakel als der Grundlage der Handlung, ist überhaupt das Wunderbare bei dein deutschen Dichter in den Hintergrund gedrängt worden, während der französische überall betont, daß wir uns in einer mythologischen Welt befinden, und die Helden auf ihre Abstammung von den Göttern stolz sein läßt. — Eine wichtige Umgestaltung hat bei Levezow der Charakter Agamemuons erfahren. Bei Euripides und Racine schwankt der König hin und her: vor Beginn des Dramas hat er das Opfer durch die Finte der Hochzeit herbcfohleu, zu Anfang desselben schickt er bei beiden einen zweiten Brief ab, worin er wünscht, man möge die Reise unterlassen. Bei Euripides wird dieser Brief gar uicht ausgehändigt, bei Racine zu spät. Die Absicht, von dem Opfer abzulassen, wird also hinfällig. Diesem Zufalle fügt sich der König in beiden Dramen, um freilich bei Racine im vierten Akte noch einmal der Opferung entgegenzuwirken und schließlich doch wieder der lebeusüberdrüssigen Iphigenie ihren Willen zu lassen. Bei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/575>, abgerufen am 22.07.2024.