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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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diesen Vorsatz im fünften Akte ausführt, hat Iphigenie den Ernst desselben
dem Achill gegenüber zu beweisen: der Bräutigam hat alles zur Flucht nach
Phthia bereitet; aber sie beharrt bei ihrer Gesinnung und wirft Achill vor, daß
er Vaterland und Götter nicht achte. Betroffen hierüber giebt auch er die
letzte Hoffnung auf und will nun an den Trojanern, die all dieses Unglück
erregt haben, bitterste Rache nehmen. Nachdem Iphigenie die Mutter noch
gebeten, dem Agamemnon wegen des Opfers nicht zu zürnen, wird sie hinweg¬
geführt. In feierlichem Zuge, unter Musik, schreitet sie zum Altare der Diana;
Klytämnestra, die in grenzenlosem Jammer auf der Bühne zurückbleibt, erblickt
im Geiste alle Einzelheiten des Vorganges, und Patroklus berichtet ihr bald
von dem heldenmütigen Opfertode der Jungfrau. Zum Zeichen der Versöhnung
ertönte der Donner des Zeus, und Agamemnon, der von der Gattin Abschied
nimmt, kann melden, daß ein reger Wind die Abfahrt sogleich ermögliche.

Von Interesse ist es, zu vergleichen, in welcher Weise das von deu Göttern
geforderte Opfer von den drei genannten Dichtern begründet worden ist. Offenbar
erblickten die Griechen der Urzeit in dem Frevel der Helena ein sowohl gegen
Menschen als gegen Götter gerichtetes Vergehen; Menelaus rächte die ihm zu¬
gefügte Schmach, indem er mit großem Heereszuge die geraubte Gattin wieder
eroberte; die Götter aber mußten uach dem religiösen Wahn einer rohen Zeit
durch ein Menschenopfer versöhnt werden, sie erheischten ein Opfer von ganz
Griechenland, als dessen Vertreter der König, Agamemnon, angesehen wurde.
Zu der vermutlich erst später hinzugedichteten Milderung dieser Strafe durch
göttliche Entführung des Opfers gesellte sich in einer weiter vorgeschrittenen
Zeit das Bedürfnis, die dem Vertreter ganz Griechenlands auferlegte Sühne
bei diesem auch durch eine persönliche Schuld zu begründen: so findet sich in
der "Taurischen Iphigenie" des Euripides (V. 20 ff.) erwähnt, daß Agamemnon
einst der Diana gelobt habe, in diesem Jahre das Schönste, was in seinem
Reiche geboren werde, zu opfern, daß er aber dies Gelübde nicht gehalten habe
und deshalb jetzt die Tochter hingeben müsse. In der "Iphigenia in Antis"
ist von solcher Begründung des göttlichen Gebotes nichts erwähnt worden, und
als eigentliches Motiv erscheint mittelbar immer noch die Schuld der Helena:
damit die Rache des Menelaus vollzogen werden könne, verlangen die Götter
schlechthin die Opferung der Iphigenie, als Bedingung der menschlichen Rache
ist also die Erfüllung der göttlichen aufgestellt worden. Diese ethischen Grund¬
lagen der Handlung liegen bei Racine in einer dem Geist seiner Zeit ent¬
sprechenden Umbildung vor. Die Schuld der Helena wird nicht durch Aga-
menmons Tochter, sondern durch eine andre Iphigenie, Eriphile, gesühnt, welche
von Theseus in früherem unerlaubtem Umgänge mit Helena erzeugt worden ist.
So rächt sich das Vergehen an der nächsten Verwandten, welche obendrein,
wie schon ihr Name andeutet, als eine von Haß und Eifersucht erfüllte In¬
trigantin ihr schlimmes Geschick persönlich zu verdienen scheint. -- Bei Levezow'


Grenzboten II. 1L8S. 72

diesen Vorsatz im fünften Akte ausführt, hat Iphigenie den Ernst desselben
dem Achill gegenüber zu beweisen: der Bräutigam hat alles zur Flucht nach
Phthia bereitet; aber sie beharrt bei ihrer Gesinnung und wirft Achill vor, daß
er Vaterland und Götter nicht achte. Betroffen hierüber giebt auch er die
letzte Hoffnung auf und will nun an den Trojanern, die all dieses Unglück
erregt haben, bitterste Rache nehmen. Nachdem Iphigenie die Mutter noch
gebeten, dem Agamemnon wegen des Opfers nicht zu zürnen, wird sie hinweg¬
geführt. In feierlichem Zuge, unter Musik, schreitet sie zum Altare der Diana;
Klytämnestra, die in grenzenlosem Jammer auf der Bühne zurückbleibt, erblickt
im Geiste alle Einzelheiten des Vorganges, und Patroklus berichtet ihr bald
von dem heldenmütigen Opfertode der Jungfrau. Zum Zeichen der Versöhnung
ertönte der Donner des Zeus, und Agamemnon, der von der Gattin Abschied
nimmt, kann melden, daß ein reger Wind die Abfahrt sogleich ermögliche.

Von Interesse ist es, zu vergleichen, in welcher Weise das von deu Göttern
geforderte Opfer von den drei genannten Dichtern begründet worden ist. Offenbar
erblickten die Griechen der Urzeit in dem Frevel der Helena ein sowohl gegen
Menschen als gegen Götter gerichtetes Vergehen; Menelaus rächte die ihm zu¬
gefügte Schmach, indem er mit großem Heereszuge die geraubte Gattin wieder
eroberte; die Götter aber mußten uach dem religiösen Wahn einer rohen Zeit
durch ein Menschenopfer versöhnt werden, sie erheischten ein Opfer von ganz
Griechenland, als dessen Vertreter der König, Agamemnon, angesehen wurde.
Zu der vermutlich erst später hinzugedichteten Milderung dieser Strafe durch
göttliche Entführung des Opfers gesellte sich in einer weiter vorgeschrittenen
Zeit das Bedürfnis, die dem Vertreter ganz Griechenlands auferlegte Sühne
bei diesem auch durch eine persönliche Schuld zu begründen: so findet sich in
der „Taurischen Iphigenie" des Euripides (V. 20 ff.) erwähnt, daß Agamemnon
einst der Diana gelobt habe, in diesem Jahre das Schönste, was in seinem
Reiche geboren werde, zu opfern, daß er aber dies Gelübde nicht gehalten habe
und deshalb jetzt die Tochter hingeben müsse. In der „Iphigenia in Antis"
ist von solcher Begründung des göttlichen Gebotes nichts erwähnt worden, und
als eigentliches Motiv erscheint mittelbar immer noch die Schuld der Helena:
damit die Rache des Menelaus vollzogen werden könne, verlangen die Götter
schlechthin die Opferung der Iphigenie, als Bedingung der menschlichen Rache
ist also die Erfüllung der göttlichen aufgestellt worden. Diese ethischen Grund¬
lagen der Handlung liegen bei Racine in einer dem Geist seiner Zeit ent¬
sprechenden Umbildung vor. Die Schuld der Helena wird nicht durch Aga-
menmons Tochter, sondern durch eine andre Iphigenie, Eriphile, gesühnt, welche
von Theseus in früherem unerlaubtem Umgänge mit Helena erzeugt worden ist.
So rächt sich das Vergehen an der nächsten Verwandten, welche obendrein,
wie schon ihr Name andeutet, als eine von Haß und Eifersucht erfüllte In¬
trigantin ihr schlimmes Geschick persönlich zu verdienen scheint. — Bei Levezow'


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[0574] diesen Vorsatz im fünften Akte ausführt, hat Iphigenie den Ernst desselben dem Achill gegenüber zu beweisen: der Bräutigam hat alles zur Flucht nach Phthia bereitet; aber sie beharrt bei ihrer Gesinnung und wirft Achill vor, daß er Vaterland und Götter nicht achte. Betroffen hierüber giebt auch er die letzte Hoffnung auf und will nun an den Trojanern, die all dieses Unglück erregt haben, bitterste Rache nehmen. Nachdem Iphigenie die Mutter noch gebeten, dem Agamemnon wegen des Opfers nicht zu zürnen, wird sie hinweg¬ geführt. In feierlichem Zuge, unter Musik, schreitet sie zum Altare der Diana; Klytämnestra, die in grenzenlosem Jammer auf der Bühne zurückbleibt, erblickt im Geiste alle Einzelheiten des Vorganges, und Patroklus berichtet ihr bald von dem heldenmütigen Opfertode der Jungfrau. Zum Zeichen der Versöhnung ertönte der Donner des Zeus, und Agamemnon, der von der Gattin Abschied nimmt, kann melden, daß ein reger Wind die Abfahrt sogleich ermögliche. Von Interesse ist es, zu vergleichen, in welcher Weise das von deu Göttern geforderte Opfer von den drei genannten Dichtern begründet worden ist. Offenbar erblickten die Griechen der Urzeit in dem Frevel der Helena ein sowohl gegen Menschen als gegen Götter gerichtetes Vergehen; Menelaus rächte die ihm zu¬ gefügte Schmach, indem er mit großem Heereszuge die geraubte Gattin wieder eroberte; die Götter aber mußten uach dem religiösen Wahn einer rohen Zeit durch ein Menschenopfer versöhnt werden, sie erheischten ein Opfer von ganz Griechenland, als dessen Vertreter der König, Agamemnon, angesehen wurde. Zu der vermutlich erst später hinzugedichteten Milderung dieser Strafe durch göttliche Entführung des Opfers gesellte sich in einer weiter vorgeschrittenen Zeit das Bedürfnis, die dem Vertreter ganz Griechenlands auferlegte Sühne bei diesem auch durch eine persönliche Schuld zu begründen: so findet sich in der „Taurischen Iphigenie" des Euripides (V. 20 ff.) erwähnt, daß Agamemnon einst der Diana gelobt habe, in diesem Jahre das Schönste, was in seinem Reiche geboren werde, zu opfern, daß er aber dies Gelübde nicht gehalten habe und deshalb jetzt die Tochter hingeben müsse. In der „Iphigenia in Antis" ist von solcher Begründung des göttlichen Gebotes nichts erwähnt worden, und als eigentliches Motiv erscheint mittelbar immer noch die Schuld der Helena: damit die Rache des Menelaus vollzogen werden könne, verlangen die Götter schlechthin die Opferung der Iphigenie, als Bedingung der menschlichen Rache ist also die Erfüllung der göttlichen aufgestellt worden. Diese ethischen Grund¬ lagen der Handlung liegen bei Racine in einer dem Geist seiner Zeit ent¬ sprechenden Umbildung vor. Die Schuld der Helena wird nicht durch Aga- menmons Tochter, sondern durch eine andre Iphigenie, Eriphile, gesühnt, welche von Theseus in früherem unerlaubtem Umgänge mit Helena erzeugt worden ist. So rächt sich das Vergehen an der nächsten Verwandten, welche obendrein, wie schon ihr Name andeutet, als eine von Haß und Eifersucht erfüllte In¬ trigantin ihr schlimmes Geschick persönlich zu verdienen scheint. — Bei Levezow' Grenzboten II. 1L8S. 72

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/574>, abgerufen am 22.07.2024.