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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Vie Schnitts.

Ende war, daß Ulrich vor das Odenburger Konsistorium, ein Kollegium ganz
orthodoxer, bornirter und streberhafter Theologen, zu einem Colloquium geladen
wurde, wobei er aus seinen die Dogmen umbildenden und auf ihren eigentlichen
Gehalt reduzirenden Lehren kein Hehl machte und natürlich das Amt aufgeben
mußte. Er will dann, das ist Jordans Stiftertum, eine neue Gemeinde bilden,
die sich aus den begeisterten Zuhörern feiner Predigten rekrutirt.

Der Jesuit Marpinger hat ein ganz besondres Interesse, gegen den Pastor
Sebald mitzuintriguiren. Der strenge Katholizismus der Grafen von Sebalds-
heim drohte erschüttert zu werden, und der Kirche drohten viele Einkünfte da¬
durch zu entgehen. Auch daran trug der Pastor die Schuld. Auf einer Er¬
holungsreise in die Schweiz, nach dem Tode seiner jungen Frau, lernte Ulrich
den Grafen Udo von Sebaldsheim und dessen schöne junge Tochter Hildegarde
kenne". Auch diese beiden befanden sich in Trauer um den vor zwei Jahren
verstorbenen Sohn und Bruder Lothar, den einzigen Majoratserbcn. Die
verblüffende Ähnlichkeit zwischen Ulrich und dem Verstorbenen (siehe Ver¬
erbung nach Darwin) gab den Anknüpfungspunkt der Bekanntschaft. Indes
war Hildegarde sehr verstimmt, ferner auch streng gläubig, trotz der welt¬
männischen Skepsis ihres Vaters, sodaß Ulrich erst dann in ein näheres
Verhältnis zu ihr treten konnte, als er sie aus Todesnot wunderbar ge¬
rettet hatte. Die abergläubische Hildegarde, sonst männerscheu, da sie in jedem
Freier einen Spekulanten auf ihr nunmehr reiches Erbe erblickt, hält die Ret¬
tung durch Ulrich für einen Wink der Mutter Gottes von Einsiedeln, bei der
sie sich eben befinden, und ist, schnell verliebt, entschlossen, ihn zu heiraten.
Noch sind aber die Schwierigkeiten wegen der konfessionellen Gegensätze zu groß,
um diese Verbindung wünschenswert zu machen. Ulrich beginnt vorläufig damit,
sie über ihren kindlichen Wunderglauben aufzuklären und ihr eine geläu-
tertcre Ansicht von der Natur beizubringen. Nach der Trennung und Heim¬
kehr gelangen diese Vorfälle und Einflüsse auf die Grafentochter zur Kenntnis
der Jesuiten, die schnell einen Feldzug zum Schutze des drohenden Terrain-
Verlustes eröffnen. (Die Grafen von Sebaldsheim sind die einzigen Katholiken
der Gegend.) Zunächst wird Hildegarden die "Geschichte des deutschen Volkes"
von Professor Marpinger zur Lektüre gereicht; dann kommt dieser selbst aufs
Schloß, um den Unterricht fortzusetzen, Ulrich mit den eignen Waffen der Na¬
turwissenschaften zu bekämpfen.

Es ist bekannt, welche geschäftige Thätigkeit die Jesuiten jetzt auf den Ge¬
bieten aller modernen Wissenschaften entfalten, um die voraussetzungslose freie
Forschung durch Fälschung ihrer Resultate zu bekämpfen. Diese Bestrebungen
hat Jordan in seinem Professor Marpinger vereinigt vorgeführt, und speziell
hat ihm offenbar Johannes Jenssen dazu Porträt gesessen. Sehr treffend läßt
er sich über Marpingers. d. h. Janssens Geschichtswerk aus: "Je deutlicher
Ulan erkennt, daß der Verfasser keine der Quellenschriften undurchforscht gelassen


Vie Schnitts.

Ende war, daß Ulrich vor das Odenburger Konsistorium, ein Kollegium ganz
orthodoxer, bornirter und streberhafter Theologen, zu einem Colloquium geladen
wurde, wobei er aus seinen die Dogmen umbildenden und auf ihren eigentlichen
Gehalt reduzirenden Lehren kein Hehl machte und natürlich das Amt aufgeben
mußte. Er will dann, das ist Jordans Stiftertum, eine neue Gemeinde bilden,
die sich aus den begeisterten Zuhörern feiner Predigten rekrutirt.

Der Jesuit Marpinger hat ein ganz besondres Interesse, gegen den Pastor
Sebald mitzuintriguiren. Der strenge Katholizismus der Grafen von Sebalds-
heim drohte erschüttert zu werden, und der Kirche drohten viele Einkünfte da¬
durch zu entgehen. Auch daran trug der Pastor die Schuld. Auf einer Er¬
holungsreise in die Schweiz, nach dem Tode seiner jungen Frau, lernte Ulrich
den Grafen Udo von Sebaldsheim und dessen schöne junge Tochter Hildegarde
kenne». Auch diese beiden befanden sich in Trauer um den vor zwei Jahren
verstorbenen Sohn und Bruder Lothar, den einzigen Majoratserbcn. Die
verblüffende Ähnlichkeit zwischen Ulrich und dem Verstorbenen (siehe Ver¬
erbung nach Darwin) gab den Anknüpfungspunkt der Bekanntschaft. Indes
war Hildegarde sehr verstimmt, ferner auch streng gläubig, trotz der welt¬
männischen Skepsis ihres Vaters, sodaß Ulrich erst dann in ein näheres
Verhältnis zu ihr treten konnte, als er sie aus Todesnot wunderbar ge¬
rettet hatte. Die abergläubische Hildegarde, sonst männerscheu, da sie in jedem
Freier einen Spekulanten auf ihr nunmehr reiches Erbe erblickt, hält die Ret¬
tung durch Ulrich für einen Wink der Mutter Gottes von Einsiedeln, bei der
sie sich eben befinden, und ist, schnell verliebt, entschlossen, ihn zu heiraten.
Noch sind aber die Schwierigkeiten wegen der konfessionellen Gegensätze zu groß,
um diese Verbindung wünschenswert zu machen. Ulrich beginnt vorläufig damit,
sie über ihren kindlichen Wunderglauben aufzuklären und ihr eine geläu-
tertcre Ansicht von der Natur beizubringen. Nach der Trennung und Heim¬
kehr gelangen diese Vorfälle und Einflüsse auf die Grafentochter zur Kenntnis
der Jesuiten, die schnell einen Feldzug zum Schutze des drohenden Terrain-
Verlustes eröffnen. (Die Grafen von Sebaldsheim sind die einzigen Katholiken
der Gegend.) Zunächst wird Hildegarden die „Geschichte des deutschen Volkes"
von Professor Marpinger zur Lektüre gereicht; dann kommt dieser selbst aufs
Schloß, um den Unterricht fortzusetzen, Ulrich mit den eignen Waffen der Na¬
turwissenschaften zu bekämpfen.

Es ist bekannt, welche geschäftige Thätigkeit die Jesuiten jetzt auf den Ge¬
bieten aller modernen Wissenschaften entfalten, um die voraussetzungslose freie
Forschung durch Fälschung ihrer Resultate zu bekämpfen. Diese Bestrebungen
hat Jordan in seinem Professor Marpinger vereinigt vorgeführt, und speziell
hat ihm offenbar Johannes Jenssen dazu Porträt gesessen. Sehr treffend läßt
er sich über Marpingers. d. h. Janssens Geschichtswerk aus: „Je deutlicher
Ulan erkennt, daß der Verfasser keine der Quellenschriften undurchforscht gelassen


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[0039] Vie Schnitts. Ende war, daß Ulrich vor das Odenburger Konsistorium, ein Kollegium ganz orthodoxer, bornirter und streberhafter Theologen, zu einem Colloquium geladen wurde, wobei er aus seinen die Dogmen umbildenden und auf ihren eigentlichen Gehalt reduzirenden Lehren kein Hehl machte und natürlich das Amt aufgeben mußte. Er will dann, das ist Jordans Stiftertum, eine neue Gemeinde bilden, die sich aus den begeisterten Zuhörern feiner Predigten rekrutirt. Der Jesuit Marpinger hat ein ganz besondres Interesse, gegen den Pastor Sebald mitzuintriguiren. Der strenge Katholizismus der Grafen von Sebalds- heim drohte erschüttert zu werden, und der Kirche drohten viele Einkünfte da¬ durch zu entgehen. Auch daran trug der Pastor die Schuld. Auf einer Er¬ holungsreise in die Schweiz, nach dem Tode seiner jungen Frau, lernte Ulrich den Grafen Udo von Sebaldsheim und dessen schöne junge Tochter Hildegarde kenne». Auch diese beiden befanden sich in Trauer um den vor zwei Jahren verstorbenen Sohn und Bruder Lothar, den einzigen Majoratserbcn. Die verblüffende Ähnlichkeit zwischen Ulrich und dem Verstorbenen (siehe Ver¬ erbung nach Darwin) gab den Anknüpfungspunkt der Bekanntschaft. Indes war Hildegarde sehr verstimmt, ferner auch streng gläubig, trotz der welt¬ männischen Skepsis ihres Vaters, sodaß Ulrich erst dann in ein näheres Verhältnis zu ihr treten konnte, als er sie aus Todesnot wunderbar ge¬ rettet hatte. Die abergläubische Hildegarde, sonst männerscheu, da sie in jedem Freier einen Spekulanten auf ihr nunmehr reiches Erbe erblickt, hält die Ret¬ tung durch Ulrich für einen Wink der Mutter Gottes von Einsiedeln, bei der sie sich eben befinden, und ist, schnell verliebt, entschlossen, ihn zu heiraten. Noch sind aber die Schwierigkeiten wegen der konfessionellen Gegensätze zu groß, um diese Verbindung wünschenswert zu machen. Ulrich beginnt vorläufig damit, sie über ihren kindlichen Wunderglauben aufzuklären und ihr eine geläu- tertcre Ansicht von der Natur beizubringen. Nach der Trennung und Heim¬ kehr gelangen diese Vorfälle und Einflüsse auf die Grafentochter zur Kenntnis der Jesuiten, die schnell einen Feldzug zum Schutze des drohenden Terrain- Verlustes eröffnen. (Die Grafen von Sebaldsheim sind die einzigen Katholiken der Gegend.) Zunächst wird Hildegarden die „Geschichte des deutschen Volkes" von Professor Marpinger zur Lektüre gereicht; dann kommt dieser selbst aufs Schloß, um den Unterricht fortzusetzen, Ulrich mit den eignen Waffen der Na¬ turwissenschaften zu bekämpfen. Es ist bekannt, welche geschäftige Thätigkeit die Jesuiten jetzt auf den Ge¬ bieten aller modernen Wissenschaften entfalten, um die voraussetzungslose freie Forschung durch Fälschung ihrer Resultate zu bekämpfen. Diese Bestrebungen hat Jordan in seinem Professor Marpinger vereinigt vorgeführt, und speziell hat ihm offenbar Johannes Jenssen dazu Porträt gesessen. Sehr treffend läßt er sich über Marpingers. d. h. Janssens Geschichtswerk aus: „Je deutlicher Ulan erkennt, daß der Verfasser keine der Quellenschriften undurchforscht gelassen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/39>, abgerufen am 22.07.2024.