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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

er gleichzeitig Turgenjews Kasse mit nicht geringen Summen in Anspruch nahm.
Die dunkeln Ehrenmänner, die in den letzten sechziger Jahren in der russischen
Presse aufzutauchen begannen, thaten sich fast etwas darauf zugute, Turgenjew
bei der ersten besten Gelegenheit am Zeuge zu flicken. Während er mit dem
Renegaten Katkow, der im Basarow eine Karikatur Jung - Rußlands sehen
wollte, sich um dieses seines Lieblings willen für immer entzweite, erhielt er
aus dem Lager der Radikalen offne und anonyme Kundgebungen, in denen
man ihn "einen Renegaten, einen Dummkopf, eine öffentliche Dirne" nannte.
Allerhand Mittel, Turgenjew lächerlich zu machen, wurden hervorgesucht. Ein
Fürst Dolgorukow erzählte in einem Feuilleton der "Se. Petersburger Nach¬
richten," Turgenjew habe als Jüngling von zwanzig Jahren, als er sich an
Bord des brennenden Passagierschiffes "Nikolaus der Erste" befand, sich dnrch
den Ruf: "Rettet mich, ich bin der einzige Sohn meiner Mutter!" zu retten
gesucht, während er damals noch Geschwister gehabt habe. Mehr als einmal
mußte sich Turgenjew gegen derartige Lügen wehren, die das heruntergekommene
Publikum mit unverhohlener Schadenfreude aufnahm. Als Polonski ihn im
Jahre 1869 um eine Besprechung seiner Dichtungen bat, schrieb Turgenjew ihm
folgendes: "Ich bin jetzt so unbeliebt beim Publikum, daß alles, was ich nur
sagen mag, als verkehrt ausgeschrieen wird. Bleibe ich stehen, so giebt's Prügel,
und laufe ich weg, so giebt's erst recht Prügel." Was er irgend publiziren
mochte -- seine kleineren, psychologisch hochinteressanter Novellen wie seine
Essays über Belinski, Gogol u. s. w. -- wurde in den Staub gezogen. Ein¬
mütig erklärte die "maßgebende" russische Kritik, daß alles, was Turgenjew
seit dem "Tagebuch eines Jägers" geschrieben hätte, wertlos sei, da ihm infolge
seiner Abwesenheit von Rußland die Kenntnis des russischen Lebens abgebe.
"Wie jedes alte Weib, schreibt Turgenjew mit Bezug auf, diesen Vorwurf,
hält die Kritik an ihren einmal gefaßten Ansichten eigensinnig fest, und wenn
sie noch so grundlos sind. So steht's auch mit dem erwähnten Vorwurf, der
allenfalls diejenigen meiner Erzeugnisse trifft, die ich nach 1863 geschrieben
habe. Bis zu diesem Jahre habe ich fast ausschließlich in Rußland gelebt --
mit Ausnahme der Jahre 1848 bis 1830, wahrend deren ich gerade im Aus¬
lande die "Skizzen" schrieb. "Rudin" dagegen, "Das adliche Nest," "Am Vor¬
abend" und "Väter und Söhne" sind sämtlich in Rußland geschrieben. Doch
was hat das alles für die biedre Alte zu bedeuten?"

Aber Turgenjew vergaß sein Rußland auch im Auslande nicht. Er ver¬
folgte mit Aufmerksamkeit alle gesellschaftlichen und litterarischen Vorgänge in dem¬
selben und sah mit Bedauern den Niedergang der jungen realistischen Schule,
die so vielversprechend begonnen hatte. "Mangel an Talenten, namentlich
an dichterischen Talenten, schreibt er 1868 an Polonski, das ist unsre Not.
Seit Leon Tvlstvj hat Nußland kein poetisches Talent gesehen. Fähigkeiten
kann man allen diesen Slepzow, Neschctnikow, Uspenskij u. s. w. nicht ab-


Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

er gleichzeitig Turgenjews Kasse mit nicht geringen Summen in Anspruch nahm.
Die dunkeln Ehrenmänner, die in den letzten sechziger Jahren in der russischen
Presse aufzutauchen begannen, thaten sich fast etwas darauf zugute, Turgenjew
bei der ersten besten Gelegenheit am Zeuge zu flicken. Während er mit dem
Renegaten Katkow, der im Basarow eine Karikatur Jung - Rußlands sehen
wollte, sich um dieses seines Lieblings willen für immer entzweite, erhielt er
aus dem Lager der Radikalen offne und anonyme Kundgebungen, in denen
man ihn „einen Renegaten, einen Dummkopf, eine öffentliche Dirne" nannte.
Allerhand Mittel, Turgenjew lächerlich zu machen, wurden hervorgesucht. Ein
Fürst Dolgorukow erzählte in einem Feuilleton der „Se. Petersburger Nach¬
richten," Turgenjew habe als Jüngling von zwanzig Jahren, als er sich an
Bord des brennenden Passagierschiffes „Nikolaus der Erste" befand, sich dnrch
den Ruf: „Rettet mich, ich bin der einzige Sohn meiner Mutter!" zu retten
gesucht, während er damals noch Geschwister gehabt habe. Mehr als einmal
mußte sich Turgenjew gegen derartige Lügen wehren, die das heruntergekommene
Publikum mit unverhohlener Schadenfreude aufnahm. Als Polonski ihn im
Jahre 1869 um eine Besprechung seiner Dichtungen bat, schrieb Turgenjew ihm
folgendes: „Ich bin jetzt so unbeliebt beim Publikum, daß alles, was ich nur
sagen mag, als verkehrt ausgeschrieen wird. Bleibe ich stehen, so giebt's Prügel,
und laufe ich weg, so giebt's erst recht Prügel." Was er irgend publiziren
mochte — seine kleineren, psychologisch hochinteressanter Novellen wie seine
Essays über Belinski, Gogol u. s. w. — wurde in den Staub gezogen. Ein¬
mütig erklärte die „maßgebende" russische Kritik, daß alles, was Turgenjew
seit dem „Tagebuch eines Jägers" geschrieben hätte, wertlos sei, da ihm infolge
seiner Abwesenheit von Rußland die Kenntnis des russischen Lebens abgebe.
„Wie jedes alte Weib, schreibt Turgenjew mit Bezug auf, diesen Vorwurf,
hält die Kritik an ihren einmal gefaßten Ansichten eigensinnig fest, und wenn
sie noch so grundlos sind. So steht's auch mit dem erwähnten Vorwurf, der
allenfalls diejenigen meiner Erzeugnisse trifft, die ich nach 1863 geschrieben
habe. Bis zu diesem Jahre habe ich fast ausschließlich in Rußland gelebt —
mit Ausnahme der Jahre 1848 bis 1830, wahrend deren ich gerade im Aus¬
lande die »Skizzen« schrieb. »Rudin« dagegen, »Das adliche Nest,« »Am Vor¬
abend« und »Väter und Söhne« sind sämtlich in Rußland geschrieben. Doch
was hat das alles für die biedre Alte zu bedeuten?"

Aber Turgenjew vergaß sein Rußland auch im Auslande nicht. Er ver¬
folgte mit Aufmerksamkeit alle gesellschaftlichen und litterarischen Vorgänge in dem¬
selben und sah mit Bedauern den Niedergang der jungen realistischen Schule,
die so vielversprechend begonnen hatte. „Mangel an Talenten, namentlich
an dichterischen Talenten, schreibt er 1868 an Polonski, das ist unsre Not.
Seit Leon Tvlstvj hat Nußland kein poetisches Talent gesehen. Fähigkeiten
kann man allen diesen Slepzow, Neschctnikow, Uspenskij u. s. w. nicht ab-


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[0413] Iwan Turgenjew in seinen Briefen. er gleichzeitig Turgenjews Kasse mit nicht geringen Summen in Anspruch nahm. Die dunkeln Ehrenmänner, die in den letzten sechziger Jahren in der russischen Presse aufzutauchen begannen, thaten sich fast etwas darauf zugute, Turgenjew bei der ersten besten Gelegenheit am Zeuge zu flicken. Während er mit dem Renegaten Katkow, der im Basarow eine Karikatur Jung - Rußlands sehen wollte, sich um dieses seines Lieblings willen für immer entzweite, erhielt er aus dem Lager der Radikalen offne und anonyme Kundgebungen, in denen man ihn „einen Renegaten, einen Dummkopf, eine öffentliche Dirne" nannte. Allerhand Mittel, Turgenjew lächerlich zu machen, wurden hervorgesucht. Ein Fürst Dolgorukow erzählte in einem Feuilleton der „Se. Petersburger Nach¬ richten," Turgenjew habe als Jüngling von zwanzig Jahren, als er sich an Bord des brennenden Passagierschiffes „Nikolaus der Erste" befand, sich dnrch den Ruf: „Rettet mich, ich bin der einzige Sohn meiner Mutter!" zu retten gesucht, während er damals noch Geschwister gehabt habe. Mehr als einmal mußte sich Turgenjew gegen derartige Lügen wehren, die das heruntergekommene Publikum mit unverhohlener Schadenfreude aufnahm. Als Polonski ihn im Jahre 1869 um eine Besprechung seiner Dichtungen bat, schrieb Turgenjew ihm folgendes: „Ich bin jetzt so unbeliebt beim Publikum, daß alles, was ich nur sagen mag, als verkehrt ausgeschrieen wird. Bleibe ich stehen, so giebt's Prügel, und laufe ich weg, so giebt's erst recht Prügel." Was er irgend publiziren mochte — seine kleineren, psychologisch hochinteressanter Novellen wie seine Essays über Belinski, Gogol u. s. w. — wurde in den Staub gezogen. Ein¬ mütig erklärte die „maßgebende" russische Kritik, daß alles, was Turgenjew seit dem „Tagebuch eines Jägers" geschrieben hätte, wertlos sei, da ihm infolge seiner Abwesenheit von Rußland die Kenntnis des russischen Lebens abgebe. „Wie jedes alte Weib, schreibt Turgenjew mit Bezug auf, diesen Vorwurf, hält die Kritik an ihren einmal gefaßten Ansichten eigensinnig fest, und wenn sie noch so grundlos sind. So steht's auch mit dem erwähnten Vorwurf, der allenfalls diejenigen meiner Erzeugnisse trifft, die ich nach 1863 geschrieben habe. Bis zu diesem Jahre habe ich fast ausschließlich in Rußland gelebt — mit Ausnahme der Jahre 1848 bis 1830, wahrend deren ich gerade im Aus¬ lande die »Skizzen« schrieb. »Rudin« dagegen, »Das adliche Nest,« »Am Vor¬ abend« und »Väter und Söhne« sind sämtlich in Rußland geschrieben. Doch was hat das alles für die biedre Alte zu bedeuten?" Aber Turgenjew vergaß sein Rußland auch im Auslande nicht. Er ver¬ folgte mit Aufmerksamkeit alle gesellschaftlichen und litterarischen Vorgänge in dem¬ selben und sah mit Bedauern den Niedergang der jungen realistischen Schule, die so vielversprechend begonnen hatte. „Mangel an Talenten, namentlich an dichterischen Talenten, schreibt er 1868 an Polonski, das ist unsre Not. Seit Leon Tvlstvj hat Nußland kein poetisches Talent gesehen. Fähigkeiten kann man allen diesen Slepzow, Neschctnikow, Uspenskij u. s. w. nicht ab-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/413>, abgerufen am 22.07.2024.