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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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gährende, geistig bewegte, viele und vielerlei Kräfte emportreibende ist. Nun
vergegenwärtigen wir uns einmal die Zeitperiode, in der wir leben. Ein Mann
in mittleren Jahren hat noch das Jahr 1848 erlebt; ein älterer, aber immer
noch rüstiger und geisteskräftiger Mann hat es noch mitgemacht, hat noch eine
Rolle in demselben gespielt; garnicht übermäßig alte Herren vermögen sich noch
der Verfassungskämpfe in Baden, Würtemberg und Hessen, ja des Durchzuges
der flüchtigen Polen und der Zuckungen des Jahres 1830 zu erinnern. Und
was für Eindrücke waren es, welche das lebende Geschlecht in dieser seiner
Jugendzeit empfangen hat? Im außerpreußischeu Deutschland redete und dichtete
man wohl viel von deutscher Einigkeit und von Wiederherstellung des deutschen
Reiches, aber in Wirklichkeit wollte doch jeder Hahn auf seinem Miste bleiben,
und die heimlichen (zum Teil auch garnicht so sonderlich heimlichen) Hinnei¬
gungen zu Frankreich waren keineswegs so selten, wie man den Leuten wohl
nachher hat einreden wollen. Es wird kühnlich behauptet werden dürfen, daß
der bessern Schuljugend in Süddeutschland noch in den fünfziger Jahren die
französischen Marschcille des ersten Kaiserreichs viel näher standen als die preu¬
ßischen Helden der Befreiungskriege -- von den Generalen des alte" Fritz gar¬
nicht zu reden. Das Wort "Veteran" war zu jener Zeit in Süddeutschland
nicht viel anders als ein Spott- und Schimpfwort. Noch in den siebziger
Jahren gab es zu Mainz einen Verein von vormaligen Angehörigen der ziÄiräö
g-rmöL, und wenn man mich nur den Namen des Vorsitzenden zu erfahren
brauchte, um zu wissen, daß dort kein Vaterlandsverrat geplant wurde (es war
der würdige, auch auswärts vielbekannte alte Tischlermeister Knußmauu), so ist
doch die bloße Thatsache, zumal für unsern Zweck, charakteristisch genug. Was
Preußen betrifft, so gab es hier allerdings -- von den Polen und von einigen
matten rheinischen, westfälischen und sächsischen Velleitäten abgesehen -- keine
antipreußische Gesinnung. Aber man bedenke, wie tief in Preußen die Gemüter
durch die Koufliktsperivde aufgestürmt worden sind, wie unumschränkt der Libera¬
lismus seit 1843 fast die gesamte Presse beherrscht hat, und wie starke Anläufe
gerade in dieser Periode von Berlin genommen wurden, sich zum deutschen
Paris zu machen. Hier war großstädtisches und großstaatliches Leben, aber es
hatte durchaus eine liberale oder doch liberalisirende Grundlage und wußte sich
eine andre auch garnicht zu denken. Alle modernen Bewegungen und Bestre¬
bungen schienen ja damals irgendeinem Postulate des Liberalismus zu ent¬
sprechen; der Gegensatz gegen die unbefriedigender politischen und nationalen
Zustände und der gegen veraltete Formen des staatlichen und kirchlichen Lebens,
sowie gegen die (damals wirklich noch vorhandenen) "Vorrechte des Junkertums,"
schien ans derselben Quelle zu stammen, und alles Große und Schöne, alle
Kunst, Poesie und Wissenschaft stellte sich nicht nur als ein Protest gegen das
alte preußische Staatswesen und seine hauptsächlichsten Träger, sondern auch
als eine Gefolgschaft der liberalen Ideen dar. Junker und Pfaffen -- das


gährende, geistig bewegte, viele und vielerlei Kräfte emportreibende ist. Nun
vergegenwärtigen wir uns einmal die Zeitperiode, in der wir leben. Ein Mann
in mittleren Jahren hat noch das Jahr 1848 erlebt; ein älterer, aber immer
noch rüstiger und geisteskräftiger Mann hat es noch mitgemacht, hat noch eine
Rolle in demselben gespielt; garnicht übermäßig alte Herren vermögen sich noch
der Verfassungskämpfe in Baden, Würtemberg und Hessen, ja des Durchzuges
der flüchtigen Polen und der Zuckungen des Jahres 1830 zu erinnern. Und
was für Eindrücke waren es, welche das lebende Geschlecht in dieser seiner
Jugendzeit empfangen hat? Im außerpreußischeu Deutschland redete und dichtete
man wohl viel von deutscher Einigkeit und von Wiederherstellung des deutschen
Reiches, aber in Wirklichkeit wollte doch jeder Hahn auf seinem Miste bleiben,
und die heimlichen (zum Teil auch garnicht so sonderlich heimlichen) Hinnei¬
gungen zu Frankreich waren keineswegs so selten, wie man den Leuten wohl
nachher hat einreden wollen. Es wird kühnlich behauptet werden dürfen, daß
der bessern Schuljugend in Süddeutschland noch in den fünfziger Jahren die
französischen Marschcille des ersten Kaiserreichs viel näher standen als die preu¬
ßischen Helden der Befreiungskriege — von den Generalen des alte» Fritz gar¬
nicht zu reden. Das Wort „Veteran" war zu jener Zeit in Süddeutschland
nicht viel anders als ein Spott- und Schimpfwort. Noch in den siebziger
Jahren gab es zu Mainz einen Verein von vormaligen Angehörigen der ziÄiräö
g-rmöL, und wenn man mich nur den Namen des Vorsitzenden zu erfahren
brauchte, um zu wissen, daß dort kein Vaterlandsverrat geplant wurde (es war
der würdige, auch auswärts vielbekannte alte Tischlermeister Knußmauu), so ist
doch die bloße Thatsache, zumal für unsern Zweck, charakteristisch genug. Was
Preußen betrifft, so gab es hier allerdings — von den Polen und von einigen
matten rheinischen, westfälischen und sächsischen Velleitäten abgesehen — keine
antipreußische Gesinnung. Aber man bedenke, wie tief in Preußen die Gemüter
durch die Koufliktsperivde aufgestürmt worden sind, wie unumschränkt der Libera¬
lismus seit 1843 fast die gesamte Presse beherrscht hat, und wie starke Anläufe
gerade in dieser Periode von Berlin genommen wurden, sich zum deutschen
Paris zu machen. Hier war großstädtisches und großstaatliches Leben, aber es
hatte durchaus eine liberale oder doch liberalisirende Grundlage und wußte sich
eine andre auch garnicht zu denken. Alle modernen Bewegungen und Bestre¬
bungen schienen ja damals irgendeinem Postulate des Liberalismus zu ent¬
sprechen; der Gegensatz gegen die unbefriedigender politischen und nationalen
Zustände und der gegen veraltete Formen des staatlichen und kirchlichen Lebens,
sowie gegen die (damals wirklich noch vorhandenen) „Vorrechte des Junkertums,"
schien ans derselben Quelle zu stammen, und alles Große und Schöne, alle
Kunst, Poesie und Wissenschaft stellte sich nicht nur als ein Protest gegen das
alte preußische Staatswesen und seine hauptsächlichsten Träger, sondern auch
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/448>, abgerufen am 22.07.2024.