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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

nicht die geringste Bedeutung." Bemerkenswert ist, was Turgenjew über die
"Tendenz" in der russischen Kunst sagt. Die "Gesellschaft russischer Künstler"
in Paris, deren Sekretär Turgenjew war, beabsichtigte im Jahre 1883 eine
Ausstellung russischer Gemälde in Paris zu veranstalten. Turgenjew schreibt
bei dieser Gelegenheit an den Maler I. N. Kramskoj, der die Auswahl der
Gemälde in Rußland besorgen sollte: "Es ist nicht zu bezweifeln, daß die
französische Gesellschaft sich für die russische Kunst interessirt, seit dieselbe
Selbständigkeit und Originalität zeigt, also russisch, volkstümlich geworden ist.
Dasselbe war in Frankreich mit unsrer Literatur der Fall. Aber eben dieser
Umstand verpflichtet uns, bei der Auswahl mit besondrer Strenge und Partei-
lostgkeit vorzugehen. Solche Erzeugnisse unsrer Schule, in denen sich tendenziöse
Markirungen irgendwelcher Art aussprechen (das gewöhnliche Kennzeichen aller
jugendlichen, unreifen Werke) müssen, als unfreie Produkte unsers Volkslebens,
ausgeschieden werden. Dieses Trumpfausspielen, dieses Renommiren mit der
Selbständigkeit, das zumeist mit einer schwächlichen Technik verbunden ist und
als Ersatz für eine bessere gelten soll, fällt sogleich in die Augen und kühlt
das europäische Publikum ab, bei dem lange Übung den Geschmack und das
Gefühl für Falsches und Richtiges entwickelt hat. Als rühmliche Muster nenne
ich Ihnen RePins "Burlaki" (Wolgaschiffcr) und die Bilder Wereschtschagins,
die in Paris einen großen Erfolg hatten, während andre "volkstümliche" Bilder
russischer Maler ein volles Fiasko erlitten. Die Tendenz in der Kunst, in der
Poesie u. f. w. ist schon durch ihren Namen gerichtet: sie ist Streben nach einem
Ziel, nicht Erreichung desselben, nicht Vollendung."

Von den Grundsätzen, die wir hier ausgesprochen finden, ist Turgenjew in
seiner künstlerischen Praxis niemals abgewichen. In einer Epoche, die geradezu
als tendenzkrank bezeichnet werden muß, war das keine leichte Aufgabe. So
lauge die Schöpfungen des Dichters der Tendenz nicht in den Weg traten,
sondern im Gegenteil die Ziele derselben zu fördern schienen, war Iwan Turgenjew
der gefeierte Liebling des russischen Volkes, der würdige Nachfolger Puschkins,
Lermontows und Gogols. Da erschien auf einmal, im Jahre 1862, als die
Wogen am höchsten gingen, ans derselben Feder, die das "Tagebuch eines
Jägers" geschrieben hatte, der berühmte soziale Roman "Väter und Söhne."
Zum erstenmale wagte hier ein besonnener, wohlwollender Beobachter das frei¬
heitsberauschte junge Rußland auf der schiefen Ebene zurückzuhalten, auf der
sich seine jähe Entwicklung vollzog. Nicht zur Umkehr wollte er mahnen, sondern
zur Besinnung, zur Selbstkritik, zur Schonung der kostbaren jugendlichen Kräfte,
die geradezu vergeudet und verschleudert wurden. Die wohlgemeinte Absicht
ward mißverstanden. Turgenjew und die Russen der schiefen Ebene waren
fortan geschiedne Leute.

Das Vierteljahrhundert, das zwischen dem Regierungsantritt Alexanders
des Zweiten und seinem Tode liegt, ist wohl die merkwürdigste Etappe


Iwan Turgenjew in seinen Briefen.

nicht die geringste Bedeutung." Bemerkenswert ist, was Turgenjew über die
„Tendenz" in der russischen Kunst sagt. Die „Gesellschaft russischer Künstler"
in Paris, deren Sekretär Turgenjew war, beabsichtigte im Jahre 1883 eine
Ausstellung russischer Gemälde in Paris zu veranstalten. Turgenjew schreibt
bei dieser Gelegenheit an den Maler I. N. Kramskoj, der die Auswahl der
Gemälde in Rußland besorgen sollte: „Es ist nicht zu bezweifeln, daß die
französische Gesellschaft sich für die russische Kunst interessirt, seit dieselbe
Selbständigkeit und Originalität zeigt, also russisch, volkstümlich geworden ist.
Dasselbe war in Frankreich mit unsrer Literatur der Fall. Aber eben dieser
Umstand verpflichtet uns, bei der Auswahl mit besondrer Strenge und Partei-
lostgkeit vorzugehen. Solche Erzeugnisse unsrer Schule, in denen sich tendenziöse
Markirungen irgendwelcher Art aussprechen (das gewöhnliche Kennzeichen aller
jugendlichen, unreifen Werke) müssen, als unfreie Produkte unsers Volkslebens,
ausgeschieden werden. Dieses Trumpfausspielen, dieses Renommiren mit der
Selbständigkeit, das zumeist mit einer schwächlichen Technik verbunden ist und
als Ersatz für eine bessere gelten soll, fällt sogleich in die Augen und kühlt
das europäische Publikum ab, bei dem lange Übung den Geschmack und das
Gefühl für Falsches und Richtiges entwickelt hat. Als rühmliche Muster nenne
ich Ihnen RePins „Burlaki" (Wolgaschiffcr) und die Bilder Wereschtschagins,
die in Paris einen großen Erfolg hatten, während andre „volkstümliche" Bilder
russischer Maler ein volles Fiasko erlitten. Die Tendenz in der Kunst, in der
Poesie u. f. w. ist schon durch ihren Namen gerichtet: sie ist Streben nach einem
Ziel, nicht Erreichung desselben, nicht Vollendung."

Von den Grundsätzen, die wir hier ausgesprochen finden, ist Turgenjew in
seiner künstlerischen Praxis niemals abgewichen. In einer Epoche, die geradezu
als tendenzkrank bezeichnet werden muß, war das keine leichte Aufgabe. So
lauge die Schöpfungen des Dichters der Tendenz nicht in den Weg traten,
sondern im Gegenteil die Ziele derselben zu fördern schienen, war Iwan Turgenjew
der gefeierte Liebling des russischen Volkes, der würdige Nachfolger Puschkins,
Lermontows und Gogols. Da erschien auf einmal, im Jahre 1862, als die
Wogen am höchsten gingen, ans derselben Feder, die das „Tagebuch eines
Jägers" geschrieben hatte, der berühmte soziale Roman „Väter und Söhne."
Zum erstenmale wagte hier ein besonnener, wohlwollender Beobachter das frei¬
heitsberauschte junge Rußland auf der schiefen Ebene zurückzuhalten, auf der
sich seine jähe Entwicklung vollzog. Nicht zur Umkehr wollte er mahnen, sondern
zur Besinnung, zur Selbstkritik, zur Schonung der kostbaren jugendlichen Kräfte,
die geradezu vergeudet und verschleudert wurden. Die wohlgemeinte Absicht
ward mißverstanden. Turgenjew und die Russen der schiefen Ebene waren
fortan geschiedne Leute.

Das Vierteljahrhundert, das zwischen dem Regierungsantritt Alexanders
des Zweiten und seinem Tode liegt, ist wohl die merkwürdigste Etappe


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[0408] Iwan Turgenjew in seinen Briefen. nicht die geringste Bedeutung." Bemerkenswert ist, was Turgenjew über die „Tendenz" in der russischen Kunst sagt. Die „Gesellschaft russischer Künstler" in Paris, deren Sekretär Turgenjew war, beabsichtigte im Jahre 1883 eine Ausstellung russischer Gemälde in Paris zu veranstalten. Turgenjew schreibt bei dieser Gelegenheit an den Maler I. N. Kramskoj, der die Auswahl der Gemälde in Rußland besorgen sollte: „Es ist nicht zu bezweifeln, daß die französische Gesellschaft sich für die russische Kunst interessirt, seit dieselbe Selbständigkeit und Originalität zeigt, also russisch, volkstümlich geworden ist. Dasselbe war in Frankreich mit unsrer Literatur der Fall. Aber eben dieser Umstand verpflichtet uns, bei der Auswahl mit besondrer Strenge und Partei- lostgkeit vorzugehen. Solche Erzeugnisse unsrer Schule, in denen sich tendenziöse Markirungen irgendwelcher Art aussprechen (das gewöhnliche Kennzeichen aller jugendlichen, unreifen Werke) müssen, als unfreie Produkte unsers Volkslebens, ausgeschieden werden. Dieses Trumpfausspielen, dieses Renommiren mit der Selbständigkeit, das zumeist mit einer schwächlichen Technik verbunden ist und als Ersatz für eine bessere gelten soll, fällt sogleich in die Augen und kühlt das europäische Publikum ab, bei dem lange Übung den Geschmack und das Gefühl für Falsches und Richtiges entwickelt hat. Als rühmliche Muster nenne ich Ihnen RePins „Burlaki" (Wolgaschiffcr) und die Bilder Wereschtschagins, die in Paris einen großen Erfolg hatten, während andre „volkstümliche" Bilder russischer Maler ein volles Fiasko erlitten. Die Tendenz in der Kunst, in der Poesie u. f. w. ist schon durch ihren Namen gerichtet: sie ist Streben nach einem Ziel, nicht Erreichung desselben, nicht Vollendung." Von den Grundsätzen, die wir hier ausgesprochen finden, ist Turgenjew in seiner künstlerischen Praxis niemals abgewichen. In einer Epoche, die geradezu als tendenzkrank bezeichnet werden muß, war das keine leichte Aufgabe. So lauge die Schöpfungen des Dichters der Tendenz nicht in den Weg traten, sondern im Gegenteil die Ziele derselben zu fördern schienen, war Iwan Turgenjew der gefeierte Liebling des russischen Volkes, der würdige Nachfolger Puschkins, Lermontows und Gogols. Da erschien auf einmal, im Jahre 1862, als die Wogen am höchsten gingen, ans derselben Feder, die das „Tagebuch eines Jägers" geschrieben hatte, der berühmte soziale Roman „Väter und Söhne." Zum erstenmale wagte hier ein besonnener, wohlwollender Beobachter das frei¬ heitsberauschte junge Rußland auf der schiefen Ebene zurückzuhalten, auf der sich seine jähe Entwicklung vollzog. Nicht zur Umkehr wollte er mahnen, sondern zur Besinnung, zur Selbstkritik, zur Schonung der kostbaren jugendlichen Kräfte, die geradezu vergeudet und verschleudert wurden. Die wohlgemeinte Absicht ward mißverstanden. Turgenjew und die Russen der schiefen Ebene waren fortan geschiedne Leute. Das Vierteljahrhundert, das zwischen dem Regierungsantritt Alexanders des Zweiten und seinem Tode liegt, ist wohl die merkwürdigste Etappe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/408>, abgerufen am 22.07.2024.