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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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haben kann, ein erbittertes Kampfgeschrei durch unser Volk trägt und ihm die
ganze jetzige Entwicklung als eine verderbliche und volksfeindliche darzustellen
sucht! Ihre rechte Farbe bekommt aber diese Erscheinung erst dann, wenn man
sich erstens vergegenwärtigt, daß die letzten Parteiführer erbitterte, ja fa¬
natische Gegner aller der Maßregeln waren, durch welche das neue Reich vor¬
bereitet und begründet wurde, und daß diese Herren damals ein unsägliches
Maß von Kurzsichtigkeit und Urteilsschwäche an den Tag gelegt haben, und
wenn man sich zweitens eingesteht, daß diese Partei heute noch einen großen,
vielleicht den überwiegenden Teil des bürgerlichen Mittelstandes auf ihrer Seite
hat. Ist das nicht etwas geradezu Schreckliches, entweder zur Verzweiflung
oder zur Wut Anreizendes?

Aber nur ruhig Blut! Werfen wir vor allem einen Blick rückwärts und
fragen wir uns: War es denn jemals anders? Ging etwa das ätherische
Volk jauchzend und verständnisvoll mit Themistokles, Kimon und Perikles?
Herrschte in Rom während der größten Zeiten seiner Geschichte holde Eintracht
zwischen den Staatsweisen des Senats und dem seine Schlachten schlagenden
Volke? Hatten die Männer des langen und die des gottseliger Parlaments
ein Verständnis für die Größe und die Ziele Cromwells? War es das Verdienst
des Kongresses von Philadelphia, wenn Washington seine weise Kriegführung
zu glücklichem Ende brachte? Die Massen, und zumal die entwickelteren, mit
einem größer" Maße von Verständnis ausgerüsteten Elemente derselben, stehen
niemals auf Seite derer, die aus einer großen innern Umwälzung endlich das
Fazit ziehen, sondern sie sind stets an tausend hiermit nicht harmonireude Ge¬
sichtspunkte gebannt. Da aber solche Zeiten stets eine starke Hebung des ganzen
Volksgeistes und damit eine Entfesselung zahlreicher Kräfte bewirken (ohne deren
Vorhandensein die große That ja auch garnicht zu vollbringen wäre), so werden
es stets hervorragende Kräfte sein, welche an der Spitze der Gegenpartei stehen,
und die ganze, der Neugestaltung sich entgegenstemmende Bewegung wird des
Schwunges und der geistigen Energie niemals ganz entbehren. Voilü, tont!

Dazu kommt noch etwas. Fast immer vollziehen sich die großen Umge¬
staltungen selbst sehr schnell, wenn anch die Vorgeschichte derselben eine noch
so lange und durch tausend Vorstufen und Seitenpfade hindurch gegangene war.
Wie die Baumknospe viele Monate hindurch langsam anschwillt und sich färbt,
und dann doch nur einer einzigen Nacht bedarf, um sich voll zu entfalten, so
pflegt die Knospe am Baume des Menschentums, die neue Gestalt einer Nation,
sich auch plötzlich zu öffnen. Aber hierbei spielt noch ein Faktor mit, bei dem
unser Bild uns im Stiche läßt. Fast immer ist gerade die Neugestaltung auch
von innern Stürmen, von einem Auftauchen neuer Ideenkreise, von einer Um¬
kehr in den Anschauungen, in der Denk- und Gefühlsweise des Volkes begleitet;
die alten Ideen aber sterben niemals plötzlich ab, sie verschwinden nicht von
heute auf morgen, und am wenigsten in einer Zeit, welche an und für sich eine


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haben kann, ein erbittertes Kampfgeschrei durch unser Volk trägt und ihm die
ganze jetzige Entwicklung als eine verderbliche und volksfeindliche darzustellen
sucht! Ihre rechte Farbe bekommt aber diese Erscheinung erst dann, wenn man
sich erstens vergegenwärtigt, daß die letzten Parteiführer erbitterte, ja fa¬
natische Gegner aller der Maßregeln waren, durch welche das neue Reich vor¬
bereitet und begründet wurde, und daß diese Herren damals ein unsägliches
Maß von Kurzsichtigkeit und Urteilsschwäche an den Tag gelegt haben, und
wenn man sich zweitens eingesteht, daß diese Partei heute noch einen großen,
vielleicht den überwiegenden Teil des bürgerlichen Mittelstandes auf ihrer Seite
hat. Ist das nicht etwas geradezu Schreckliches, entweder zur Verzweiflung
oder zur Wut Anreizendes?

Aber nur ruhig Blut! Werfen wir vor allem einen Blick rückwärts und
fragen wir uns: War es denn jemals anders? Ging etwa das ätherische
Volk jauchzend und verständnisvoll mit Themistokles, Kimon und Perikles?
Herrschte in Rom während der größten Zeiten seiner Geschichte holde Eintracht
zwischen den Staatsweisen des Senats und dem seine Schlachten schlagenden
Volke? Hatten die Männer des langen und die des gottseliger Parlaments
ein Verständnis für die Größe und die Ziele Cromwells? War es das Verdienst
des Kongresses von Philadelphia, wenn Washington seine weise Kriegführung
zu glücklichem Ende brachte? Die Massen, und zumal die entwickelteren, mit
einem größer» Maße von Verständnis ausgerüsteten Elemente derselben, stehen
niemals auf Seite derer, die aus einer großen innern Umwälzung endlich das
Fazit ziehen, sondern sie sind stets an tausend hiermit nicht harmonireude Ge¬
sichtspunkte gebannt. Da aber solche Zeiten stets eine starke Hebung des ganzen
Volksgeistes und damit eine Entfesselung zahlreicher Kräfte bewirken (ohne deren
Vorhandensein die große That ja auch garnicht zu vollbringen wäre), so werden
es stets hervorragende Kräfte sein, welche an der Spitze der Gegenpartei stehen,
und die ganze, der Neugestaltung sich entgegenstemmende Bewegung wird des
Schwunges und der geistigen Energie niemals ganz entbehren. Voilü, tont!

Dazu kommt noch etwas. Fast immer vollziehen sich die großen Umge¬
staltungen selbst sehr schnell, wenn anch die Vorgeschichte derselben eine noch
so lange und durch tausend Vorstufen und Seitenpfade hindurch gegangene war.
Wie die Baumknospe viele Monate hindurch langsam anschwillt und sich färbt,
und dann doch nur einer einzigen Nacht bedarf, um sich voll zu entfalten, so
pflegt die Knospe am Baume des Menschentums, die neue Gestalt einer Nation,
sich auch plötzlich zu öffnen. Aber hierbei spielt noch ein Faktor mit, bei dem
unser Bild uns im Stiche läßt. Fast immer ist gerade die Neugestaltung auch
von innern Stürmen, von einem Auftauchen neuer Ideenkreise, von einer Um¬
kehr in den Anschauungen, in der Denk- und Gefühlsweise des Volkes begleitet;
die alten Ideen aber sterben niemals plötzlich ab, sie verschwinden nicht von
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/447>, abgerufen am 25.08.2024.