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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Ostpreußische Skizzen.

fünfzig bis sechzig Scheffel und selbst noch darüber ging, bekam ihre Woll-
und Schlachtschafe, und endlich wurde ihr jährlich etwa ein Morgen Kartoffel¬
land und ein Achtel Morgen Flachsland gestellt. Dabei konnte eine Familie
bestehen, und es konnte sich auch ein Anhänglichkeitsgefühl derselben an Gut
und Gutsherrschaft ausbilden. Freilich wollen selbst wohlwollende Besitzer
von letzterm niemals viel bemerkt haben; aber wenn man überhaupt auf eine
soziale Besserung hofft, so bleibt die Gewinnung eines solchen Solidcmtäts-
bewnßtscins doch der einzige Anhaltepunkt, den man für ländliche Verhältnisse
hat. Nun haben sich jedoch in vielen Gegenden der Provinz diese Zustände
vielfach in der Richtung bloßen Gcldlvhnes und bloßen Tagelöhnertums ver^
schlechtert, und diese Entwicklung ist allem Anscheine nach diejenige, welche
die nächste Zukunft für sich hat. Wo die Gutsherrschaft es machen kann, da
wirtschaftet sie lieber mit "freien Arbeitern," d. h. Tagelöhnern, die ja aller¬
dings billiger zu stehen kommen, und wo dies nicht angeht, da setzt sie die
Leute wenigstens statt auf ihre Dreschnuteile auf "Deputate," d. h. auf be¬
stimmte jährliche oder jahreszeitliche Getreidequanta, meist von dreißig bis
vierzig Scheffel für das Jahr und die Familie. Statt der Schafe und des Flachs¬
landes hat man eine Zeit laug "Wollgeld" und "Flachsgeld" gegeben, dann hat
man diese besondern Leistungen in vielen Gegenden allmählich eingehen lassen.
Sehr vielfach besteht übrigens das alte Verhältnis noch so ziemlich fort, und
dann macht ein solches Gut mit seinen zahlreichen Jnsthäusern (große Güter
haben deren bis zu vierzig und fünfzig und mehr -- auf eine Hufe rechnet man
etwas weniger als eine Jnstfamilie) einen sehr stattlichen Eindruck. Aber die
Zerstörung ist schon sehr weit fortgeschritten, und ein Symptom derselben ist
der ungemeine Mangel an Seßhaftigkeit des Arbeiterpersonals. Insbesondre
die Scharwerker sind sozusagen in einer fortwährenden Wanderung begriffen.
Mit diesen unbefriedigender sozialen Verhältnissen hängt wohl auch das in der
Provinz zum wahren Erbübel gewordene Verbrechen der Brandstiftung zu¬
sammen; nirgends kommt dasselbe so massenhaft, man möchte sagen so gewohn¬
heitsmäßig vor wie in Ostpreußen.

Die große Anzahl von Gütern, welche im Besitze von Königsberger, Danziger,
Hamburger Kaufleuten siud, beweist hinlänglich, daß in Ostpreußen mit dem An¬
lauf größerer Güter immer noch ein befriedigendes Geschäft zu machen ist.
Allerdings ist es richtig, daß bei den Ankäufen dieser Art meist die vornehm-
thuerische Absicht, einen adelichen Landsitz zu haben, die Hauptrolle spielt; in¬
dessen sind doch auch Spekulationsküufe vorgekommen und sind unter Um¬
ständen nicht schlecht eingeschlagen. Aber welcherart sind überhaupt die Güterpreise
in Ostpreußen? In liberalen Blättern wird, wie man weiß, viel gefaselt von
zu hohen, notwendig uureutabeln Preisen, und es wird wohl gar versichert, die
ganze "Notlage der Landwirtschaft" habe nur hierin ihren Grund. Es ist in¬
dessen Thatsache, daß man in Ostpreußen annimmt, wenn Gebäude, Vieh und


Ostpreußische Skizzen.

fünfzig bis sechzig Scheffel und selbst noch darüber ging, bekam ihre Woll-
und Schlachtschafe, und endlich wurde ihr jährlich etwa ein Morgen Kartoffel¬
land und ein Achtel Morgen Flachsland gestellt. Dabei konnte eine Familie
bestehen, und es konnte sich auch ein Anhänglichkeitsgefühl derselben an Gut
und Gutsherrschaft ausbilden. Freilich wollen selbst wohlwollende Besitzer
von letzterm niemals viel bemerkt haben; aber wenn man überhaupt auf eine
soziale Besserung hofft, so bleibt die Gewinnung eines solchen Solidcmtäts-
bewnßtscins doch der einzige Anhaltepunkt, den man für ländliche Verhältnisse
hat. Nun haben sich jedoch in vielen Gegenden der Provinz diese Zustände
vielfach in der Richtung bloßen Gcldlvhnes und bloßen Tagelöhnertums ver^
schlechtert, und diese Entwicklung ist allem Anscheine nach diejenige, welche
die nächste Zukunft für sich hat. Wo die Gutsherrschaft es machen kann, da
wirtschaftet sie lieber mit „freien Arbeitern," d. h. Tagelöhnern, die ja aller¬
dings billiger zu stehen kommen, und wo dies nicht angeht, da setzt sie die
Leute wenigstens statt auf ihre Dreschnuteile auf „Deputate," d. h. auf be¬
stimmte jährliche oder jahreszeitliche Getreidequanta, meist von dreißig bis
vierzig Scheffel für das Jahr und die Familie. Statt der Schafe und des Flachs¬
landes hat man eine Zeit laug „Wollgeld" und „Flachsgeld" gegeben, dann hat
man diese besondern Leistungen in vielen Gegenden allmählich eingehen lassen.
Sehr vielfach besteht übrigens das alte Verhältnis noch so ziemlich fort, und
dann macht ein solches Gut mit seinen zahlreichen Jnsthäusern (große Güter
haben deren bis zu vierzig und fünfzig und mehr — auf eine Hufe rechnet man
etwas weniger als eine Jnstfamilie) einen sehr stattlichen Eindruck. Aber die
Zerstörung ist schon sehr weit fortgeschritten, und ein Symptom derselben ist
der ungemeine Mangel an Seßhaftigkeit des Arbeiterpersonals. Insbesondre
die Scharwerker sind sozusagen in einer fortwährenden Wanderung begriffen.
Mit diesen unbefriedigender sozialen Verhältnissen hängt wohl auch das in der
Provinz zum wahren Erbübel gewordene Verbrechen der Brandstiftung zu¬
sammen; nirgends kommt dasselbe so massenhaft, man möchte sagen so gewohn¬
heitsmäßig vor wie in Ostpreußen.

Die große Anzahl von Gütern, welche im Besitze von Königsberger, Danziger,
Hamburger Kaufleuten siud, beweist hinlänglich, daß in Ostpreußen mit dem An¬
lauf größerer Güter immer noch ein befriedigendes Geschäft zu machen ist.
Allerdings ist es richtig, daß bei den Ankäufen dieser Art meist die vornehm-
thuerische Absicht, einen adelichen Landsitz zu haben, die Hauptrolle spielt; in¬
dessen sind doch auch Spekulationsküufe vorgekommen und sind unter Um¬
ständen nicht schlecht eingeschlagen. Aber welcherart sind überhaupt die Güterpreise
in Ostpreußen? In liberalen Blättern wird, wie man weiß, viel gefaselt von
zu hohen, notwendig uureutabeln Preisen, und es wird wohl gar versichert, die
ganze „Notlage der Landwirtschaft" habe nur hierin ihren Grund. Es ist in¬
dessen Thatsache, daß man in Ostpreußen annimmt, wenn Gebäude, Vieh und


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[0346] Ostpreußische Skizzen. fünfzig bis sechzig Scheffel und selbst noch darüber ging, bekam ihre Woll- und Schlachtschafe, und endlich wurde ihr jährlich etwa ein Morgen Kartoffel¬ land und ein Achtel Morgen Flachsland gestellt. Dabei konnte eine Familie bestehen, und es konnte sich auch ein Anhänglichkeitsgefühl derselben an Gut und Gutsherrschaft ausbilden. Freilich wollen selbst wohlwollende Besitzer von letzterm niemals viel bemerkt haben; aber wenn man überhaupt auf eine soziale Besserung hofft, so bleibt die Gewinnung eines solchen Solidcmtäts- bewnßtscins doch der einzige Anhaltepunkt, den man für ländliche Verhältnisse hat. Nun haben sich jedoch in vielen Gegenden der Provinz diese Zustände vielfach in der Richtung bloßen Gcldlvhnes und bloßen Tagelöhnertums ver^ schlechtert, und diese Entwicklung ist allem Anscheine nach diejenige, welche die nächste Zukunft für sich hat. Wo die Gutsherrschaft es machen kann, da wirtschaftet sie lieber mit „freien Arbeitern," d. h. Tagelöhnern, die ja aller¬ dings billiger zu stehen kommen, und wo dies nicht angeht, da setzt sie die Leute wenigstens statt auf ihre Dreschnuteile auf „Deputate," d. h. auf be¬ stimmte jährliche oder jahreszeitliche Getreidequanta, meist von dreißig bis vierzig Scheffel für das Jahr und die Familie. Statt der Schafe und des Flachs¬ landes hat man eine Zeit laug „Wollgeld" und „Flachsgeld" gegeben, dann hat man diese besondern Leistungen in vielen Gegenden allmählich eingehen lassen. Sehr vielfach besteht übrigens das alte Verhältnis noch so ziemlich fort, und dann macht ein solches Gut mit seinen zahlreichen Jnsthäusern (große Güter haben deren bis zu vierzig und fünfzig und mehr — auf eine Hufe rechnet man etwas weniger als eine Jnstfamilie) einen sehr stattlichen Eindruck. Aber die Zerstörung ist schon sehr weit fortgeschritten, und ein Symptom derselben ist der ungemeine Mangel an Seßhaftigkeit des Arbeiterpersonals. Insbesondre die Scharwerker sind sozusagen in einer fortwährenden Wanderung begriffen. Mit diesen unbefriedigender sozialen Verhältnissen hängt wohl auch das in der Provinz zum wahren Erbübel gewordene Verbrechen der Brandstiftung zu¬ sammen; nirgends kommt dasselbe so massenhaft, man möchte sagen so gewohn¬ heitsmäßig vor wie in Ostpreußen. Die große Anzahl von Gütern, welche im Besitze von Königsberger, Danziger, Hamburger Kaufleuten siud, beweist hinlänglich, daß in Ostpreußen mit dem An¬ lauf größerer Güter immer noch ein befriedigendes Geschäft zu machen ist. Allerdings ist es richtig, daß bei den Ankäufen dieser Art meist die vornehm- thuerische Absicht, einen adelichen Landsitz zu haben, die Hauptrolle spielt; in¬ dessen sind doch auch Spekulationsküufe vorgekommen und sind unter Um¬ ständen nicht schlecht eingeschlagen. Aber welcherart sind überhaupt die Güterpreise in Ostpreußen? In liberalen Blättern wird, wie man weiß, viel gefaselt von zu hohen, notwendig uureutabeln Preisen, und es wird wohl gar versichert, die ganze „Notlage der Landwirtschaft" habe nur hierin ihren Grund. Es ist in¬ dessen Thatsache, daß man in Ostpreußen annimmt, wenn Gebäude, Vieh und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/346>, abgerufen am 22.07.2024.