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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Gesetze im wesentlichen nichts anders als Ergebnisse aus dem letzten seien. Je
einheitlicher in sich eine Handlung ist, umso einfacher gestalten sich auch die
Verhältnisse der Zeit und des Ortes. Eine nur aus einem Motive hervor-
gegangene Handlung kann mit ihren Folgen verhältnismäßig leicht nicht nur
auf einen Ort, sondern auch auf eine Zeit, welche die Dauer eines Tages nicht
überschreitet, beschränkt werden. Da nun die Alten in ihren Dramen nur eben
dies einheitliche Prinzip des Handelns kannten, so ergab sich daraus das übrige
von selbst.

Und damit hätten, führt Lessing aus, die Alten die Richtschnur gefunden,
in deren Anwendung sie nicht bloß für sich die größten Vorteile in bezug auf
die erzielte ästhetische und moralische Wirkung gewannen, sondern die auch
ihrem Publikum deu leicht zu handhabenden sichern Maßstab für die Beurteilung
gewährte. In der That ist dies Gesetz die Grundlage und der Angelpunkt
aller antiken Tragödien und kehrt in jeder einzelnen so sicher wieder, wie die
Sonne an jedem neuen Morgen Licht und Wärme in alle Teile der Welt ver¬
sendet. Aber nicht bloß für sich, sondern anch für uns und für alle Zeit
haben sie damit die Regel hingestellt, die jeder befolgen muß, der durch dra¬
matische Dichtung auf uns wirken will. Mag er es mit Zeit und Ort halten,
wie es ihm beliebt, obwohl auch in diesen Punkten die möglichste Befolgung
der antiken Vorschrift nur Vorteil bringen kann, aber von jenem dritten Grund¬
satze kann er sich niemals ungestraft abwenden. Seine Befolgung bedeutet
Ordnung, Klärung, Vertiefung, seine Nichtbefolgung Unordnung, Verwirrung,
Trübung; sie kann zwar Verbreiterung herbeiführen, aber damit auch Ver¬
flachung.

Sehen wir nun zu, wie sich dem gegenüber Wildenbruchs "Harold" verhält.
Wenn wir aus dem Inhalte des Stückes die betreffenden Momente heraus¬
nehmen, so müßte Harold entweder aus Liebe zu seinem Vaterlande, oder aus
der zu Bruder und Mutter, oder drittens aus dem Impulse handeln, den man
mit dem Worte Liebe in prägnanten Sinne bezeichnet. Freilich thäte der Dichter,
welcher die beiden letzten Motive unterlegen wollte, gut, eine Namensänderung
vorzunehmen, denn der königliche Name Harold würde sich schwerlich zum Titel
eines bürgerlich romantischen Schauspieles eignen. Aber noch ein viertes wäre
möglich: man könnte alle drei Momente zu einem großen Strome in einem
Bette vereinigen, und zwar so, daß die beiden, welche das geringere Gewicht
hätten, zur Verstärkung des mächtigern verwandt würden, und so die Einheit
der Handlung erhalten bliebe. Von diesem Gedanken scheint Wildenbruch ge¬
leitet worden zu sein, und wenn er es ist, mit dein vollsten Rechte. Man asse
den Helden für das Wohl und den Ruhm seines Volkes die herrlichsten Thaten
verrichten, man lasse ihn zur Vollbringung derselben Kraft und Mut aus eiuer
zärtlichen Liebe schöpfen, die ihn mit seinen nächsten Blutsverwandten verknüpft,
man stelle ihm ein Weib zur Seite, das ihn, wie Thusnelda den Hermann,


Gesetze im wesentlichen nichts anders als Ergebnisse aus dem letzten seien. Je
einheitlicher in sich eine Handlung ist, umso einfacher gestalten sich auch die
Verhältnisse der Zeit und des Ortes. Eine nur aus einem Motive hervor-
gegangene Handlung kann mit ihren Folgen verhältnismäßig leicht nicht nur
auf einen Ort, sondern auch auf eine Zeit, welche die Dauer eines Tages nicht
überschreitet, beschränkt werden. Da nun die Alten in ihren Dramen nur eben
dies einheitliche Prinzip des Handelns kannten, so ergab sich daraus das übrige
von selbst.

Und damit hätten, führt Lessing aus, die Alten die Richtschnur gefunden,
in deren Anwendung sie nicht bloß für sich die größten Vorteile in bezug auf
die erzielte ästhetische und moralische Wirkung gewannen, sondern die auch
ihrem Publikum deu leicht zu handhabenden sichern Maßstab für die Beurteilung
gewährte. In der That ist dies Gesetz die Grundlage und der Angelpunkt
aller antiken Tragödien und kehrt in jeder einzelnen so sicher wieder, wie die
Sonne an jedem neuen Morgen Licht und Wärme in alle Teile der Welt ver¬
sendet. Aber nicht bloß für sich, sondern anch für uns und für alle Zeit
haben sie damit die Regel hingestellt, die jeder befolgen muß, der durch dra¬
matische Dichtung auf uns wirken will. Mag er es mit Zeit und Ort halten,
wie es ihm beliebt, obwohl auch in diesen Punkten die möglichste Befolgung
der antiken Vorschrift nur Vorteil bringen kann, aber von jenem dritten Grund¬
satze kann er sich niemals ungestraft abwenden. Seine Befolgung bedeutet
Ordnung, Klärung, Vertiefung, seine Nichtbefolgung Unordnung, Verwirrung,
Trübung; sie kann zwar Verbreiterung herbeiführen, aber damit auch Ver¬
flachung.

Sehen wir nun zu, wie sich dem gegenüber Wildenbruchs „Harold" verhält.
Wenn wir aus dem Inhalte des Stückes die betreffenden Momente heraus¬
nehmen, so müßte Harold entweder aus Liebe zu seinem Vaterlande, oder aus
der zu Bruder und Mutter, oder drittens aus dem Impulse handeln, den man
mit dem Worte Liebe in prägnanten Sinne bezeichnet. Freilich thäte der Dichter,
welcher die beiden letzten Motive unterlegen wollte, gut, eine Namensänderung
vorzunehmen, denn der königliche Name Harold würde sich schwerlich zum Titel
eines bürgerlich romantischen Schauspieles eignen. Aber noch ein viertes wäre
möglich: man könnte alle drei Momente zu einem großen Strome in einem
Bette vereinigen, und zwar so, daß die beiden, welche das geringere Gewicht
hätten, zur Verstärkung des mächtigern verwandt würden, und so die Einheit
der Handlung erhalten bliebe. Von diesem Gedanken scheint Wildenbruch ge¬
leitet worden zu sein, und wenn er es ist, mit dein vollsten Rechte. Man asse
den Helden für das Wohl und den Ruhm seines Volkes die herrlichsten Thaten
verrichten, man lasse ihn zur Vollbringung derselben Kraft und Mut aus eiuer
zärtlichen Liebe schöpfen, die ihn mit seinen nächsten Blutsverwandten verknüpft,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/522>, abgerufen am 22.07.2024.