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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Die dramatische Kunst <L. von Wildenbruchs.

sich nicht rütteln. Ihn haben die Alten, die, wie in allen Dingen, so auch hier
unsre Lehrer waren, zuerst aufgestellt, und haben darnach Tragödien geschaffen,
die noch jetzt mustergiltig sind. Befolgt haben ihn dann alle modernen Na¬
tionen, jedes Volk, wie es die spezieller von Aristoteles aufgestellten Gesetze
verstanden hat. Sind somit auch wir gehalten, nach ihm den Wert der Wilden-
bruchschcn Tragödien zu bemessen, so mag zunächst der "Harold" eiuer ein¬
gehenden Betrachtung unterzogen werden, und zwar deshalb, weil diese Tra¬
gödie einen der interessantesten und bedeutungsvollsten historischen Vorgänge
der mittleren Zeit behandelt.

Der Name Harold ruft uns den folgewichtigen Übergang der Beherrschung
Englands ans den Händen des angelsächsischen Stammes in die des normün-
nischen ins Gedächtnis. Dieser Herrschaftswechsel ist für die Geschichte des eng¬
lischen Volkes von den segensreichsten Folgen gewesen, denn nach dem Urteile
der Historiker bedeutet er die Vermischung zweier teutonischen Stämme, die in
ihrer Trennung jeder ein starkes Volk, aber in der Vereinigung unwiderstehlich
waren. Das konnten nun freilich die damaligen Angelsachsen nicht Wohl be¬
greifen, und deshalb haben sie sich mit aller der Tapferkeit und dem Unab-
hnngigkeitsgefühl, das der germanischen Rasse eigen ist, gegen den Einfall des
Eroberers gewehrt. Ans diesem Kampfe, so kurz er war, leuchtet König Haralds
Name durch die Jahrhunderte. Hastings und die Niederlage der Sachsen, uur
herbeigeführt, wie es scheint, durch den Tod ihres Königs, ist ein tragischer
Stoss, wie er sich erhabener so leicht dem Dichter nicht bietet. Wie hat Wilden-
bruch ihn seinen dichterischen Zwecken dienstbar gemacht?

Um dies endgiltig zu beantworten, wollen wir die eben berührten, von
Aristoteles aufgestellten Regeln, die er aus den Tragödien der großen attischen
Meister nbstrahirte, fiir einen Augenblick näher betrachten. Es sind die drei
Forderungen der Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung, mit andern
Worten die Forderung, daß eine Handlung erstens an einem und demselben
Orte, zweitens, daß sie sich in einer durch nichts unterbrochenen Zeit abspielen
und drittens, daß sie selbst auch einen einfachen, das heißt aus einem einzigen
Prinzip und durch dieses selbst sich entwickelnden Vorgang darstellen müsse,
Nun ist allgemein bekannt, daß Shakespeare sich um die beiden ersten Vor¬
schriften nicht im geringsten bekümmert hat, während selbst die ersten franzö¬
sischen Tragiker ihnen zuliebe und sie für die Hauptsache haltend häufig die
Handlung so malträtirt haben, daß sie, um der zweiten Forderung gerecht zu
werden, beispielsweise die unwahrscheinlichste Folge der Dinge in die Dauer
eines einzigen Tages zusammengepreßt haben. In diesem Widerstreite der Mei¬
nungen stellt sich Lessing in seiner "Hamburgischen Dramaturgie" auf die Seite
der Engländer. Es ist nicht nötig, des weiteren hier zu erörtern, wie er im
einzelnen und ganzen seine Polemik geführt hat. Nur soviel soll erwähnt
werden, daß er einleuchtend und unwiderleglich ausführt, daß die beiden ersten


Die dramatische Kunst <L. von Wildenbruchs.

sich nicht rütteln. Ihn haben die Alten, die, wie in allen Dingen, so auch hier
unsre Lehrer waren, zuerst aufgestellt, und haben darnach Tragödien geschaffen,
die noch jetzt mustergiltig sind. Befolgt haben ihn dann alle modernen Na¬
tionen, jedes Volk, wie es die spezieller von Aristoteles aufgestellten Gesetze
verstanden hat. Sind somit auch wir gehalten, nach ihm den Wert der Wilden-
bruchschcn Tragödien zu bemessen, so mag zunächst der „Harold" eiuer ein¬
gehenden Betrachtung unterzogen werden, und zwar deshalb, weil diese Tra¬
gödie einen der interessantesten und bedeutungsvollsten historischen Vorgänge
der mittleren Zeit behandelt.

Der Name Harold ruft uns den folgewichtigen Übergang der Beherrschung
Englands ans den Händen des angelsächsischen Stammes in die des normün-
nischen ins Gedächtnis. Dieser Herrschaftswechsel ist für die Geschichte des eng¬
lischen Volkes von den segensreichsten Folgen gewesen, denn nach dem Urteile
der Historiker bedeutet er die Vermischung zweier teutonischen Stämme, die in
ihrer Trennung jeder ein starkes Volk, aber in der Vereinigung unwiderstehlich
waren. Das konnten nun freilich die damaligen Angelsachsen nicht Wohl be¬
greifen, und deshalb haben sie sich mit aller der Tapferkeit und dem Unab-
hnngigkeitsgefühl, das der germanischen Rasse eigen ist, gegen den Einfall des
Eroberers gewehrt. Ans diesem Kampfe, so kurz er war, leuchtet König Haralds
Name durch die Jahrhunderte. Hastings und die Niederlage der Sachsen, uur
herbeigeführt, wie es scheint, durch den Tod ihres Königs, ist ein tragischer
Stoss, wie er sich erhabener so leicht dem Dichter nicht bietet. Wie hat Wilden-
bruch ihn seinen dichterischen Zwecken dienstbar gemacht?

Um dies endgiltig zu beantworten, wollen wir die eben berührten, von
Aristoteles aufgestellten Regeln, die er aus den Tragödien der großen attischen
Meister nbstrahirte, fiir einen Augenblick näher betrachten. Es sind die drei
Forderungen der Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung, mit andern
Worten die Forderung, daß eine Handlung erstens an einem und demselben
Orte, zweitens, daß sie sich in einer durch nichts unterbrochenen Zeit abspielen
und drittens, daß sie selbst auch einen einfachen, das heißt aus einem einzigen
Prinzip und durch dieses selbst sich entwickelnden Vorgang darstellen müsse,
Nun ist allgemein bekannt, daß Shakespeare sich um die beiden ersten Vor¬
schriften nicht im geringsten bekümmert hat, während selbst die ersten franzö¬
sischen Tragiker ihnen zuliebe und sie für die Hauptsache haltend häufig die
Handlung so malträtirt haben, daß sie, um der zweiten Forderung gerecht zu
werden, beispielsweise die unwahrscheinlichste Folge der Dinge in die Dauer
eines einzigen Tages zusammengepreßt haben. In diesem Widerstreite der Mei¬
nungen stellt sich Lessing in seiner „Hamburgischen Dramaturgie" auf die Seite
der Engländer. Es ist nicht nötig, des weiteren hier zu erörtern, wie er im
einzelnen und ganzen seine Polemik geführt hat. Nur soviel soll erwähnt
werden, daß er einleuchtend und unwiderleglich ausführt, daß die beiden ersten


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[0521] Die dramatische Kunst <L. von Wildenbruchs. sich nicht rütteln. Ihn haben die Alten, die, wie in allen Dingen, so auch hier unsre Lehrer waren, zuerst aufgestellt, und haben darnach Tragödien geschaffen, die noch jetzt mustergiltig sind. Befolgt haben ihn dann alle modernen Na¬ tionen, jedes Volk, wie es die spezieller von Aristoteles aufgestellten Gesetze verstanden hat. Sind somit auch wir gehalten, nach ihm den Wert der Wilden- bruchschcn Tragödien zu bemessen, so mag zunächst der „Harold" eiuer ein¬ gehenden Betrachtung unterzogen werden, und zwar deshalb, weil diese Tra¬ gödie einen der interessantesten und bedeutungsvollsten historischen Vorgänge der mittleren Zeit behandelt. Der Name Harold ruft uns den folgewichtigen Übergang der Beherrschung Englands ans den Händen des angelsächsischen Stammes in die des normün- nischen ins Gedächtnis. Dieser Herrschaftswechsel ist für die Geschichte des eng¬ lischen Volkes von den segensreichsten Folgen gewesen, denn nach dem Urteile der Historiker bedeutet er die Vermischung zweier teutonischen Stämme, die in ihrer Trennung jeder ein starkes Volk, aber in der Vereinigung unwiderstehlich waren. Das konnten nun freilich die damaligen Angelsachsen nicht Wohl be¬ greifen, und deshalb haben sie sich mit aller der Tapferkeit und dem Unab- hnngigkeitsgefühl, das der germanischen Rasse eigen ist, gegen den Einfall des Eroberers gewehrt. Ans diesem Kampfe, so kurz er war, leuchtet König Haralds Name durch die Jahrhunderte. Hastings und die Niederlage der Sachsen, uur herbeigeführt, wie es scheint, durch den Tod ihres Königs, ist ein tragischer Stoss, wie er sich erhabener so leicht dem Dichter nicht bietet. Wie hat Wilden- bruch ihn seinen dichterischen Zwecken dienstbar gemacht? Um dies endgiltig zu beantworten, wollen wir die eben berührten, von Aristoteles aufgestellten Regeln, die er aus den Tragödien der großen attischen Meister nbstrahirte, fiir einen Augenblick näher betrachten. Es sind die drei Forderungen der Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung, mit andern Worten die Forderung, daß eine Handlung erstens an einem und demselben Orte, zweitens, daß sie sich in einer durch nichts unterbrochenen Zeit abspielen und drittens, daß sie selbst auch einen einfachen, das heißt aus einem einzigen Prinzip und durch dieses selbst sich entwickelnden Vorgang darstellen müsse, Nun ist allgemein bekannt, daß Shakespeare sich um die beiden ersten Vor¬ schriften nicht im geringsten bekümmert hat, während selbst die ersten franzö¬ sischen Tragiker ihnen zuliebe und sie für die Hauptsache haltend häufig die Handlung so malträtirt haben, daß sie, um der zweiten Forderung gerecht zu werden, beispielsweise die unwahrscheinlichste Folge der Dinge in die Dauer eines einzigen Tages zusammengepreßt haben. In diesem Widerstreite der Mei¬ nungen stellt sich Lessing in seiner „Hamburgischen Dramaturgie" auf die Seite der Engländer. Es ist nicht nötig, des weiteren hier zu erörtern, wie er im einzelnen und ganzen seine Polemik geführt hat. Nur soviel soll erwähnt werden, daß er einleuchtend und unwiderleglich ausführt, daß die beiden ersten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/521>, abgerufen am 22.07.2024.