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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Die dramatische Kunst L> von Wildenbruchs,

einhcrstürmen, dann kann es einem selbst beim bloßen Anhören begegnen, daß
man voll innerer Erregung von seinem Stuhle auffährt und in atemloser
Spannung den Ausgang von den Lippen des Rezitators zu lesen sucht. Ist
aber eine solche Wirkung schon unter den denkbar einfachsten Umständen möglich,
wie vielmehr muß sie da auf der Bühne zutage treten, wo die Handlung unter
Mitwirkung der die Illusion erhöhenden Szenerie in voller Entfaltung ist. In
Wahrheit, in diesem Ineinandergreifen der einzelnen Momente der Handlung, in
ihrem rastlosen Vorwärtsdrängen, das mit oder ohne Willen den Hörer mit
fortreißt, liegt die Ursache zu dem außerordentlichen Erfolge, den die Wilden-
brnchschen Stücke gehabt haben.

So erweist sich denn auch nach dieser Seite die Bedeutung des Dichters.
Freilich erhebt sich nnn eine andre Frage. Der geschilderte Effekt beruht zu¬
nächst nur in der Erregung unsrer Sinne; es ist eine gewaltige Erschütterung
unsrer Nerven, die eine gewisse Zeit gebraucht, um sich zu beruhigen. Aber
entspricht dem auch der Affekt, durch welchen unser feineres seelisches Empfinden,
unser Verstand und vernünftiges Urteil berührt wurde? Wir befinden uns in
einem wahren Aufruhr der gröberen Organe unsers inneren Menschen, aber ist
es nur Zweck des Dramas, bloß diese zu reizen, hat es nicht auch deu, uus
zu belehren und zu bessern? Oder um die Sache von einem andern Stand¬
punkte aus zu betrachten: Die große Masse des Publikums ist über eine Bllhuen-
vorstellnug in voller Ekstase, laut erschallt das Lob des Dichters, der unüber¬
treffliches geleistet habe, Beweis sei die Wirkung, die in allen Kreisen erzielt
worden sei. Aber ist denn damit die Sache abgethan, oder haben wir nicht
erst auch den Kritiker zu hören, der die Wirkung eines dramatischen Vorganges
auf ihre Ursache zurückzuführen und darzuthun vermag, ob dieselbe bloß bei der
äußern Wahrnehmung stehengeblieben oder ob sie auch zur tiefern Erkenntnis
des Verstandes, zum sichern ästhetischen und moralischen Urteile durchgedrungen
ist? Erst wenn dies letztere, fern von aller sinnlichen Erregung und abgegeben
nach den unabänderlichen Gesetzen der Wahrheit und der Schönheit, mit dem
Urteile unsrer Nerven übereinstimmt, erst dann ist das darüber entscheidende Wort
gesprochen, ob ein Kunstwerk zu den Produkten einer niedern Gattung zu stellen
sei, oder ob es den höchsten Preis verdient, den menschliche Thaten erringen können.

Wenn es bloß darauf abgesehen sein könnte, eine Bewegung an der Ober¬
fläche unsers Seelenlebens hervorzurufen, dann müßten Trauerspiele wie Grill-
parzers "Ahnfrau" zu den besten unsrer Repertoirestücke gehören. Allein so
große Zugkraft dieses und ähnliche Schauspiele voraussichtlich noch lange des¬
halb üben werden, weil sie dazu berufen sind, die Kassen der Theater zu füllen,
so ist doch das Urteil über sie gesprochen. Ein Drama soll den höchsten An¬
forderungen entsprechen, die nicht nur im Hinblick auf ein äußeres Ergötzen,
sondern ganz besonders in Absicht auf die Belehrung unsers Geistes und die
Veredlung unsers Herzens gestellt werden können. An diesem Grundsatze läßt


Die dramatische Kunst L> von Wildenbruchs,

einhcrstürmen, dann kann es einem selbst beim bloßen Anhören begegnen, daß
man voll innerer Erregung von seinem Stuhle auffährt und in atemloser
Spannung den Ausgang von den Lippen des Rezitators zu lesen sucht. Ist
aber eine solche Wirkung schon unter den denkbar einfachsten Umständen möglich,
wie vielmehr muß sie da auf der Bühne zutage treten, wo die Handlung unter
Mitwirkung der die Illusion erhöhenden Szenerie in voller Entfaltung ist. In
Wahrheit, in diesem Ineinandergreifen der einzelnen Momente der Handlung, in
ihrem rastlosen Vorwärtsdrängen, das mit oder ohne Willen den Hörer mit
fortreißt, liegt die Ursache zu dem außerordentlichen Erfolge, den die Wilden-
brnchschen Stücke gehabt haben.

So erweist sich denn auch nach dieser Seite die Bedeutung des Dichters.
Freilich erhebt sich nnn eine andre Frage. Der geschilderte Effekt beruht zu¬
nächst nur in der Erregung unsrer Sinne; es ist eine gewaltige Erschütterung
unsrer Nerven, die eine gewisse Zeit gebraucht, um sich zu beruhigen. Aber
entspricht dem auch der Affekt, durch welchen unser feineres seelisches Empfinden,
unser Verstand und vernünftiges Urteil berührt wurde? Wir befinden uns in
einem wahren Aufruhr der gröberen Organe unsers inneren Menschen, aber ist
es nur Zweck des Dramas, bloß diese zu reizen, hat es nicht auch deu, uus
zu belehren und zu bessern? Oder um die Sache von einem andern Stand¬
punkte aus zu betrachten: Die große Masse des Publikums ist über eine Bllhuen-
vorstellnug in voller Ekstase, laut erschallt das Lob des Dichters, der unüber¬
treffliches geleistet habe, Beweis sei die Wirkung, die in allen Kreisen erzielt
worden sei. Aber ist denn damit die Sache abgethan, oder haben wir nicht
erst auch den Kritiker zu hören, der die Wirkung eines dramatischen Vorganges
auf ihre Ursache zurückzuführen und darzuthun vermag, ob dieselbe bloß bei der
äußern Wahrnehmung stehengeblieben oder ob sie auch zur tiefern Erkenntnis
des Verstandes, zum sichern ästhetischen und moralischen Urteile durchgedrungen
ist? Erst wenn dies letztere, fern von aller sinnlichen Erregung und abgegeben
nach den unabänderlichen Gesetzen der Wahrheit und der Schönheit, mit dem
Urteile unsrer Nerven übereinstimmt, erst dann ist das darüber entscheidende Wort
gesprochen, ob ein Kunstwerk zu den Produkten einer niedern Gattung zu stellen
sei, oder ob es den höchsten Preis verdient, den menschliche Thaten erringen können.

Wenn es bloß darauf abgesehen sein könnte, eine Bewegung an der Ober¬
fläche unsers Seelenlebens hervorzurufen, dann müßten Trauerspiele wie Grill-
parzers „Ahnfrau" zu den besten unsrer Repertoirestücke gehören. Allein so
große Zugkraft dieses und ähnliche Schauspiele voraussichtlich noch lange des¬
halb üben werden, weil sie dazu berufen sind, die Kassen der Theater zu füllen,
so ist doch das Urteil über sie gesprochen. Ein Drama soll den höchsten An¬
forderungen entsprechen, die nicht nur im Hinblick auf ein äußeres Ergötzen,
sondern ganz besonders in Absicht auf die Belehrung unsers Geistes und die
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/520>, abgerufen am 22.07.2024.