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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Um eine perle.

ein Traum gewesen sei, verblaßt, und auch Pater Vigilio, zu welchem sie
in ihrer Herzensangst noch einigemale ihre Zuflucht nahm, hatte ihr endlich
geraten, sich einzig durch die innere Stimme in ihren weiteren Schritten
leiten zu lassen und den Verheißungen des Traumes fürder nicht mehr nach¬
zugrübeln.

Die innere Stimme rief ihr aber täglich lauter und immer lauter zu:
Opfere dich, indem du widerrufst, und nimm alle Folgen auf dein Haupt.
Kindespflicht ist die oberste aller Pflichten.

Und so beschloß sie es denn.

Wenn man um die Ecke der Contrada ti Sant' Agnese biegt, erblickt man
die hente rauchgeschwärzte, damals noch leidlich stattliche Torre dellci Gabvia,
an welcher in halber Höhe ein eiserner Käfig hängt, heute rostig und bemoost,
damals noch blank und glitzernd und voll weißgebleichtcr Knochen, deren manche
von den Geiern und Falken durch die verbogenen Gitter des Käfigs halb
herausgezerrt worden waren.

Das heutige Mantua weiß nur noch sagenhaftes von diesem Käfig zu
erzählen, aber zur Zeit des letzten Buonacolsi hatte die Geschichte von der
schönen Luigia Berlotti noch die nämliche Farbenfrische wie Turm und Käfig
selbst, und zumal der alte öffentliche Schreiber, der unter seinem großen safran¬
gelben Sonnenschirme vor der Kirche der heiligen Agnese saß und ans seinem
dreibeinigen Tische für ein Billiges in Prosa wie in Versen Liebesbriefe, Gra¬
tulationen und Bittgesuche fertigte, wartete seinen Kunden, während er je nach¬
dem brennende Herzen, Kronen und Kränze oder auch gefaltete Hände unter
seine Schriftstücke zirkelte, fast regelmäßig mit der traurigen Legende auf.

Es war heißer Mittag, als den Schlummer des über seiner Streusandbüchse
und seinen Gänsekielen eingenickten Alten ein Rütteln an seiner Schulter ver¬
scheuchte. Blaß und mit stieren Augen stand ein junges, schwarzgekleidetes
Frauenzimmer vor ihm.

Verzeiht die Störung, bat sie mit zitternder Lippe, ich habe Eile.
schreibet.

Und ohne dem an leidenschaftliche Überfälle dieser Art gewöhnten Alten
Zeit zu lassen, sein Küppchcn zurecht zu rücken und seine krumme Nase mit der
messingenen Kncifbrille zu satteln, begann sie bebenden Tones zu diktiren:

"Signor Andrea Primoticciv, ich ermächtige Euch hierdurch, meine Aussage
feierlichst zu widerufen. Florida."

?ikmo, xmno, Signora, bat der alte Schreiber, indem er die Feder ein¬
tauchte und zu schreiben anhob; Ihr sagtet: Signor Andrea. . .

Florida wiederholte mit auf das Herz gepreßter Hand langsamer den
Wortlaut des Diktats, und nach einigen ihr endlos dünkenden Minuten war
das Schriftstück bis auf die Unterschrift fertig.

Ihr könnt wohl Euern Namen nicht selbst schreiben, Signora? fragte der


Grenzboten II. 188S, 48
Um eine perle.

ein Traum gewesen sei, verblaßt, und auch Pater Vigilio, zu welchem sie
in ihrer Herzensangst noch einigemale ihre Zuflucht nahm, hatte ihr endlich
geraten, sich einzig durch die innere Stimme in ihren weiteren Schritten
leiten zu lassen und den Verheißungen des Traumes fürder nicht mehr nach¬
zugrübeln.

Die innere Stimme rief ihr aber täglich lauter und immer lauter zu:
Opfere dich, indem du widerrufst, und nimm alle Folgen auf dein Haupt.
Kindespflicht ist die oberste aller Pflichten.

Und so beschloß sie es denn.

Wenn man um die Ecke der Contrada ti Sant' Agnese biegt, erblickt man
die hente rauchgeschwärzte, damals noch leidlich stattliche Torre dellci Gabvia,
an welcher in halber Höhe ein eiserner Käfig hängt, heute rostig und bemoost,
damals noch blank und glitzernd und voll weißgebleichtcr Knochen, deren manche
von den Geiern und Falken durch die verbogenen Gitter des Käfigs halb
herausgezerrt worden waren.

Das heutige Mantua weiß nur noch sagenhaftes von diesem Käfig zu
erzählen, aber zur Zeit des letzten Buonacolsi hatte die Geschichte von der
schönen Luigia Berlotti noch die nämliche Farbenfrische wie Turm und Käfig
selbst, und zumal der alte öffentliche Schreiber, der unter seinem großen safran¬
gelben Sonnenschirme vor der Kirche der heiligen Agnese saß und ans seinem
dreibeinigen Tische für ein Billiges in Prosa wie in Versen Liebesbriefe, Gra¬
tulationen und Bittgesuche fertigte, wartete seinen Kunden, während er je nach¬
dem brennende Herzen, Kronen und Kränze oder auch gefaltete Hände unter
seine Schriftstücke zirkelte, fast regelmäßig mit der traurigen Legende auf.

Es war heißer Mittag, als den Schlummer des über seiner Streusandbüchse
und seinen Gänsekielen eingenickten Alten ein Rütteln an seiner Schulter ver¬
scheuchte. Blaß und mit stieren Augen stand ein junges, schwarzgekleidetes
Frauenzimmer vor ihm.

Verzeiht die Störung, bat sie mit zitternder Lippe, ich habe Eile.
schreibet.

Und ohne dem an leidenschaftliche Überfälle dieser Art gewöhnten Alten
Zeit zu lassen, sein Küppchcn zurecht zu rücken und seine krumme Nase mit der
messingenen Kncifbrille zu satteln, begann sie bebenden Tones zu diktiren:

„Signor Andrea Primoticciv, ich ermächtige Euch hierdurch, meine Aussage
feierlichst zu widerufen. Florida."

?ikmo, xmno, Signora, bat der alte Schreiber, indem er die Feder ein¬
tauchte und zu schreiben anhob; Ihr sagtet: Signor Andrea. . .

Florida wiederholte mit auf das Herz gepreßter Hand langsamer den
Wortlaut des Diktats, und nach einigen ihr endlos dünkenden Minuten war
das Schriftstück bis auf die Unterschrift fertig.

Ihr könnt wohl Euern Namen nicht selbst schreiben, Signora? fragte der


Grenzboten II. 188S, 48
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[0382] Um eine perle. ein Traum gewesen sei, verblaßt, und auch Pater Vigilio, zu welchem sie in ihrer Herzensangst noch einigemale ihre Zuflucht nahm, hatte ihr endlich geraten, sich einzig durch die innere Stimme in ihren weiteren Schritten leiten zu lassen und den Verheißungen des Traumes fürder nicht mehr nach¬ zugrübeln. Die innere Stimme rief ihr aber täglich lauter und immer lauter zu: Opfere dich, indem du widerrufst, und nimm alle Folgen auf dein Haupt. Kindespflicht ist die oberste aller Pflichten. Und so beschloß sie es denn. Wenn man um die Ecke der Contrada ti Sant' Agnese biegt, erblickt man die hente rauchgeschwärzte, damals noch leidlich stattliche Torre dellci Gabvia, an welcher in halber Höhe ein eiserner Käfig hängt, heute rostig und bemoost, damals noch blank und glitzernd und voll weißgebleichtcr Knochen, deren manche von den Geiern und Falken durch die verbogenen Gitter des Käfigs halb herausgezerrt worden waren. Das heutige Mantua weiß nur noch sagenhaftes von diesem Käfig zu erzählen, aber zur Zeit des letzten Buonacolsi hatte die Geschichte von der schönen Luigia Berlotti noch die nämliche Farbenfrische wie Turm und Käfig selbst, und zumal der alte öffentliche Schreiber, der unter seinem großen safran¬ gelben Sonnenschirme vor der Kirche der heiligen Agnese saß und ans seinem dreibeinigen Tische für ein Billiges in Prosa wie in Versen Liebesbriefe, Gra¬ tulationen und Bittgesuche fertigte, wartete seinen Kunden, während er je nach¬ dem brennende Herzen, Kronen und Kränze oder auch gefaltete Hände unter seine Schriftstücke zirkelte, fast regelmäßig mit der traurigen Legende auf. Es war heißer Mittag, als den Schlummer des über seiner Streusandbüchse und seinen Gänsekielen eingenickten Alten ein Rütteln an seiner Schulter ver¬ scheuchte. Blaß und mit stieren Augen stand ein junges, schwarzgekleidetes Frauenzimmer vor ihm. Verzeiht die Störung, bat sie mit zitternder Lippe, ich habe Eile. schreibet. Und ohne dem an leidenschaftliche Überfälle dieser Art gewöhnten Alten Zeit zu lassen, sein Küppchcn zurecht zu rücken und seine krumme Nase mit der messingenen Kncifbrille zu satteln, begann sie bebenden Tones zu diktiren: „Signor Andrea Primoticciv, ich ermächtige Euch hierdurch, meine Aussage feierlichst zu widerufen. Florida." ?ikmo, xmno, Signora, bat der alte Schreiber, indem er die Feder ein¬ tauchte und zu schreiben anhob; Ihr sagtet: Signor Andrea. . . Florida wiederholte mit auf das Herz gepreßter Hand langsamer den Wortlaut des Diktats, und nach einigen ihr endlos dünkenden Minuten war das Schriftstück bis auf die Unterschrift fertig. Ihr könnt wohl Euern Namen nicht selbst schreiben, Signora? fragte der Grenzboten II. 188S, 48

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/382>, abgerufen am 22.07.2024.