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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Die dramatische Runst L. von Wildeiibruchs.

andern Erdgebornen entlehnt habe, der titanenhaft die Welt durchstürmte und
mit seinen Werken Unsterblichkeit gewann. Nicht als ob ihm ein Vorwurf
daraus gemacht werden sollte, daß er nicht mit der ursprünglichen Kraft des
höchsten Genies zu schaffen vermag. Lessing, obgleich er nach seinem eignen
Geständnis in der "Hambiugischen Dramaturgie" nicht jene poetische Gestal¬
tungskraft in sich fühlte, die unbewußt und doch im Einklang mit den Gesetzen
der Kunst ihre Werke aus sich herausstellt, hat doch Dramen geschrieben, die,
wenn nicht der Dichter selbst es sagte, niemals verraten würden, daß sie auf
dem Umwege durch die Kritik entstanden und nicht unmittelbar dem lebendigen
Quell dichterischen Schaffens entflossen sind. Was, wenn der unvermittelte
göttliche Anhauch nicht vorhanden ist, durch Pumpen und Röhrwerk geschaffen
werden kann, das beweisen Schauspiele wie "Nathan der Weise," "Emilia Ga-
lotti," "Minna von Barnhelm" noch alle Tage, und selbst wenn es nicht mög¬
lich ist, einen Lessing zu erreichen, so müßte man doch mit Dankbarkeit die
Thätigkeit begrüßen, welche, dem innern Drange folgend, den Schatz unsrer na¬
tionalen Literatur bereichert und in anerkennenswerten Leistungen verhindert,
daß die Flamme, welche auf dem Altare Apollos brennt, verlösche.

Noch leben wir in der Zeit der Epigonen, und das ist gut so. Am Ende
des vorigen und im Beginne des laufenden Jahrhunderts, als das Elend na¬
tionaler Zersplitterung am größten war, flüchtete sich der Genius des deutschen
Volkes in die ruhige Zurückgezogenheit des abstrakten Denkens und der Poesie.
Jetzt ist ein Rückschlag eingetreten: augenblicklich beweist er seine ganze uner¬
meßliche Kraft in den glorreichen Thaten einer nicht dagewesenen Staatskunst.
Wir haben alle Ursache, uns darüber zu freuen. Richten wir zuerst unser Haus
ein, es sei sicher und fest nach außen, wohnlich im Innern. Ist dies aber ge¬
schehen und haben sich die Lebcnstriebe, die früher einer den andern überwogen,
ins Gleichgewicht gesetzt, dann wird neben allseitiger praktischer Thätigkeit auch
ein idealer Aufschwung sich geltend machen. Aus den Tiefen der Volkskraft
wird das Genie erstehen, das mit Beachtung der alten Gesetze neue Formen
schaffen, dem Drängen der Geister neue Bahnen eröffnen wird. Bis dahin
aber wollen wir uns an jeder Flamme erwärmen, die auf dem heiligen Herde
nationaler Dichtkunst entzündet wird, jeder Dichter sei freudig begrüßt, der die
Zahl und das Drängen auf dem deutschen Paruasse vermehrt. Mögen alle mit
Eifer bemüht sein, die hohen Gedanken einer eben vvrübergerauschten großen
Literaturepoche in immer weitere Kreise des Volkes zu tragen, und dadurch
Bildung und Kraft desselben zu steigern. In diesem Sinne bewillkommnen
wir auch die Werte Wildeiibruchs.

Wir haben es hier nur mit seinen Dramen und zwar den Erstlingen seiner
Muse zu thun. Fassen wir bloß diese ins Auge, so dürfen wir seinen Namen
unbedenklich neben die ersten der Gegenwart stellen. Wir wollen nicht mit ihm
darüber rechten, daß er sich einen andern Prometheus nennt: jeder, der es


Die dramatische Runst L. von Wildeiibruchs.

andern Erdgebornen entlehnt habe, der titanenhaft die Welt durchstürmte und
mit seinen Werken Unsterblichkeit gewann. Nicht als ob ihm ein Vorwurf
daraus gemacht werden sollte, daß er nicht mit der ursprünglichen Kraft des
höchsten Genies zu schaffen vermag. Lessing, obgleich er nach seinem eignen
Geständnis in der „Hambiugischen Dramaturgie" nicht jene poetische Gestal¬
tungskraft in sich fühlte, die unbewußt und doch im Einklang mit den Gesetzen
der Kunst ihre Werke aus sich herausstellt, hat doch Dramen geschrieben, die,
wenn nicht der Dichter selbst es sagte, niemals verraten würden, daß sie auf
dem Umwege durch die Kritik entstanden und nicht unmittelbar dem lebendigen
Quell dichterischen Schaffens entflossen sind. Was, wenn der unvermittelte
göttliche Anhauch nicht vorhanden ist, durch Pumpen und Röhrwerk geschaffen
werden kann, das beweisen Schauspiele wie „Nathan der Weise," „Emilia Ga-
lotti," „Minna von Barnhelm" noch alle Tage, und selbst wenn es nicht mög¬
lich ist, einen Lessing zu erreichen, so müßte man doch mit Dankbarkeit die
Thätigkeit begrüßen, welche, dem innern Drange folgend, den Schatz unsrer na¬
tionalen Literatur bereichert und in anerkennenswerten Leistungen verhindert,
daß die Flamme, welche auf dem Altare Apollos brennt, verlösche.

Noch leben wir in der Zeit der Epigonen, und das ist gut so. Am Ende
des vorigen und im Beginne des laufenden Jahrhunderts, als das Elend na¬
tionaler Zersplitterung am größten war, flüchtete sich der Genius des deutschen
Volkes in die ruhige Zurückgezogenheit des abstrakten Denkens und der Poesie.
Jetzt ist ein Rückschlag eingetreten: augenblicklich beweist er seine ganze uner¬
meßliche Kraft in den glorreichen Thaten einer nicht dagewesenen Staatskunst.
Wir haben alle Ursache, uns darüber zu freuen. Richten wir zuerst unser Haus
ein, es sei sicher und fest nach außen, wohnlich im Innern. Ist dies aber ge¬
schehen und haben sich die Lebcnstriebe, die früher einer den andern überwogen,
ins Gleichgewicht gesetzt, dann wird neben allseitiger praktischer Thätigkeit auch
ein idealer Aufschwung sich geltend machen. Aus den Tiefen der Volkskraft
wird das Genie erstehen, das mit Beachtung der alten Gesetze neue Formen
schaffen, dem Drängen der Geister neue Bahnen eröffnen wird. Bis dahin
aber wollen wir uns an jeder Flamme erwärmen, die auf dem heiligen Herde
nationaler Dichtkunst entzündet wird, jeder Dichter sei freudig begrüßt, der die
Zahl und das Drängen auf dem deutschen Paruasse vermehrt. Mögen alle mit
Eifer bemüht sein, die hohen Gedanken einer eben vvrübergerauschten großen
Literaturepoche in immer weitere Kreise des Volkes zu tragen, und dadurch
Bildung und Kraft desselben zu steigern. In diesem Sinne bewillkommnen
wir auch die Werte Wildeiibruchs.

Wir haben es hier nur mit seinen Dramen und zwar den Erstlingen seiner
Muse zu thun. Fassen wir bloß diese ins Auge, so dürfen wir seinen Namen
unbedenklich neben die ersten der Gegenwart stellen. Wir wollen nicht mit ihm
darüber rechten, daß er sich einen andern Prometheus nennt: jeder, der es


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[0516] Die dramatische Runst L. von Wildeiibruchs. andern Erdgebornen entlehnt habe, der titanenhaft die Welt durchstürmte und mit seinen Werken Unsterblichkeit gewann. Nicht als ob ihm ein Vorwurf daraus gemacht werden sollte, daß er nicht mit der ursprünglichen Kraft des höchsten Genies zu schaffen vermag. Lessing, obgleich er nach seinem eignen Geständnis in der „Hambiugischen Dramaturgie" nicht jene poetische Gestal¬ tungskraft in sich fühlte, die unbewußt und doch im Einklang mit den Gesetzen der Kunst ihre Werke aus sich herausstellt, hat doch Dramen geschrieben, die, wenn nicht der Dichter selbst es sagte, niemals verraten würden, daß sie auf dem Umwege durch die Kritik entstanden und nicht unmittelbar dem lebendigen Quell dichterischen Schaffens entflossen sind. Was, wenn der unvermittelte göttliche Anhauch nicht vorhanden ist, durch Pumpen und Röhrwerk geschaffen werden kann, das beweisen Schauspiele wie „Nathan der Weise," „Emilia Ga- lotti," „Minna von Barnhelm" noch alle Tage, und selbst wenn es nicht mög¬ lich ist, einen Lessing zu erreichen, so müßte man doch mit Dankbarkeit die Thätigkeit begrüßen, welche, dem innern Drange folgend, den Schatz unsrer na¬ tionalen Literatur bereichert und in anerkennenswerten Leistungen verhindert, daß die Flamme, welche auf dem Altare Apollos brennt, verlösche. Noch leben wir in der Zeit der Epigonen, und das ist gut so. Am Ende des vorigen und im Beginne des laufenden Jahrhunderts, als das Elend na¬ tionaler Zersplitterung am größten war, flüchtete sich der Genius des deutschen Volkes in die ruhige Zurückgezogenheit des abstrakten Denkens und der Poesie. Jetzt ist ein Rückschlag eingetreten: augenblicklich beweist er seine ganze uner¬ meßliche Kraft in den glorreichen Thaten einer nicht dagewesenen Staatskunst. Wir haben alle Ursache, uns darüber zu freuen. Richten wir zuerst unser Haus ein, es sei sicher und fest nach außen, wohnlich im Innern. Ist dies aber ge¬ schehen und haben sich die Lebcnstriebe, die früher einer den andern überwogen, ins Gleichgewicht gesetzt, dann wird neben allseitiger praktischer Thätigkeit auch ein idealer Aufschwung sich geltend machen. Aus den Tiefen der Volkskraft wird das Genie erstehen, das mit Beachtung der alten Gesetze neue Formen schaffen, dem Drängen der Geister neue Bahnen eröffnen wird. Bis dahin aber wollen wir uns an jeder Flamme erwärmen, die auf dem heiligen Herde nationaler Dichtkunst entzündet wird, jeder Dichter sei freudig begrüßt, der die Zahl und das Drängen auf dem deutschen Paruasse vermehrt. Mögen alle mit Eifer bemüht sein, die hohen Gedanken einer eben vvrübergerauschten großen Literaturepoche in immer weitere Kreise des Volkes zu tragen, und dadurch Bildung und Kraft desselben zu steigern. In diesem Sinne bewillkommnen wir auch die Werte Wildeiibruchs. Wir haben es hier nur mit seinen Dramen und zwar den Erstlingen seiner Muse zu thun. Fassen wir bloß diese ins Auge, so dürfen wir seinen Namen unbedenklich neben die ersten der Gegenwart stellen. Wir wollen nicht mit ihm darüber rechten, daß er sich einen andern Prometheus nennt: jeder, der es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/516>, abgerufen am 22.07.2024.