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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Die Entwürfe für das Reichsgerichtsgebände in Leipzig.

Wenn man von uns verlangte, diejenigen Charakterzüge, welche notwendig
sind, um den Gedanken des Reichsgerichts zu einer sinnlichen Erscheinung zu
bringen, durch das Wort oder eine graphische Darstellung zu formuliren, so
würden wir in Verlegenheit geraten. Wie der Gedanke einer parlamentarisch¬
konstitutionellen Gesetzgebung und Regierung, welche ihren Sitz in einem Reichs¬
tagspalast haben, ist auch der Gedanke einer auf ein größeres Ländergebiet sich
erstreckende Rechtseinheit ein durchaus moderner. Es fehlt den Baukünstlern
unsrer Tage an Analogien aus den vergangenen Kunstepochen, aus denen
sich ein den Bedürfnissen unsrer Zeit entsprechender Baugedanke sür den
obersten Gerichtshof eines großen Reiches oder auch nur für einen Justiz¬
palast im engern Sinne folgerichtig entwickeln ließe. Man vergegenwärtige
sich nur die lokalen Verhältnisse, unter welchen die Rechtspflege im Mittel¬
alter und zur Renaissancezeit geübt wurde. In Italien waren es offene
Hallen, in denen man zu Gericht saß, in Deutschland sogenannte Lauben oder
die großen Säle der Rathäuser. Man erinnere sich nur, daß die Gerichts¬
barkeit bis ins siebzehnte Jahrhundert hinein ein Privileg aller reichsun-
mittelbaren, überhaupt aller größer" Städte war. Die Rechtsprechung erfolgte
im großen Saale des Rats, und deshalb finden wir, daß für den malerischen
und plastischen Schmuck dieser Säle mit Vorliebe die Gestalten der Gerechtig¬
keit, Stärke und Wahrheit, ihre Embleme und historische Beispiele hervor¬
ragender Weisheit in Urteilssprüchen oder unerbittlicher Strenge, wie das Ur¬
teil des Salomon, die That des seine Söhne dem Henkerbeil überliefernden
Brutus und die Gerechtigkeit Trajans gewählt wurden- Rats- und Gerichts¬
häuser waren also identisch, bis die Rechtspflege in die Hände der Staats¬
regierungen überging und Gebäude für die Justizverwaltung in Anspruch ge¬
nommen wurden, die gerade zur Verfügung standen. So ist z.B. das Pariser
lÄais av Meles ein Konglomerat aus Gebäuden verschiedener Epochen und
verschiedener Bestimmung, welchem selbst die abschließende Thätigkeit eines Duc
keinen einheitlichen oder auch nur seinen Zweck bezeichnenden Charakter auf¬
geprägt hat. Auch das Reichskammergericht in Wetzlar, die einzige Institution
der Vergangenheit, welche unserm jetzigen Reichsgericht ungefähr entspricht, kann
nicht als Analogie in Betracht kommen, weil das Gebäude, in welchem es eine
Unterkunft fand, nur ein gewöhnlicher Nutzbau ohne ideelle Bedeutung war.

Diejenigen Bewerber also, welche ihren Entwürfen den Charakter von
Rathäusern im Stile der Gothik und der deutschen Renaissance ausprägten,
haben zum wenigsten die historische Überlieferung für sich, wenn man ihnen
auch entgegnen muß, daß die kulturgeschichtliche Entwicklungsstufe, auf welcher
wir uns gegenwärtig befinden, ein Zurückgreifen auf das Mittelalter und die
Renaissance verbietet, da sich der Organismus der Justizverwaltung völlig ver¬
ändert und unverhältnismäßig erweitert hat. Auf der andern Seite haben
freilich diejenigen Konkurrenten, welche sich an die allgemeinen Formen des


Grenzboten II. 188S. 6
Die Entwürfe für das Reichsgerichtsgebände in Leipzig.

Wenn man von uns verlangte, diejenigen Charakterzüge, welche notwendig
sind, um den Gedanken des Reichsgerichts zu einer sinnlichen Erscheinung zu
bringen, durch das Wort oder eine graphische Darstellung zu formuliren, so
würden wir in Verlegenheit geraten. Wie der Gedanke einer parlamentarisch¬
konstitutionellen Gesetzgebung und Regierung, welche ihren Sitz in einem Reichs¬
tagspalast haben, ist auch der Gedanke einer auf ein größeres Ländergebiet sich
erstreckende Rechtseinheit ein durchaus moderner. Es fehlt den Baukünstlern
unsrer Tage an Analogien aus den vergangenen Kunstepochen, aus denen
sich ein den Bedürfnissen unsrer Zeit entsprechender Baugedanke sür den
obersten Gerichtshof eines großen Reiches oder auch nur für einen Justiz¬
palast im engern Sinne folgerichtig entwickeln ließe. Man vergegenwärtige
sich nur die lokalen Verhältnisse, unter welchen die Rechtspflege im Mittel¬
alter und zur Renaissancezeit geübt wurde. In Italien waren es offene
Hallen, in denen man zu Gericht saß, in Deutschland sogenannte Lauben oder
die großen Säle der Rathäuser. Man erinnere sich nur, daß die Gerichts¬
barkeit bis ins siebzehnte Jahrhundert hinein ein Privileg aller reichsun-
mittelbaren, überhaupt aller größer» Städte war. Die Rechtsprechung erfolgte
im großen Saale des Rats, und deshalb finden wir, daß für den malerischen
und plastischen Schmuck dieser Säle mit Vorliebe die Gestalten der Gerechtig¬
keit, Stärke und Wahrheit, ihre Embleme und historische Beispiele hervor¬
ragender Weisheit in Urteilssprüchen oder unerbittlicher Strenge, wie das Ur¬
teil des Salomon, die That des seine Söhne dem Henkerbeil überliefernden
Brutus und die Gerechtigkeit Trajans gewählt wurden- Rats- und Gerichts¬
häuser waren also identisch, bis die Rechtspflege in die Hände der Staats¬
regierungen überging und Gebäude für die Justizverwaltung in Anspruch ge¬
nommen wurden, die gerade zur Verfügung standen. So ist z.B. das Pariser
lÄais av Meles ein Konglomerat aus Gebäuden verschiedener Epochen und
verschiedener Bestimmung, welchem selbst die abschließende Thätigkeit eines Duc
keinen einheitlichen oder auch nur seinen Zweck bezeichnenden Charakter auf¬
geprägt hat. Auch das Reichskammergericht in Wetzlar, die einzige Institution
der Vergangenheit, welche unserm jetzigen Reichsgericht ungefähr entspricht, kann
nicht als Analogie in Betracht kommen, weil das Gebäude, in welchem es eine
Unterkunft fand, nur ein gewöhnlicher Nutzbau ohne ideelle Bedeutung war.

Diejenigen Bewerber also, welche ihren Entwürfen den Charakter von
Rathäusern im Stile der Gothik und der deutschen Renaissance ausprägten,
haben zum wenigsten die historische Überlieferung für sich, wenn man ihnen
auch entgegnen muß, daß die kulturgeschichtliche Entwicklungsstufe, auf welcher
wir uns gegenwärtig befinden, ein Zurückgreifen auf das Mittelalter und die
Renaissance verbietet, da sich der Organismus der Justizverwaltung völlig ver¬
ändert und unverhältnismäßig erweitert hat. Auf der andern Seite haben
freilich diejenigen Konkurrenten, welche sich an die allgemeinen Formen des


Grenzboten II. 188S. 6
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[0046] Die Entwürfe für das Reichsgerichtsgebände in Leipzig. Wenn man von uns verlangte, diejenigen Charakterzüge, welche notwendig sind, um den Gedanken des Reichsgerichts zu einer sinnlichen Erscheinung zu bringen, durch das Wort oder eine graphische Darstellung zu formuliren, so würden wir in Verlegenheit geraten. Wie der Gedanke einer parlamentarisch¬ konstitutionellen Gesetzgebung und Regierung, welche ihren Sitz in einem Reichs¬ tagspalast haben, ist auch der Gedanke einer auf ein größeres Ländergebiet sich erstreckende Rechtseinheit ein durchaus moderner. Es fehlt den Baukünstlern unsrer Tage an Analogien aus den vergangenen Kunstepochen, aus denen sich ein den Bedürfnissen unsrer Zeit entsprechender Baugedanke sür den obersten Gerichtshof eines großen Reiches oder auch nur für einen Justiz¬ palast im engern Sinne folgerichtig entwickeln ließe. Man vergegenwärtige sich nur die lokalen Verhältnisse, unter welchen die Rechtspflege im Mittel¬ alter und zur Renaissancezeit geübt wurde. In Italien waren es offene Hallen, in denen man zu Gericht saß, in Deutschland sogenannte Lauben oder die großen Säle der Rathäuser. Man erinnere sich nur, daß die Gerichts¬ barkeit bis ins siebzehnte Jahrhundert hinein ein Privileg aller reichsun- mittelbaren, überhaupt aller größer» Städte war. Die Rechtsprechung erfolgte im großen Saale des Rats, und deshalb finden wir, daß für den malerischen und plastischen Schmuck dieser Säle mit Vorliebe die Gestalten der Gerechtig¬ keit, Stärke und Wahrheit, ihre Embleme und historische Beispiele hervor¬ ragender Weisheit in Urteilssprüchen oder unerbittlicher Strenge, wie das Ur¬ teil des Salomon, die That des seine Söhne dem Henkerbeil überliefernden Brutus und die Gerechtigkeit Trajans gewählt wurden- Rats- und Gerichts¬ häuser waren also identisch, bis die Rechtspflege in die Hände der Staats¬ regierungen überging und Gebäude für die Justizverwaltung in Anspruch ge¬ nommen wurden, die gerade zur Verfügung standen. So ist z.B. das Pariser lÄais av Meles ein Konglomerat aus Gebäuden verschiedener Epochen und verschiedener Bestimmung, welchem selbst die abschließende Thätigkeit eines Duc keinen einheitlichen oder auch nur seinen Zweck bezeichnenden Charakter auf¬ geprägt hat. Auch das Reichskammergericht in Wetzlar, die einzige Institution der Vergangenheit, welche unserm jetzigen Reichsgericht ungefähr entspricht, kann nicht als Analogie in Betracht kommen, weil das Gebäude, in welchem es eine Unterkunft fand, nur ein gewöhnlicher Nutzbau ohne ideelle Bedeutung war. Diejenigen Bewerber also, welche ihren Entwürfen den Charakter von Rathäusern im Stile der Gothik und der deutschen Renaissance ausprägten, haben zum wenigsten die historische Überlieferung für sich, wenn man ihnen auch entgegnen muß, daß die kulturgeschichtliche Entwicklungsstufe, auf welcher wir uns gegenwärtig befinden, ein Zurückgreifen auf das Mittelalter und die Renaissance verbietet, da sich der Organismus der Justizverwaltung völlig ver¬ ändert und unverhältnismäßig erweitert hat. Auf der andern Seite haben freilich diejenigen Konkurrenten, welche sich an die allgemeinen Formen des Grenzboten II. 188S. 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/46>, abgerufen am 22.07.2024.