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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

Wohlwollen befand, in dem jede Spur von Egoismus längst durch die Flamme
poetischer Begeisterung, durch den Glauben an die Ideale getilgt war."

Für Flaubert hatte Turgenjew literarische Hochachtung und persönliche
Zuneigung. Über Victor Hugo findet sich eine bezeichnende Äußerung: sie
bezieht sich auf des letztern I^g'vuclös clef siöolös, über die Turgenjew sich in
folgenden Worten ausspricht: "Eine Unmasse von Ballast und Bombast; keine
einzige Nummer, welche die Probe besteht. Prächtige Verse dagegen finden sich
zu Dutzenden. Die Pariser Kritik wälzt sich vor dem Sänger im Staube -- Lob
und Weihrauch ohne Ende. Und in der That, wenn man bedenkt, daß ein
fünfnndsiebzigjähriger Greis das geschrieben hat, so muß mau staunen. Außerhalb
Frankreichs jedoch wird das Buch kaum irgendwelchen Eindruck machen." Aus
einem Briefe Turgenjews an Alphonse Daudet entnehmen wir folgendes
interessante Urteil über zwei Erzählungen des französischen Romanciers: "I^e
Ug,l)ki.1z ist der hervorragendste und zugleich der ungleichartigste aller Ihrer
Romane. Während "Fromont K Rister" eine gerade Linie darstellt, ist das
Bild des "Nabab" eine Wellenlinie, deren Erhebungen nur ein Talent ersten
Ranges erreichen konnte." Öfters spielte Turgenjew den Vermittler zwischen der
russischen Presse und Zola, der bei dem an kräftige Kost gewöhnten russischen
Publikum sehr beliebt ist. Doch dufteten ihm selber sowohl Zolas wie Goncourts
Romane zu sehr nach Mache, oder, wie er sich ausdrückt, nach "Literatur."

Überaus bemerkenswert sind zahlreiche Urteile, die Turgenjew in den Briefen
über Rußland und russische Verhältnisse abgiebt. Gegen die Slawophilen und
ihre Lehren empfand er eine ausgesprochene Abneigung. Die literarische Be¬
deutung ihrer Schule schlug er sehr gering an: "In der Politik, sagt er, mögen
diese Herren Adler sein; in der Ästhetik und Kritik sind sie Schwachköpfe ersten
Grades." Von hohem Interesse sind einige Briefe, die Turgenjew im Jahre
1874 an eine Frau F. schrieb. Diese Dame sandte dem Dichter ein Portefeuille
mit allerhand Schriftstücken -- Tagebüchern und Manuskripten mannichfacher
Art --, aus denen Turgenjew, der bereits seit einem Jahrzehnt Rußland aus
den Augen verloren hätte, die "neue Generation" kennen lernen sollte. Es
waren meist Expektorationen junger Revolutionäre, denen Frau F. die größte
Bewunderung zollte. Turgenjew macht in seinen Antworten folgende für das
Verständnis der russischen Entwicklung höchst wichtige Ausführungen: "Sie haben
mit Basarow angefangen, auch ich will mit ihm beginnen. Sie suchen diesen
Typus im wirklichen Leben, da werden sie ihn nicht finden. Ich will Ihnen
sogleich sagen, warum. Die Zeiten haben sich geändert, man braucht jetzt keine
Basarows. Für ihre gegenwärtigen Bedürfnisse hat die Gesellschaft keine
besondern Talente nötig, nicht einmal hervorragende Köpfe -- nichts Großes,
Hervorragendes, allzu Individuelles. Arbeitslust und Geduld, das ists, was
unsre Epoche nötig hat. Sie muß es verstehen, ohne Sang und Klang Opfer
zu bringen, muß ihren Ekel vor der langweiligen, öden Alltagsarbeit überwinden,


Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

Wohlwollen befand, in dem jede Spur von Egoismus längst durch die Flamme
poetischer Begeisterung, durch den Glauben an die Ideale getilgt war."

Für Flaubert hatte Turgenjew literarische Hochachtung und persönliche
Zuneigung. Über Victor Hugo findet sich eine bezeichnende Äußerung: sie
bezieht sich auf des letztern I^g'vuclös clef siöolös, über die Turgenjew sich in
folgenden Worten ausspricht: „Eine Unmasse von Ballast und Bombast; keine
einzige Nummer, welche die Probe besteht. Prächtige Verse dagegen finden sich
zu Dutzenden. Die Pariser Kritik wälzt sich vor dem Sänger im Staube — Lob
und Weihrauch ohne Ende. Und in der That, wenn man bedenkt, daß ein
fünfnndsiebzigjähriger Greis das geschrieben hat, so muß mau staunen. Außerhalb
Frankreichs jedoch wird das Buch kaum irgendwelchen Eindruck machen." Aus
einem Briefe Turgenjews an Alphonse Daudet entnehmen wir folgendes
interessante Urteil über zwei Erzählungen des französischen Romanciers: „I^e
Ug,l)ki.1z ist der hervorragendste und zugleich der ungleichartigste aller Ihrer
Romane. Während »Fromont K Rister« eine gerade Linie darstellt, ist das
Bild des »Nabab« eine Wellenlinie, deren Erhebungen nur ein Talent ersten
Ranges erreichen konnte." Öfters spielte Turgenjew den Vermittler zwischen der
russischen Presse und Zola, der bei dem an kräftige Kost gewöhnten russischen
Publikum sehr beliebt ist. Doch dufteten ihm selber sowohl Zolas wie Goncourts
Romane zu sehr nach Mache, oder, wie er sich ausdrückt, nach „Literatur."

Überaus bemerkenswert sind zahlreiche Urteile, die Turgenjew in den Briefen
über Rußland und russische Verhältnisse abgiebt. Gegen die Slawophilen und
ihre Lehren empfand er eine ausgesprochene Abneigung. Die literarische Be¬
deutung ihrer Schule schlug er sehr gering an: „In der Politik, sagt er, mögen
diese Herren Adler sein; in der Ästhetik und Kritik sind sie Schwachköpfe ersten
Grades." Von hohem Interesse sind einige Briefe, die Turgenjew im Jahre
1874 an eine Frau F. schrieb. Diese Dame sandte dem Dichter ein Portefeuille
mit allerhand Schriftstücken — Tagebüchern und Manuskripten mannichfacher
Art —, aus denen Turgenjew, der bereits seit einem Jahrzehnt Rußland aus
den Augen verloren hätte, die „neue Generation" kennen lernen sollte. Es
waren meist Expektorationen junger Revolutionäre, denen Frau F. die größte
Bewunderung zollte. Turgenjew macht in seinen Antworten folgende für das
Verständnis der russischen Entwicklung höchst wichtige Ausführungen: „Sie haben
mit Basarow angefangen, auch ich will mit ihm beginnen. Sie suchen diesen
Typus im wirklichen Leben, da werden sie ihn nicht finden. Ich will Ihnen
sogleich sagen, warum. Die Zeiten haben sich geändert, man braucht jetzt keine
Basarows. Für ihre gegenwärtigen Bedürfnisse hat die Gesellschaft keine
besondern Talente nötig, nicht einmal hervorragende Köpfe — nichts Großes,
Hervorragendes, allzu Individuelles. Arbeitslust und Geduld, das ists, was
unsre Epoche nötig hat. Sie muß es verstehen, ohne Sang und Klang Opfer
zu bringen, muß ihren Ekel vor der langweiligen, öden Alltagsarbeit überwinden,


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[0471] Iwan Turgenjew in seinen Briefen. Wohlwollen befand, in dem jede Spur von Egoismus längst durch die Flamme poetischer Begeisterung, durch den Glauben an die Ideale getilgt war." Für Flaubert hatte Turgenjew literarische Hochachtung und persönliche Zuneigung. Über Victor Hugo findet sich eine bezeichnende Äußerung: sie bezieht sich auf des letztern I^g'vuclös clef siöolös, über die Turgenjew sich in folgenden Worten ausspricht: „Eine Unmasse von Ballast und Bombast; keine einzige Nummer, welche die Probe besteht. Prächtige Verse dagegen finden sich zu Dutzenden. Die Pariser Kritik wälzt sich vor dem Sänger im Staube — Lob und Weihrauch ohne Ende. Und in der That, wenn man bedenkt, daß ein fünfnndsiebzigjähriger Greis das geschrieben hat, so muß mau staunen. Außerhalb Frankreichs jedoch wird das Buch kaum irgendwelchen Eindruck machen." Aus einem Briefe Turgenjews an Alphonse Daudet entnehmen wir folgendes interessante Urteil über zwei Erzählungen des französischen Romanciers: „I^e Ug,l)ki.1z ist der hervorragendste und zugleich der ungleichartigste aller Ihrer Romane. Während »Fromont K Rister« eine gerade Linie darstellt, ist das Bild des »Nabab« eine Wellenlinie, deren Erhebungen nur ein Talent ersten Ranges erreichen konnte." Öfters spielte Turgenjew den Vermittler zwischen der russischen Presse und Zola, der bei dem an kräftige Kost gewöhnten russischen Publikum sehr beliebt ist. Doch dufteten ihm selber sowohl Zolas wie Goncourts Romane zu sehr nach Mache, oder, wie er sich ausdrückt, nach „Literatur." Überaus bemerkenswert sind zahlreiche Urteile, die Turgenjew in den Briefen über Rußland und russische Verhältnisse abgiebt. Gegen die Slawophilen und ihre Lehren empfand er eine ausgesprochene Abneigung. Die literarische Be¬ deutung ihrer Schule schlug er sehr gering an: „In der Politik, sagt er, mögen diese Herren Adler sein; in der Ästhetik und Kritik sind sie Schwachköpfe ersten Grades." Von hohem Interesse sind einige Briefe, die Turgenjew im Jahre 1874 an eine Frau F. schrieb. Diese Dame sandte dem Dichter ein Portefeuille mit allerhand Schriftstücken — Tagebüchern und Manuskripten mannichfacher Art —, aus denen Turgenjew, der bereits seit einem Jahrzehnt Rußland aus den Augen verloren hätte, die „neue Generation" kennen lernen sollte. Es waren meist Expektorationen junger Revolutionäre, denen Frau F. die größte Bewunderung zollte. Turgenjew macht in seinen Antworten folgende für das Verständnis der russischen Entwicklung höchst wichtige Ausführungen: „Sie haben mit Basarow angefangen, auch ich will mit ihm beginnen. Sie suchen diesen Typus im wirklichen Leben, da werden sie ihn nicht finden. Ich will Ihnen sogleich sagen, warum. Die Zeiten haben sich geändert, man braucht jetzt keine Basarows. Für ihre gegenwärtigen Bedürfnisse hat die Gesellschaft keine besondern Talente nötig, nicht einmal hervorragende Köpfe — nichts Großes, Hervorragendes, allzu Individuelles. Arbeitslust und Geduld, das ists, was unsre Epoche nötig hat. Sie muß es verstehen, ohne Sang und Klang Opfer zu bringen, muß ihren Ekel vor der langweiligen, öden Alltagsarbeit überwinden,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/471>, abgerufen am 22.07.2024.