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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Die Sebalds.

Ich will mich vergessen und mich meiner allmählich wieder entsinnen. Ich will
mich vergnügen, indem ich mich selbst in die Unendlichkeit ausstreue und langsam
wieder suche." Er löste sich in tausend Billionen mal soviele Teile, als wir
Sonnen am Himmel aufglimmen sehen. Von seinem Willen beschwingt flogen
die Gvttesatome, deren jedes das rechte Maß aller seiner Eigenschaften enthielt,
ausgesät hinaus in den Raum und hinein in die regungslos ringsum schwebenden
Staubwolken toten Stoffes. Da begannen sie belebt zu kreiseln in Schnecken¬
linien; da ballten sie sich zu Sonnen und umrvllendcn Planeten. Draußen in
Himmelsfernen gewahren wir wenig mehr von ihm, als den auch schlasgefangcn
noch wirkenden Willen. Wir nennen ihn das Gesetz der Bewegungen. Etwas
kennen wir das Aufkeimen und das Wachstum nur von dem Tausendbillionstel,
welches wiederum tausendfach verteilt dem Staube einverleibt ward, aus dein
sich unsre Erde gesammelt, dieser wüizige, aber unzweifelhaft vor Hunderten
andrer Weltkörper zur Muttergvttesschaft ersprießlich veranlagte (!) Himmelssteru.
Wir sangen an, einige Abschnitte seiner Leidens- und Erlösungsgeschichte lesen
zu lernen. Wir spüren sein Morgengctränm (!) in der Formenanmut der Palme,
im Duft und der Farbenpracht der Lilien und Rosen, sein Erwachen zu heiterm
Kinderspiel und jauchzender Lebenslust in der flinken Behendigkeit des zierlichen
Gazellcngeschlechts, im meisterlichen Fluge der Schwalbe, im Gcflöte der Amsel,
und im reich gemodelten Liede der Nachtigall. Hinter unsrer Stirn endlich ent¬
sinne sich der erdvermählte Gottestcil seiner Herkunft und erobert sich Kunst
und Erkenntnis im Kampf mit dem Leide. Mit dem erwachenden Bewußtsein
urständlicher (!) Allwissenheit und Allmacht arbeitet er sich in derjenigen großen
Familie des Menschengeschlechtes, der ihre Gotteskindschaft offenbar geworden
ist, aus der freiwillig Übernommellen Passion der Knechtschaft zur Freiheit
empor und weiter auf der Bahn, all deren fernem Ziel er den Thron der
Erdengottheit besteigen will."

Die Umwandlung der trcugläubigen Katholikin in eine Scbaldicmerin be¬
greiflich zu veranschaulichen hat sich Jordan wenig Mühe gegeben. Genug, daß
die fleißig aufhorchende Hildcgardc sich in Arnulf verliebt, nachdem das Bild
Ulrichs in ihr verblaßt ist; daß die wunderbare Rettung der kleinen Gesellschaft
aus der Todesgefahr eines Schiffbruchs, an der Umriss Umsicht das Haupt¬
verdienst hatte, und dann eine treue Pflege des infolge dieser Anstrengungen
erkrankten geliebten Mannes die Liebe der jungen Gräfin zu ihm zu dem
Entschlüsse steigerte, nur ihm und keinem andern anzugehören. Indes be¬
nahm sich Arnulf, trotz der völligen Zustimmung des Grafen, trotz seiner
eignen heimlichen Leidenschaft merkwürdig reservirt. Aus den Briefen seines
Bruders in Oderburg wußte er nämlich von dessen Liebe zu Hildegarde, und
diese ihm als wohlzubereitete Braut nach Europa zurückzubringen ist sein ganzes
Trachten. Aber höchst amüsanterweise hatte Ulrich in der Heimat einen ganz
ähnlichen Plan auf die Rückkehr des Bruders gebaut; er hatte mich ein schönes


Die Sebalds.

Ich will mich vergessen und mich meiner allmählich wieder entsinnen. Ich will
mich vergnügen, indem ich mich selbst in die Unendlichkeit ausstreue und langsam
wieder suche.« Er löste sich in tausend Billionen mal soviele Teile, als wir
Sonnen am Himmel aufglimmen sehen. Von seinem Willen beschwingt flogen
die Gvttesatome, deren jedes das rechte Maß aller seiner Eigenschaften enthielt,
ausgesät hinaus in den Raum und hinein in die regungslos ringsum schwebenden
Staubwolken toten Stoffes. Da begannen sie belebt zu kreiseln in Schnecken¬
linien; da ballten sie sich zu Sonnen und umrvllendcn Planeten. Draußen in
Himmelsfernen gewahren wir wenig mehr von ihm, als den auch schlasgefangcn
noch wirkenden Willen. Wir nennen ihn das Gesetz der Bewegungen. Etwas
kennen wir das Aufkeimen und das Wachstum nur von dem Tausendbillionstel,
welches wiederum tausendfach verteilt dem Staube einverleibt ward, aus dein
sich unsre Erde gesammelt, dieser wüizige, aber unzweifelhaft vor Hunderten
andrer Weltkörper zur Muttergvttesschaft ersprießlich veranlagte (!) Himmelssteru.
Wir sangen an, einige Abschnitte seiner Leidens- und Erlösungsgeschichte lesen
zu lernen. Wir spüren sein Morgengctränm (!) in der Formenanmut der Palme,
im Duft und der Farbenpracht der Lilien und Rosen, sein Erwachen zu heiterm
Kinderspiel und jauchzender Lebenslust in der flinken Behendigkeit des zierlichen
Gazellcngeschlechts, im meisterlichen Fluge der Schwalbe, im Gcflöte der Amsel,
und im reich gemodelten Liede der Nachtigall. Hinter unsrer Stirn endlich ent¬
sinne sich der erdvermählte Gottestcil seiner Herkunft und erobert sich Kunst
und Erkenntnis im Kampf mit dem Leide. Mit dem erwachenden Bewußtsein
urständlicher (!) Allwissenheit und Allmacht arbeitet er sich in derjenigen großen
Familie des Menschengeschlechtes, der ihre Gotteskindschaft offenbar geworden
ist, aus der freiwillig Übernommellen Passion der Knechtschaft zur Freiheit
empor und weiter auf der Bahn, all deren fernem Ziel er den Thron der
Erdengottheit besteigen will."

Die Umwandlung der trcugläubigen Katholikin in eine Scbaldicmerin be¬
greiflich zu veranschaulichen hat sich Jordan wenig Mühe gegeben. Genug, daß
die fleißig aufhorchende Hildcgardc sich in Arnulf verliebt, nachdem das Bild
Ulrichs in ihr verblaßt ist; daß die wunderbare Rettung der kleinen Gesellschaft
aus der Todesgefahr eines Schiffbruchs, an der Umriss Umsicht das Haupt¬
verdienst hatte, und dann eine treue Pflege des infolge dieser Anstrengungen
erkrankten geliebten Mannes die Liebe der jungen Gräfin zu ihm zu dem
Entschlüsse steigerte, nur ihm und keinem andern anzugehören. Indes be¬
nahm sich Arnulf, trotz der völligen Zustimmung des Grafen, trotz seiner
eignen heimlichen Leidenschaft merkwürdig reservirt. Aus den Briefen seines
Bruders in Oderburg wußte er nämlich von dessen Liebe zu Hildegarde, und
diese ihm als wohlzubereitete Braut nach Europa zurückzubringen ist sein ganzes
Trachten. Aber höchst amüsanterweise hatte Ulrich in der Heimat einen ganz
ähnlichen Plan auf die Rückkehr des Bruders gebaut; er hatte mich ein schönes


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[0041] Die Sebalds. Ich will mich vergessen und mich meiner allmählich wieder entsinnen. Ich will mich vergnügen, indem ich mich selbst in die Unendlichkeit ausstreue und langsam wieder suche.« Er löste sich in tausend Billionen mal soviele Teile, als wir Sonnen am Himmel aufglimmen sehen. Von seinem Willen beschwingt flogen die Gvttesatome, deren jedes das rechte Maß aller seiner Eigenschaften enthielt, ausgesät hinaus in den Raum und hinein in die regungslos ringsum schwebenden Staubwolken toten Stoffes. Da begannen sie belebt zu kreiseln in Schnecken¬ linien; da ballten sie sich zu Sonnen und umrvllendcn Planeten. Draußen in Himmelsfernen gewahren wir wenig mehr von ihm, als den auch schlasgefangcn noch wirkenden Willen. Wir nennen ihn das Gesetz der Bewegungen. Etwas kennen wir das Aufkeimen und das Wachstum nur von dem Tausendbillionstel, welches wiederum tausendfach verteilt dem Staube einverleibt ward, aus dein sich unsre Erde gesammelt, dieser wüizige, aber unzweifelhaft vor Hunderten andrer Weltkörper zur Muttergvttesschaft ersprießlich veranlagte (!) Himmelssteru. Wir sangen an, einige Abschnitte seiner Leidens- und Erlösungsgeschichte lesen zu lernen. Wir spüren sein Morgengctränm (!) in der Formenanmut der Palme, im Duft und der Farbenpracht der Lilien und Rosen, sein Erwachen zu heiterm Kinderspiel und jauchzender Lebenslust in der flinken Behendigkeit des zierlichen Gazellcngeschlechts, im meisterlichen Fluge der Schwalbe, im Gcflöte der Amsel, und im reich gemodelten Liede der Nachtigall. Hinter unsrer Stirn endlich ent¬ sinne sich der erdvermählte Gottestcil seiner Herkunft und erobert sich Kunst und Erkenntnis im Kampf mit dem Leide. Mit dem erwachenden Bewußtsein urständlicher (!) Allwissenheit und Allmacht arbeitet er sich in derjenigen großen Familie des Menschengeschlechtes, der ihre Gotteskindschaft offenbar geworden ist, aus der freiwillig Übernommellen Passion der Knechtschaft zur Freiheit empor und weiter auf der Bahn, all deren fernem Ziel er den Thron der Erdengottheit besteigen will." Die Umwandlung der trcugläubigen Katholikin in eine Scbaldicmerin be¬ greiflich zu veranschaulichen hat sich Jordan wenig Mühe gegeben. Genug, daß die fleißig aufhorchende Hildcgardc sich in Arnulf verliebt, nachdem das Bild Ulrichs in ihr verblaßt ist; daß die wunderbare Rettung der kleinen Gesellschaft aus der Todesgefahr eines Schiffbruchs, an der Umriss Umsicht das Haupt¬ verdienst hatte, und dann eine treue Pflege des infolge dieser Anstrengungen erkrankten geliebten Mannes die Liebe der jungen Gräfin zu ihm zu dem Entschlüsse steigerte, nur ihm und keinem andern anzugehören. Indes be¬ nahm sich Arnulf, trotz der völligen Zustimmung des Grafen, trotz seiner eignen heimlichen Leidenschaft merkwürdig reservirt. Aus den Briefen seines Bruders in Oderburg wußte er nämlich von dessen Liebe zu Hildegarde, und diese ihm als wohlzubereitete Braut nach Europa zurückzubringen ist sein ganzes Trachten. Aber höchst amüsanterweise hatte Ulrich in der Heimat einen ganz ähnlichen Plan auf die Rückkehr des Bruders gebaut; er hatte mich ein schönes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/41>, abgerufen am 22.07.2024.