Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Bestrebungen für eine wissenschaftliche Landeskunde Deutschlands.

Bis zum neunten Jahrhundert hatten sich eine Anzahl Siedlungen am
Nordwestfuße und Südwestfuße des Waldes gebildet. Da der Nordwestfuß (in
der Gegend von Lauchrieden) sumpfig ist und die aus engen Schluchten hervor¬
tretende Hörsel das Eindringen in das Gebirge erschwert, so mußte naturgemäß
eine größere Straße diese Nordwestecke abzuschneiden suchen. Daher findet man
denn auch schon früh drei Straßen, welche von der Südwestseite her, von
Berta a. W., Vacha und Satzungen aus, nach demjenigen Teile der Nordost¬
flanke des Gebirges konvergiren, wo das Hörselthal noch nicht so tief ein¬
schneidet; das ist die Gegend der Nassemündung.

Diese Straßen laufen nach einem Punkte aus; aber mit der fortschreitenden
Besiedlung an den Längsseiten des Gebirges macht sich mit der Zeit das Be¬
dürfnis nach Durchbrechung desselben an mehreren Stellen geltend, und so ent¬
stehen fast gleichzeitig drei große Hauptwege: 1. die Schweiuaer Straße aus
der Salzunger Gegend; 2. eine Straße von den bei Schmalkalden ausmündenden
Gebirgsthälern; 3. ein Aufstieg vou Meiningen her über Steinbach-Hallenberg
(der Frankensticg). Diese drei Wege führen von Süd nach Nord quer über
das Gebirge und münden in die Hauptquerstraße ein, welche indes an der
Nordseite des Gebirges in der Richtung Eisenach-Gotha-Erfurt entstanden ist.

In dieser ältesten Zeit der Verkehrsentwicklung vom achten bis zum zwölften
Jahrhundert tritt deutlich die knlturfördernde Bedeutung der christlichen Kirche
hervor. Sie erbaut an den Straßen Klöster lind Klausen, wo der Wanderer
und Kaufmann in einer Zeit, da es noch keine modernen Verpfleguugsstütteu
gab, geistliche und körperliche Stärkung findet. Neben den Sendungen von
Fulda und Hersfeld sind es vorzüglich Prämonstratenser und Wilhelmiter, die
an den Paßübergängen das siegende Kreuz aufpflanzen. Noch heute fragt der
den alten Straßenzügen nachgebende Forscher bei den Leuten nach Ortsbezeich¬
nungen, die auf eine kirchliche Stiftung deuten, und rckonstrnirt denselben fol¬
gend den Verlauf von Verkehrswegen, in denen jetzt wieder der Wald wurzelt.

War einmal ein solcher Weg angebahnt, so erhoben sich bald an den Ein¬
tritts- und Mündungsstellen desselben feste Burgen zum Schutz gegen feindliche
Okkupation; später kam die Anlegung neuer Höfe, Bifänge (Umzciunuugen) und
Weiler hinzu.

Während des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, als nach dem
Untergange der Seeufer vielfach sich kreuzende dynastische Interessen gegen ein¬
ander rangen, bildete sich eine Anzahl Städtchen, welche die des Schutzes be¬
dürftige, aber denselben häufig entbehrende Landbevölkerung an sich lockte und
das Eingehen vieler kleinen Ortschaften veranlaßte. Aus solchen Landstädtchen
entwickelten sich nach den Stürmen des fünfzehnten Jahrhunderts an den Enden
der Hauptverkehrswegc in den weiteren Mutter am Gebirgsfuße gewissermaßen
Mittelpunkte des Anbaues und Handels. So am Nordwestrande Walters¬
hausen, Ohrdruf u. a., am Südwestfuße Schweina, Schmalkalden; Bodenban,


Bestrebungen für eine wissenschaftliche Landeskunde Deutschlands.

Bis zum neunten Jahrhundert hatten sich eine Anzahl Siedlungen am
Nordwestfuße und Südwestfuße des Waldes gebildet. Da der Nordwestfuß (in
der Gegend von Lauchrieden) sumpfig ist und die aus engen Schluchten hervor¬
tretende Hörsel das Eindringen in das Gebirge erschwert, so mußte naturgemäß
eine größere Straße diese Nordwestecke abzuschneiden suchen. Daher findet man
denn auch schon früh drei Straßen, welche von der Südwestseite her, von
Berta a. W., Vacha und Satzungen aus, nach demjenigen Teile der Nordost¬
flanke des Gebirges konvergiren, wo das Hörselthal noch nicht so tief ein¬
schneidet; das ist die Gegend der Nassemündung.

Diese Straßen laufen nach einem Punkte aus; aber mit der fortschreitenden
Besiedlung an den Längsseiten des Gebirges macht sich mit der Zeit das Be¬
dürfnis nach Durchbrechung desselben an mehreren Stellen geltend, und so ent¬
stehen fast gleichzeitig drei große Hauptwege: 1. die Schweiuaer Straße aus
der Salzunger Gegend; 2. eine Straße von den bei Schmalkalden ausmündenden
Gebirgsthälern; 3. ein Aufstieg vou Meiningen her über Steinbach-Hallenberg
(der Frankensticg). Diese drei Wege führen von Süd nach Nord quer über
das Gebirge und münden in die Hauptquerstraße ein, welche indes an der
Nordseite des Gebirges in der Richtung Eisenach-Gotha-Erfurt entstanden ist.

In dieser ältesten Zeit der Verkehrsentwicklung vom achten bis zum zwölften
Jahrhundert tritt deutlich die knlturfördernde Bedeutung der christlichen Kirche
hervor. Sie erbaut an den Straßen Klöster lind Klausen, wo der Wanderer
und Kaufmann in einer Zeit, da es noch keine modernen Verpfleguugsstütteu
gab, geistliche und körperliche Stärkung findet. Neben den Sendungen von
Fulda und Hersfeld sind es vorzüglich Prämonstratenser und Wilhelmiter, die
an den Paßübergängen das siegende Kreuz aufpflanzen. Noch heute fragt der
den alten Straßenzügen nachgebende Forscher bei den Leuten nach Ortsbezeich¬
nungen, die auf eine kirchliche Stiftung deuten, und rckonstrnirt denselben fol¬
gend den Verlauf von Verkehrswegen, in denen jetzt wieder der Wald wurzelt.

War einmal ein solcher Weg angebahnt, so erhoben sich bald an den Ein¬
tritts- und Mündungsstellen desselben feste Burgen zum Schutz gegen feindliche
Okkupation; später kam die Anlegung neuer Höfe, Bifänge (Umzciunuugen) und
Weiler hinzu.

Während des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, als nach dem
Untergange der Seeufer vielfach sich kreuzende dynastische Interessen gegen ein¬
ander rangen, bildete sich eine Anzahl Städtchen, welche die des Schutzes be¬
dürftige, aber denselben häufig entbehrende Landbevölkerung an sich lockte und
das Eingehen vieler kleinen Ortschaften veranlaßte. Aus solchen Landstädtchen
entwickelten sich nach den Stürmen des fünfzehnten Jahrhunderts an den Enden
der Hauptverkehrswegc in den weiteren Mutter am Gebirgsfuße gewissermaßen
Mittelpunkte des Anbaues und Handels. So am Nordwestrande Walters¬
hausen, Ohrdruf u. a., am Südwestfuße Schweina, Schmalkalden; Bodenban,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0033" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/195422"/>
          <fw type="header" place="top"> Bestrebungen für eine wissenschaftliche Landeskunde Deutschlands.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_81"> Bis zum neunten Jahrhundert hatten sich eine Anzahl Siedlungen am<lb/>
Nordwestfuße und Südwestfuße des Waldes gebildet. Da der Nordwestfuß (in<lb/>
der Gegend von Lauchrieden) sumpfig ist und die aus engen Schluchten hervor¬<lb/>
tretende Hörsel das Eindringen in das Gebirge erschwert, so mußte naturgemäß<lb/>
eine größere Straße diese Nordwestecke abzuschneiden suchen. Daher findet man<lb/>
denn auch schon früh drei Straßen, welche von der Südwestseite her, von<lb/>
Berta a. W., Vacha und Satzungen aus, nach demjenigen Teile der Nordost¬<lb/>
flanke des Gebirges konvergiren, wo das Hörselthal noch nicht so tief ein¬<lb/>
schneidet; das ist die Gegend der Nassemündung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_82"> Diese Straßen laufen nach einem Punkte aus; aber mit der fortschreitenden<lb/>
Besiedlung an den Längsseiten des Gebirges macht sich mit der Zeit das Be¬<lb/>
dürfnis nach Durchbrechung desselben an mehreren Stellen geltend, und so ent¬<lb/>
stehen fast gleichzeitig drei große Hauptwege: 1. die Schweiuaer Straße aus<lb/>
der Salzunger Gegend; 2. eine Straße von den bei Schmalkalden ausmündenden<lb/>
Gebirgsthälern; 3. ein Aufstieg vou Meiningen her über Steinbach-Hallenberg<lb/>
(der Frankensticg). Diese drei Wege führen von Süd nach Nord quer über<lb/>
das Gebirge und münden in die Hauptquerstraße ein, welche indes an der<lb/>
Nordseite des Gebirges in der Richtung Eisenach-Gotha-Erfurt entstanden ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_83"> In dieser ältesten Zeit der Verkehrsentwicklung vom achten bis zum zwölften<lb/>
Jahrhundert tritt deutlich die knlturfördernde Bedeutung der christlichen Kirche<lb/>
hervor. Sie erbaut an den Straßen Klöster lind Klausen, wo der Wanderer<lb/>
und Kaufmann in einer Zeit, da es noch keine modernen Verpfleguugsstütteu<lb/>
gab, geistliche und körperliche Stärkung findet. Neben den Sendungen von<lb/>
Fulda und Hersfeld sind es vorzüglich Prämonstratenser und Wilhelmiter, die<lb/>
an den Paßübergängen das siegende Kreuz aufpflanzen. Noch heute fragt der<lb/>
den alten Straßenzügen nachgebende Forscher bei den Leuten nach Ortsbezeich¬<lb/>
nungen, die auf eine kirchliche Stiftung deuten, und rckonstrnirt denselben fol¬<lb/>
gend den Verlauf von Verkehrswegen, in denen jetzt wieder der Wald wurzelt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_84"> War einmal ein solcher Weg angebahnt, so erhoben sich bald an den Ein¬<lb/>
tritts- und Mündungsstellen desselben feste Burgen zum Schutz gegen feindliche<lb/>
Okkupation; später kam die Anlegung neuer Höfe, Bifänge (Umzciunuugen) und<lb/>
Weiler hinzu.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_85" next="#ID_86"> Während des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, als nach dem<lb/>
Untergange der Seeufer vielfach sich kreuzende dynastische Interessen gegen ein¬<lb/>
ander rangen, bildete sich eine Anzahl Städtchen, welche die des Schutzes be¬<lb/>
dürftige, aber denselben häufig entbehrende Landbevölkerung an sich lockte und<lb/>
das Eingehen vieler kleinen Ortschaften veranlaßte. Aus solchen Landstädtchen<lb/>
entwickelten sich nach den Stürmen des fünfzehnten Jahrhunderts an den Enden<lb/>
der Hauptverkehrswegc in den weiteren Mutter am Gebirgsfuße gewissermaßen<lb/>
Mittelpunkte des Anbaues und Handels. So am Nordwestrande Walters¬<lb/>
hausen, Ohrdruf u. a., am Südwestfuße Schweina, Schmalkalden; Bodenban,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0033] Bestrebungen für eine wissenschaftliche Landeskunde Deutschlands. Bis zum neunten Jahrhundert hatten sich eine Anzahl Siedlungen am Nordwestfuße und Südwestfuße des Waldes gebildet. Da der Nordwestfuß (in der Gegend von Lauchrieden) sumpfig ist und die aus engen Schluchten hervor¬ tretende Hörsel das Eindringen in das Gebirge erschwert, so mußte naturgemäß eine größere Straße diese Nordwestecke abzuschneiden suchen. Daher findet man denn auch schon früh drei Straßen, welche von der Südwestseite her, von Berta a. W., Vacha und Satzungen aus, nach demjenigen Teile der Nordost¬ flanke des Gebirges konvergiren, wo das Hörselthal noch nicht so tief ein¬ schneidet; das ist die Gegend der Nassemündung. Diese Straßen laufen nach einem Punkte aus; aber mit der fortschreitenden Besiedlung an den Längsseiten des Gebirges macht sich mit der Zeit das Be¬ dürfnis nach Durchbrechung desselben an mehreren Stellen geltend, und so ent¬ stehen fast gleichzeitig drei große Hauptwege: 1. die Schweiuaer Straße aus der Salzunger Gegend; 2. eine Straße von den bei Schmalkalden ausmündenden Gebirgsthälern; 3. ein Aufstieg vou Meiningen her über Steinbach-Hallenberg (der Frankensticg). Diese drei Wege führen von Süd nach Nord quer über das Gebirge und münden in die Hauptquerstraße ein, welche indes an der Nordseite des Gebirges in der Richtung Eisenach-Gotha-Erfurt entstanden ist. In dieser ältesten Zeit der Verkehrsentwicklung vom achten bis zum zwölften Jahrhundert tritt deutlich die knlturfördernde Bedeutung der christlichen Kirche hervor. Sie erbaut an den Straßen Klöster lind Klausen, wo der Wanderer und Kaufmann in einer Zeit, da es noch keine modernen Verpfleguugsstütteu gab, geistliche und körperliche Stärkung findet. Neben den Sendungen von Fulda und Hersfeld sind es vorzüglich Prämonstratenser und Wilhelmiter, die an den Paßübergängen das siegende Kreuz aufpflanzen. Noch heute fragt der den alten Straßenzügen nachgebende Forscher bei den Leuten nach Ortsbezeich¬ nungen, die auf eine kirchliche Stiftung deuten, und rckonstrnirt denselben fol¬ gend den Verlauf von Verkehrswegen, in denen jetzt wieder der Wald wurzelt. War einmal ein solcher Weg angebahnt, so erhoben sich bald an den Ein¬ tritts- und Mündungsstellen desselben feste Burgen zum Schutz gegen feindliche Okkupation; später kam die Anlegung neuer Höfe, Bifänge (Umzciunuugen) und Weiler hinzu. Während des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, als nach dem Untergange der Seeufer vielfach sich kreuzende dynastische Interessen gegen ein¬ ander rangen, bildete sich eine Anzahl Städtchen, welche die des Schutzes be¬ dürftige, aber denselben häufig entbehrende Landbevölkerung an sich lockte und das Eingehen vieler kleinen Ortschaften veranlaßte. Aus solchen Landstädtchen entwickelten sich nach den Stürmen des fünfzehnten Jahrhunderts an den Enden der Hauptverkehrswegc in den weiteren Mutter am Gebirgsfuße gewissermaßen Mittelpunkte des Anbaues und Handels. So am Nordwestrande Walters¬ hausen, Ohrdruf u. a., am Südwestfuße Schweina, Schmalkalden; Bodenban,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/33
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/33>, abgerufen am 22.07.2024.