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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Die dramatische Aunst L. von Wildenbruchs.

sage nicht, daß durch die Sorge für den Bruder der moralische Wert Harolds
gesteigert werde. Wer das glaubt, läßt sich durch die schönen Worte des
Dichters täuschen. Der That nach findet eine Minderung statt. Denn wer
die Pflichten, die er für das Ganze übernommen hat, mit solchen von inferiorer
Art durchkreuzt, der hält sich nicht auf jener reinen Höhe, der unsre höchste
Bewunderung gilt. Auch wende man nicht ein, daß das Leben Harolds durch
einen ihm vom Könige mitgegebenen Schutzgeist, das Bildnis der Tochter des
Nvrmcmncnherzogs, gesichert gewesen sei. Das Leben wohl, aber nicht die
Seele. Um diese zu schützen, hätte der König ihm lieber den andern Talisman,
das Geheimnis von der Abtretung Englands, anvertrauen sollen. Freilich wäre
es dann mit der Wildenbruchschen Tragödie zu Ende gewesen, und diese ver¬
langt noch weitere Komplikationen.

Ohne Liebesintrigue geht es nun einmal im modernen Schauspiele nicht
ab. Das zärtliche Sentiment will sein Teil haben, und so mag es denn sein.
Aber warum denn nnn gerade die Liebe zu der Tochter seines Todfeindes, die
mehr als alles andre seiner obersten Pflicht gefährlich werden muß? Und
wenn es nun schon diese Liebe und keine andre fein soll, warum kann sie nicht
zu einem Akte edelster Selbstüberwindung benutzt werden, warum muß sie den
wcickern, den heldenhaften Harold so ganz umwandeln? Zwar wissen wir, daß
auch bei Königen und Helden die Liebe arges Unheil angestiftet hat, aber auch
nach Anlage des Wildenbruchschen Stückes hat Harold die Bestimmung, bis
zu seinem Tode ein Held zu bleiben, und Sinnentaumel ist es uicht, der ihn
berückt. Zwischen ihm und Adele ist die keuscheste, die reinste Neigung. Auch
eine solche kann in ihrem ersten Entstehen die Sinne wirbeln machen, aber
wenn sie zum Begriff ihrer selbst kommt, wird sie die guten Eigenschaften dessen,
der sie hat, erhöhen und veredeln. Oder wenn dies bei indolenten und unbe¬
gabten Naturen nicht stattfindet, warum muß sie die entgegengesetzte Wirkung
bei einem Manne haben, der durch die vortrefflichsten Eigenschaften und das
Vertrauen der Seinigen an die Spitze des Volkes gestellt ist? Womit will
es Wildenbruch motiviren, daß Harold, der im Kampf mit seinen Feinden Mut
mit kluger Vorsicht gepaart, der eine genaue Kenntnis ihrer Unzuverlässigkeit
und Doppelzüngigkeit gezeigt hat, den nicht bloß individuelle, sondern die in
ihm potenzirten Eigenschaften seiner Nation als den markirtesten Gegensatz zu
allem normännischen Wesen hingestellt haben, womit will er es motiviren, daß
dieser Harold jetzt, wo er sich mitten unter den Normannen befindet, allen
seinen frühern Argwohn vergißt, jede Vorsicht außer Acht Me und wie ein
Gimpel auf die Leimrute geht, welche der plumpste Plan ihm vorhält? Die
Liebe macht den ersten angelsächsischen Helden zu dem thörichtsten Knaben seines
Volkes, den man in der Sicherheit des eigenen Landes zu keinem Botengänge
benutzen würde. Harold hätte besser gethan, zu Haufe zu bleiben und für
seine Sachsen zu sorgen. Aber da er sich einmal hat bestimmen lassen, per-


Die dramatische Aunst L. von Wildenbruchs.

sage nicht, daß durch die Sorge für den Bruder der moralische Wert Harolds
gesteigert werde. Wer das glaubt, läßt sich durch die schönen Worte des
Dichters täuschen. Der That nach findet eine Minderung statt. Denn wer
die Pflichten, die er für das Ganze übernommen hat, mit solchen von inferiorer
Art durchkreuzt, der hält sich nicht auf jener reinen Höhe, der unsre höchste
Bewunderung gilt. Auch wende man nicht ein, daß das Leben Harolds durch
einen ihm vom Könige mitgegebenen Schutzgeist, das Bildnis der Tochter des
Nvrmcmncnherzogs, gesichert gewesen sei. Das Leben wohl, aber nicht die
Seele. Um diese zu schützen, hätte der König ihm lieber den andern Talisman,
das Geheimnis von der Abtretung Englands, anvertrauen sollen. Freilich wäre
es dann mit der Wildenbruchschen Tragödie zu Ende gewesen, und diese ver¬
langt noch weitere Komplikationen.

Ohne Liebesintrigue geht es nun einmal im modernen Schauspiele nicht
ab. Das zärtliche Sentiment will sein Teil haben, und so mag es denn sein.
Aber warum denn nnn gerade die Liebe zu der Tochter seines Todfeindes, die
mehr als alles andre seiner obersten Pflicht gefährlich werden muß? Und
wenn es nun schon diese Liebe und keine andre fein soll, warum kann sie nicht
zu einem Akte edelster Selbstüberwindung benutzt werden, warum muß sie den
wcickern, den heldenhaften Harold so ganz umwandeln? Zwar wissen wir, daß
auch bei Königen und Helden die Liebe arges Unheil angestiftet hat, aber auch
nach Anlage des Wildenbruchschen Stückes hat Harold die Bestimmung, bis
zu seinem Tode ein Held zu bleiben, und Sinnentaumel ist es uicht, der ihn
berückt. Zwischen ihm und Adele ist die keuscheste, die reinste Neigung. Auch
eine solche kann in ihrem ersten Entstehen die Sinne wirbeln machen, aber
wenn sie zum Begriff ihrer selbst kommt, wird sie die guten Eigenschaften dessen,
der sie hat, erhöhen und veredeln. Oder wenn dies bei indolenten und unbe¬
gabten Naturen nicht stattfindet, warum muß sie die entgegengesetzte Wirkung
bei einem Manne haben, der durch die vortrefflichsten Eigenschaften und das
Vertrauen der Seinigen an die Spitze des Volkes gestellt ist? Womit will
es Wildenbruch motiviren, daß Harold, der im Kampf mit seinen Feinden Mut
mit kluger Vorsicht gepaart, der eine genaue Kenntnis ihrer Unzuverlässigkeit
und Doppelzüngigkeit gezeigt hat, den nicht bloß individuelle, sondern die in
ihm potenzirten Eigenschaften seiner Nation als den markirtesten Gegensatz zu
allem normännischen Wesen hingestellt haben, womit will er es motiviren, daß
dieser Harold jetzt, wo er sich mitten unter den Normannen befindet, allen
seinen frühern Argwohn vergißt, jede Vorsicht außer Acht Me und wie ein
Gimpel auf die Leimrute geht, welche der plumpste Plan ihm vorhält? Die
Liebe macht den ersten angelsächsischen Helden zu dem thörichtsten Knaben seines
Volkes, den man in der Sicherheit des eigenen Landes zu keinem Botengänge
benutzen würde. Harold hätte besser gethan, zu Haufe zu bleiben und für
seine Sachsen zu sorgen. Aber da er sich einmal hat bestimmen lassen, per-


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[0524] Die dramatische Aunst L. von Wildenbruchs. sage nicht, daß durch die Sorge für den Bruder der moralische Wert Harolds gesteigert werde. Wer das glaubt, läßt sich durch die schönen Worte des Dichters täuschen. Der That nach findet eine Minderung statt. Denn wer die Pflichten, die er für das Ganze übernommen hat, mit solchen von inferiorer Art durchkreuzt, der hält sich nicht auf jener reinen Höhe, der unsre höchste Bewunderung gilt. Auch wende man nicht ein, daß das Leben Harolds durch einen ihm vom Könige mitgegebenen Schutzgeist, das Bildnis der Tochter des Nvrmcmncnherzogs, gesichert gewesen sei. Das Leben wohl, aber nicht die Seele. Um diese zu schützen, hätte der König ihm lieber den andern Talisman, das Geheimnis von der Abtretung Englands, anvertrauen sollen. Freilich wäre es dann mit der Wildenbruchschen Tragödie zu Ende gewesen, und diese ver¬ langt noch weitere Komplikationen. Ohne Liebesintrigue geht es nun einmal im modernen Schauspiele nicht ab. Das zärtliche Sentiment will sein Teil haben, und so mag es denn sein. Aber warum denn nnn gerade die Liebe zu der Tochter seines Todfeindes, die mehr als alles andre seiner obersten Pflicht gefährlich werden muß? Und wenn es nun schon diese Liebe und keine andre fein soll, warum kann sie nicht zu einem Akte edelster Selbstüberwindung benutzt werden, warum muß sie den wcickern, den heldenhaften Harold so ganz umwandeln? Zwar wissen wir, daß auch bei Königen und Helden die Liebe arges Unheil angestiftet hat, aber auch nach Anlage des Wildenbruchschen Stückes hat Harold die Bestimmung, bis zu seinem Tode ein Held zu bleiben, und Sinnentaumel ist es uicht, der ihn berückt. Zwischen ihm und Adele ist die keuscheste, die reinste Neigung. Auch eine solche kann in ihrem ersten Entstehen die Sinne wirbeln machen, aber wenn sie zum Begriff ihrer selbst kommt, wird sie die guten Eigenschaften dessen, der sie hat, erhöhen und veredeln. Oder wenn dies bei indolenten und unbe¬ gabten Naturen nicht stattfindet, warum muß sie die entgegengesetzte Wirkung bei einem Manne haben, der durch die vortrefflichsten Eigenschaften und das Vertrauen der Seinigen an die Spitze des Volkes gestellt ist? Womit will es Wildenbruch motiviren, daß Harold, der im Kampf mit seinen Feinden Mut mit kluger Vorsicht gepaart, der eine genaue Kenntnis ihrer Unzuverlässigkeit und Doppelzüngigkeit gezeigt hat, den nicht bloß individuelle, sondern die in ihm potenzirten Eigenschaften seiner Nation als den markirtesten Gegensatz zu allem normännischen Wesen hingestellt haben, womit will er es motiviren, daß dieser Harold jetzt, wo er sich mitten unter den Normannen befindet, allen seinen frühern Argwohn vergißt, jede Vorsicht außer Acht Me und wie ein Gimpel auf die Leimrute geht, welche der plumpste Plan ihm vorhält? Die Liebe macht den ersten angelsächsischen Helden zu dem thörichtsten Knaben seines Volkes, den man in der Sicherheit des eigenen Landes zu keinem Botengänge benutzen würde. Harold hätte besser gethan, zu Haufe zu bleiben und für seine Sachsen zu sorgen. Aber da er sich einmal hat bestimmen lassen, per-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/524>, abgerufen am 22.07.2024.