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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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waren ja Menschen, denen man garnicht einmal die Ehre anthat, in ihnen
Gegner der nationalen und staatlichen Zukunft Deutschlands zu erblicken, son¬
dern das waren bloße bedeutungslose Schemen, die von dem "Wehen des Zeit¬
geistes" ganz ohne weiteres, ohne jeden ernsthaften Widerstand hinweggefegt
werden mußten, und von dem Reste spezifisch altpreußischer oder gar "altfritzischer"
Traditionen galt das nämliche. Man begnügte sich garnicht, in allem, was
nicht liberal war, eine Gegnerschaft gegen alle nationalen und sonstwie zeitgemäßen
Bestrebungen zu erblicken, sondern man wußte gar keinen berechtigten oder
irgendwie zu respcktirenden Kern darin zu erblicken, und setzte "nichtliberal"
ohne das mindeste Besinnen als gleichbedeutend mit kulturfeindlich.

Wer die Gewalt messen will, mit welcher diese liberale Strömung sich
ausgebreitet und allenthalben ihr Sicgcspcinier aufgepflanzt hatte, der fasse uur
zwei, heute noch in voller Blüte stehende Erscheinungen ins Auge. Wir sprechen,
und zwar mit gutem Rechte, viel von einer allgemeinen Handwerkerbewegung,
und von der elementaren Kraft, mit welcher dieselbe ganz selbstthätig fort¬
schreitet und immer weitere Kreise des Handwerkerstandes zu sich hinüberzieht.
Die Sache ist, wie gesagt, richtig, und auch der einfachste Handwerker kann sich
unmöglich darüber täuschen, daß der Konservatismus seiner Sache (sofern er
diese Handwerkerbewegung als dieselbe anerkennt) prinzipiell freundlich, der
Liberalismus ihr prinzipiell feindlich gegenübersteht. Trotzdem ist -- zweifle
man nur nicht daran -- die große Masse der Handwerker im Herzen immer
noch "liberal." Warum? Weil ihre ganze Vorstellungswelt von Jugend auf
mit liberalen Begriffen und Ideengängen erfüllt wordeu ist, und bis jetzt noch
sehr wenig hiervon durch andres verdrängt werden konnte. Der Liberalismus
macht ihn zum armseligen Proletarier, er zerstört seine soziale Heimat und
widersetzt sich grimmig dein Wiederaufbau derselben, er nimmt ihm sein Sonderrecht
und giebt ihm höhnisch dafür ein Recht, welches sich in der Praxis auf Schritt
und Tritt gegen den einfachen Gewerbsmann wendet und fast stets sich für
den ihn Aussaugenden und Betrügenden erklärt, aber liberal ist und bleibt der
Mann doch! Ein solches Beharrungsvermögen haben geistige Strömungen,
wenn es einmal gelungen ist, gerade die Masse der mittlern und den besten
Teil der untern Klassen mit ihnen zu erfüllen! Vielleicht noch charakteristischer
ist ein andres Beispiel. Auch bei den zuverlässigsten konservativen Gesinnungs¬
genossen wird man nicht selten durch eine ganz liberale Anschauung von irgend¬
einer Tagesfrage oder durch eine Unsicherheit in diesem oder jenem Pnnkte
überrascht werden, sodaß man versucht ist, wie Mr. Bouuderby in Dickens'
"Harten Zeiten" den goldnen Löffel und die Schildkrötensuppe zu erblicken und
den betreffenden von da an mit mißtrauischem Auge zu betrachten. Aber man
wird dem armen Manne meistens Unrecht thun. Die Sache hat nämlich ihren
Grund in dem bekannten Umstände, daß viele Leute (zum Teil weil sie wirklich
aus geschäftlichen Gründen nicht anders können, während allerdings in vielen


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waren ja Menschen, denen man garnicht einmal die Ehre anthat, in ihnen
Gegner der nationalen und staatlichen Zukunft Deutschlands zu erblicken, son¬
dern das waren bloße bedeutungslose Schemen, die von dem „Wehen des Zeit¬
geistes" ganz ohne weiteres, ohne jeden ernsthaften Widerstand hinweggefegt
werden mußten, und von dem Reste spezifisch altpreußischer oder gar „altfritzischer"
Traditionen galt das nämliche. Man begnügte sich garnicht, in allem, was
nicht liberal war, eine Gegnerschaft gegen alle nationalen und sonstwie zeitgemäßen
Bestrebungen zu erblicken, sondern man wußte gar keinen berechtigten oder
irgendwie zu respcktirenden Kern darin zu erblicken, und setzte „nichtliberal"
ohne das mindeste Besinnen als gleichbedeutend mit kulturfeindlich.

Wer die Gewalt messen will, mit welcher diese liberale Strömung sich
ausgebreitet und allenthalben ihr Sicgcspcinier aufgepflanzt hatte, der fasse uur
zwei, heute noch in voller Blüte stehende Erscheinungen ins Auge. Wir sprechen,
und zwar mit gutem Rechte, viel von einer allgemeinen Handwerkerbewegung,
und von der elementaren Kraft, mit welcher dieselbe ganz selbstthätig fort¬
schreitet und immer weitere Kreise des Handwerkerstandes zu sich hinüberzieht.
Die Sache ist, wie gesagt, richtig, und auch der einfachste Handwerker kann sich
unmöglich darüber täuschen, daß der Konservatismus seiner Sache (sofern er
diese Handwerkerbewegung als dieselbe anerkennt) prinzipiell freundlich, der
Liberalismus ihr prinzipiell feindlich gegenübersteht. Trotzdem ist — zweifle
man nur nicht daran — die große Masse der Handwerker im Herzen immer
noch „liberal." Warum? Weil ihre ganze Vorstellungswelt von Jugend auf
mit liberalen Begriffen und Ideengängen erfüllt wordeu ist, und bis jetzt noch
sehr wenig hiervon durch andres verdrängt werden konnte. Der Liberalismus
macht ihn zum armseligen Proletarier, er zerstört seine soziale Heimat und
widersetzt sich grimmig dein Wiederaufbau derselben, er nimmt ihm sein Sonderrecht
und giebt ihm höhnisch dafür ein Recht, welches sich in der Praxis auf Schritt
und Tritt gegen den einfachen Gewerbsmann wendet und fast stets sich für
den ihn Aussaugenden und Betrügenden erklärt, aber liberal ist und bleibt der
Mann doch! Ein solches Beharrungsvermögen haben geistige Strömungen,
wenn es einmal gelungen ist, gerade die Masse der mittlern und den besten
Teil der untern Klassen mit ihnen zu erfüllen! Vielleicht noch charakteristischer
ist ein andres Beispiel. Auch bei den zuverlässigsten konservativen Gesinnungs¬
genossen wird man nicht selten durch eine ganz liberale Anschauung von irgend¬
einer Tagesfrage oder durch eine Unsicherheit in diesem oder jenem Pnnkte
überrascht werden, sodaß man versucht ist, wie Mr. Bouuderby in Dickens'
„Harten Zeiten" den goldnen Löffel und die Schildkrötensuppe zu erblicken und
den betreffenden von da an mit mißtrauischem Auge zu betrachten. Aber man
wird dem armen Manne meistens Unrecht thun. Die Sache hat nämlich ihren
Grund in dem bekannten Umstände, daß viele Leute (zum Teil weil sie wirklich
aus geschäftlichen Gründen nicht anders können, während allerdings in vielen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/449>, abgerufen am 22.07.2024.