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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.

auf die Lippen dränge"; wehe, wenn er den Fluch fliegen läßt, der Wohl nach
nltjüdischem Modell gearbeitet sein würde, das ja im auserwählten Volke nie
in Vergessenheit geraten ist: man schaudert bei dem bloßen Gedanken!

Wie wenig wir uns verstehen, das zeigten in der That einzelne Be¬
merkungen des Herrn Reichskanzlers über die Sonntagsfeier. Wenn er sich
häufiger in gewissen Gebirgsgegenden mit gut katholischer Bevölkerung auf¬
gehalten hätte, so würde er sich wohl erinnern, daß alle Erwachsenen direkt
aus der Messe in die Kaufläden wandern, um für die Bedürfnisse der kom¬
menden Woche vorzusorgen, den Hausrat zu ergänzen, überhaupt einzuhandeln,
was der Bauer nicht selbst machen kaun (natürlich müssen deshalb sämtliche
Geschäfte offen gehalten werden, was in diesem Falle wahrscheinlich nicht gegen
die Gesetzgebung von Sinai verstößt), dann sich dem Wirtshaus zuwenden, wo
die Unterhaltung sogut vonstattcn zu gehen pflegt, daß dort die Montagsarbeit
gewöhnlich mit dem Auswaschen der Blutlachen ihren Anfang nimmt. Er
würde vielleicht auch Gegenden kennen gelernt haben, in welchen alle Be¬
mühungen, der Armut und Verkommenheit der Bewohner durch Hebung des
Ackerbaues und Gründung einer größer" Erwerbsthätigkeit zu steuern, vergeblich
bleiben, weil die Leute viel zu fromm sind, um an einem ihrer vielen Feiertage
die Hände zu rühren, es sei denn zum Kartenspiel. Wenn er solche segens¬
reiche Zustände kennte, würde er doch Bedenken tragen, sich der Ausbreitung
derselben zu widersetzen. Aber wir verstehen uns nicht mehr, und darum wächst
"das Schuldkonto Preußens" schreckcnerregend an. So überaus treffend hat
neulich Herr Windthorst darauf hingewiesen, daß die Polen in Österreich gute
Staatsbürger seien, weil man sie dort richtig behandle. Gewiß! Man lasse
die polnische und die katholische Propaganda frei gewähren, man statte das
Land auf Kosten der andern aus und gebe den Polen eine entscheidende Stimme
in den allgemeinen Angelegenheiten, dann werden sie auch in Posen zufrieden
sein und gute Deutsche werden -- nein, das wohl nicht, aber gute Polen bleiben.

Trotzalledem bleibe ich dabei, daß man nicht zu verzagen braucht. Wenn
das deutsche Nationalgefühl nur konsequent so untergraben wird wie bisher, so
muß es ja endlich weichem Und mit dieser tröstlichen Aussicht wünsche ich uns
allen eine glückliche Reise.




Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.

auf die Lippen dränge"; wehe, wenn er den Fluch fliegen läßt, der Wohl nach
nltjüdischem Modell gearbeitet sein würde, das ja im auserwählten Volke nie
in Vergessenheit geraten ist: man schaudert bei dem bloßen Gedanken!

Wie wenig wir uns verstehen, das zeigten in der That einzelne Be¬
merkungen des Herrn Reichskanzlers über die Sonntagsfeier. Wenn er sich
häufiger in gewissen Gebirgsgegenden mit gut katholischer Bevölkerung auf¬
gehalten hätte, so würde er sich wohl erinnern, daß alle Erwachsenen direkt
aus der Messe in die Kaufläden wandern, um für die Bedürfnisse der kom¬
menden Woche vorzusorgen, den Hausrat zu ergänzen, überhaupt einzuhandeln,
was der Bauer nicht selbst machen kaun (natürlich müssen deshalb sämtliche
Geschäfte offen gehalten werden, was in diesem Falle wahrscheinlich nicht gegen
die Gesetzgebung von Sinai verstößt), dann sich dem Wirtshaus zuwenden, wo
die Unterhaltung sogut vonstattcn zu gehen pflegt, daß dort die Montagsarbeit
gewöhnlich mit dem Auswaschen der Blutlachen ihren Anfang nimmt. Er
würde vielleicht auch Gegenden kennen gelernt haben, in welchen alle Be¬
mühungen, der Armut und Verkommenheit der Bewohner durch Hebung des
Ackerbaues und Gründung einer größer» Erwerbsthätigkeit zu steuern, vergeblich
bleiben, weil die Leute viel zu fromm sind, um an einem ihrer vielen Feiertage
die Hände zu rühren, es sei denn zum Kartenspiel. Wenn er solche segens¬
reiche Zustände kennte, würde er doch Bedenken tragen, sich der Ausbreitung
derselben zu widersetzen. Aber wir verstehen uns nicht mehr, und darum wächst
„das Schuldkonto Preußens" schreckcnerregend an. So überaus treffend hat
neulich Herr Windthorst darauf hingewiesen, daß die Polen in Österreich gute
Staatsbürger seien, weil man sie dort richtig behandle. Gewiß! Man lasse
die polnische und die katholische Propaganda frei gewähren, man statte das
Land auf Kosten der andern aus und gebe den Polen eine entscheidende Stimme
in den allgemeinen Angelegenheiten, dann werden sie auch in Posen zufrieden
sein und gute Deutsche werden — nein, das wohl nicht, aber gute Polen bleiben.

Trotzalledem bleibe ich dabei, daß man nicht zu verzagen braucht. Wenn
das deutsche Nationalgefühl nur konsequent so untergraben wird wie bisher, so
muß es ja endlich weichem Und mit dieser tröstlichen Aussicht wünsche ich uns
allen eine glückliche Reise.




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[0432] Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten. auf die Lippen dränge"; wehe, wenn er den Fluch fliegen läßt, der Wohl nach nltjüdischem Modell gearbeitet sein würde, das ja im auserwählten Volke nie in Vergessenheit geraten ist: man schaudert bei dem bloßen Gedanken! Wie wenig wir uns verstehen, das zeigten in der That einzelne Be¬ merkungen des Herrn Reichskanzlers über die Sonntagsfeier. Wenn er sich häufiger in gewissen Gebirgsgegenden mit gut katholischer Bevölkerung auf¬ gehalten hätte, so würde er sich wohl erinnern, daß alle Erwachsenen direkt aus der Messe in die Kaufläden wandern, um für die Bedürfnisse der kom¬ menden Woche vorzusorgen, den Hausrat zu ergänzen, überhaupt einzuhandeln, was der Bauer nicht selbst machen kaun (natürlich müssen deshalb sämtliche Geschäfte offen gehalten werden, was in diesem Falle wahrscheinlich nicht gegen die Gesetzgebung von Sinai verstößt), dann sich dem Wirtshaus zuwenden, wo die Unterhaltung sogut vonstattcn zu gehen pflegt, daß dort die Montagsarbeit gewöhnlich mit dem Auswaschen der Blutlachen ihren Anfang nimmt. Er würde vielleicht auch Gegenden kennen gelernt haben, in welchen alle Be¬ mühungen, der Armut und Verkommenheit der Bewohner durch Hebung des Ackerbaues und Gründung einer größer» Erwerbsthätigkeit zu steuern, vergeblich bleiben, weil die Leute viel zu fromm sind, um an einem ihrer vielen Feiertage die Hände zu rühren, es sei denn zum Kartenspiel. Wenn er solche segens¬ reiche Zustände kennte, würde er doch Bedenken tragen, sich der Ausbreitung derselben zu widersetzen. Aber wir verstehen uns nicht mehr, und darum wächst „das Schuldkonto Preußens" schreckcnerregend an. So überaus treffend hat neulich Herr Windthorst darauf hingewiesen, daß die Polen in Österreich gute Staatsbürger seien, weil man sie dort richtig behandle. Gewiß! Man lasse die polnische und die katholische Propaganda frei gewähren, man statte das Land auf Kosten der andern aus und gebe den Polen eine entscheidende Stimme in den allgemeinen Angelegenheiten, dann werden sie auch in Posen zufrieden sein und gute Deutsche werden — nein, das wohl nicht, aber gute Polen bleiben. Trotzalledem bleibe ich dabei, daß man nicht zu verzagen braucht. Wenn das deutsche Nationalgefühl nur konsequent so untergraben wird wie bisher, so muß es ja endlich weichem Und mit dieser tröstlichen Aussicht wünsche ich uns allen eine glückliche Reise.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/432>, abgerufen am 22.07.2024.