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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Iwan Turgenjew in seinen Briefen,

"die Mauern aufzurichten, während noch nicht einmal die Fundamente gelegt
seien u, s. w. Im Jahre 1861 steigert sich seine Kritik bis zum Unwillen:
"Ich bin dieser Zischer, Kritikaster, Ankläger, Spötter überdrüssig, schreibt er
an Polonski, der Teufel mag sie alle holen." Die "Väter und Söhne" waren
damals schon im Plane und zum größern Teil auch in der Ausführung fertig.
Turgenjew hatte bereits in Basarow, dem Helden dieses Romans, den Typus
gefunden, der nach seiner Auffassung das junge Geschlecht jener Zeit repräsen-
tirte. Nach dieser Auffassung war Basarow ein neues Element der russischen
Gesellschaft, das sich aus dem Volksorganismns machtvoll zu entwickeln strebte:
der bewußte Plebejer, der neben dem wurmstichigen Edelmann, dem stumpf¬
sinnigen Stadtbürger und dem vegetirenden Bauern aus dem Boden empor¬
steigt. Diesem neuen, thatkräftigen, modern-europäischen Faktor das Dasein zu
geben -- das war nach Turgenjews Ansicht die tieferliegende Aufgabe der
neuen Epoche. Da er aber keine Ideale konstruirte und willkürlich mit schönen
Eigenschaften schmückte, sondern als realistischer Künstler von der Wirklichkeit
ausging, so mußte er seinen Helden in den Grundzügen so lassen, wie er ihn
thatsächlich fand. So wurde denn Basarow bei alleu trefflichen Naturanlagen
gleichzeitig der Repräsentant des moralischen Katzenjammers, den sich Jung-
Rußland durch den unmäßigen Genuß des aus Westeuropa importirten Bil¬
dungselixirs angetrunken hatte. Aus der ganzen wohlwollenden Art jedoch,
wie Turgenjew seinen Helden angreift, ersehen wir, daß er selber diesen Katzen¬
jammer, wie seinen physischen Namensbruder, nur als vorübergehenden Zustand
betrachtet. Hinter demselben blickt die entschlossene Thatkraft, der selbstbewußte
jugendliche Plebcjermut durch, der frischweg die Welt mit seinen neuerworbenen
Kenntnissen verbessern möchte. Basarow ist noch amorphes Gebilde, kein reiner
Krystall; aber der Dichter ist davon überzeugt, daß der Läuterungsprozeß seinen
Fortgang nehmen werde. So endet denn auch Basarow nicht durch innern Kon¬
flikt, sondern durch Zufall, als Opfer seines ärztlichen Berufes.

Wie ein kalter Wasserstrahl wirkte Turgenjews Roman auf die erhitzten
Gemüter. Wie? Iwan Sergejewitsch will sich über das junge Geschlecht erheben,
will es schelten und kritisiren? Und auf der ganzen Linie wurde der Angriff
gegen ihn aufgenommen. Der LovreurMniK öffnete einem obskuren Kritiker
namens Antonvwitsch zu einem schmählichen Überfall seine Spalten. Ein Jahr
vorher hatte Turgenjew diesem Organ Nekrassows seine Mitarbeiterschaft ein
für allemal gekündigt -- jetzt wurde in alle Welt die Lüge hinausposaunt,
daß man ihn von derselben ausgeschlossen habe. Der Umstand, daß der Roman
in Moskau, in Katkows Lnsstch ^Vjeswilc erschien, wurde, obwohl Katkow
damals noch zu den Liberalen zählte, als eine Beleidigung der Intelligenz von
Petersburg angesehen. Überall drehte sich die Diskussion um Basarow und
seine aristokratische" Gegenbilder, die Kirßanows. Die einen fanden Basarow
zu dumm, die andern zu gutmütig, noch andre behaupteten geradezu, Turgenjew


Iwan Turgenjew in seinen Briefen,

"die Mauern aufzurichten, während noch nicht einmal die Fundamente gelegt
seien u, s. w. Im Jahre 1861 steigert sich seine Kritik bis zum Unwillen:
„Ich bin dieser Zischer, Kritikaster, Ankläger, Spötter überdrüssig, schreibt er
an Polonski, der Teufel mag sie alle holen." Die „Väter und Söhne" waren
damals schon im Plane und zum größern Teil auch in der Ausführung fertig.
Turgenjew hatte bereits in Basarow, dem Helden dieses Romans, den Typus
gefunden, der nach seiner Auffassung das junge Geschlecht jener Zeit repräsen-
tirte. Nach dieser Auffassung war Basarow ein neues Element der russischen
Gesellschaft, das sich aus dem Volksorganismns machtvoll zu entwickeln strebte:
der bewußte Plebejer, der neben dem wurmstichigen Edelmann, dem stumpf¬
sinnigen Stadtbürger und dem vegetirenden Bauern aus dem Boden empor¬
steigt. Diesem neuen, thatkräftigen, modern-europäischen Faktor das Dasein zu
geben — das war nach Turgenjews Ansicht die tieferliegende Aufgabe der
neuen Epoche. Da er aber keine Ideale konstruirte und willkürlich mit schönen
Eigenschaften schmückte, sondern als realistischer Künstler von der Wirklichkeit
ausging, so mußte er seinen Helden in den Grundzügen so lassen, wie er ihn
thatsächlich fand. So wurde denn Basarow bei alleu trefflichen Naturanlagen
gleichzeitig der Repräsentant des moralischen Katzenjammers, den sich Jung-
Rußland durch den unmäßigen Genuß des aus Westeuropa importirten Bil¬
dungselixirs angetrunken hatte. Aus der ganzen wohlwollenden Art jedoch,
wie Turgenjew seinen Helden angreift, ersehen wir, daß er selber diesen Katzen¬
jammer, wie seinen physischen Namensbruder, nur als vorübergehenden Zustand
betrachtet. Hinter demselben blickt die entschlossene Thatkraft, der selbstbewußte
jugendliche Plebcjermut durch, der frischweg die Welt mit seinen neuerworbenen
Kenntnissen verbessern möchte. Basarow ist noch amorphes Gebilde, kein reiner
Krystall; aber der Dichter ist davon überzeugt, daß der Läuterungsprozeß seinen
Fortgang nehmen werde. So endet denn auch Basarow nicht durch innern Kon¬
flikt, sondern durch Zufall, als Opfer seines ärztlichen Berufes.

Wie ein kalter Wasserstrahl wirkte Turgenjews Roman auf die erhitzten
Gemüter. Wie? Iwan Sergejewitsch will sich über das junge Geschlecht erheben,
will es schelten und kritisiren? Und auf der ganzen Linie wurde der Angriff
gegen ihn aufgenommen. Der LovreurMniK öffnete einem obskuren Kritiker
namens Antonvwitsch zu einem schmählichen Überfall seine Spalten. Ein Jahr
vorher hatte Turgenjew diesem Organ Nekrassows seine Mitarbeiterschaft ein
für allemal gekündigt — jetzt wurde in alle Welt die Lüge hinausposaunt,
daß man ihn von derselben ausgeschlossen habe. Der Umstand, daß der Roman
in Moskau, in Katkows Lnsstch ^Vjeswilc erschien, wurde, obwohl Katkow
damals noch zu den Liberalen zählte, als eine Beleidigung der Intelligenz von
Petersburg angesehen. Überall drehte sich die Diskussion um Basarow und
seine aristokratische» Gegenbilder, die Kirßanows. Die einen fanden Basarow
zu dumm, die andern zu gutmütig, noch andre behaupteten geradezu, Turgenjew


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[0411] Iwan Turgenjew in seinen Briefen, "die Mauern aufzurichten, während noch nicht einmal die Fundamente gelegt seien u, s. w. Im Jahre 1861 steigert sich seine Kritik bis zum Unwillen: „Ich bin dieser Zischer, Kritikaster, Ankläger, Spötter überdrüssig, schreibt er an Polonski, der Teufel mag sie alle holen." Die „Väter und Söhne" waren damals schon im Plane und zum größern Teil auch in der Ausführung fertig. Turgenjew hatte bereits in Basarow, dem Helden dieses Romans, den Typus gefunden, der nach seiner Auffassung das junge Geschlecht jener Zeit repräsen- tirte. Nach dieser Auffassung war Basarow ein neues Element der russischen Gesellschaft, das sich aus dem Volksorganismns machtvoll zu entwickeln strebte: der bewußte Plebejer, der neben dem wurmstichigen Edelmann, dem stumpf¬ sinnigen Stadtbürger und dem vegetirenden Bauern aus dem Boden empor¬ steigt. Diesem neuen, thatkräftigen, modern-europäischen Faktor das Dasein zu geben — das war nach Turgenjews Ansicht die tieferliegende Aufgabe der neuen Epoche. Da er aber keine Ideale konstruirte und willkürlich mit schönen Eigenschaften schmückte, sondern als realistischer Künstler von der Wirklichkeit ausging, so mußte er seinen Helden in den Grundzügen so lassen, wie er ihn thatsächlich fand. So wurde denn Basarow bei alleu trefflichen Naturanlagen gleichzeitig der Repräsentant des moralischen Katzenjammers, den sich Jung- Rußland durch den unmäßigen Genuß des aus Westeuropa importirten Bil¬ dungselixirs angetrunken hatte. Aus der ganzen wohlwollenden Art jedoch, wie Turgenjew seinen Helden angreift, ersehen wir, daß er selber diesen Katzen¬ jammer, wie seinen physischen Namensbruder, nur als vorübergehenden Zustand betrachtet. Hinter demselben blickt die entschlossene Thatkraft, der selbstbewußte jugendliche Plebcjermut durch, der frischweg die Welt mit seinen neuerworbenen Kenntnissen verbessern möchte. Basarow ist noch amorphes Gebilde, kein reiner Krystall; aber der Dichter ist davon überzeugt, daß der Läuterungsprozeß seinen Fortgang nehmen werde. So endet denn auch Basarow nicht durch innern Kon¬ flikt, sondern durch Zufall, als Opfer seines ärztlichen Berufes. Wie ein kalter Wasserstrahl wirkte Turgenjews Roman auf die erhitzten Gemüter. Wie? Iwan Sergejewitsch will sich über das junge Geschlecht erheben, will es schelten und kritisiren? Und auf der ganzen Linie wurde der Angriff gegen ihn aufgenommen. Der LovreurMniK öffnete einem obskuren Kritiker namens Antonvwitsch zu einem schmählichen Überfall seine Spalten. Ein Jahr vorher hatte Turgenjew diesem Organ Nekrassows seine Mitarbeiterschaft ein für allemal gekündigt — jetzt wurde in alle Welt die Lüge hinausposaunt, daß man ihn von derselben ausgeschlossen habe. Der Umstand, daß der Roman in Moskau, in Katkows Lnsstch ^Vjeswilc erschien, wurde, obwohl Katkow damals noch zu den Liberalen zählte, als eine Beleidigung der Intelligenz von Petersburg angesehen. Überall drehte sich die Diskussion um Basarow und seine aristokratische» Gegenbilder, die Kirßanows. Die einen fanden Basarow zu dumm, die andern zu gutmütig, noch andre behaupteten geradezu, Turgenjew

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/411>, abgerufen am 22.07.2024.