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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Neue Erzählungen von U. G. Franzos.

Huinanitüt aufrief, für notwendig, auch äußerlich die Strafe seines Verbrechens
auf sich zu nehmen, und macht durch einen Sturz ins Meer seinem Leben ein
gewaltsames Ende,

Man sollte meinen, daß es dem Schriftsteller hätte schwer fallen müssen,
den Konflikt in dieser Erzählung dnrch einen noch heftigeren zu überbieten,
und doch hat es seine in starken Effekten erfinderische Phantasie in der vor
kurzem (bei Vvnz in Stuttgart) erschienenen Erzählung: Die Reise nach dem
Schicksal zuwege gebracht. War es dort der Konflikt der Menschlichkeit mit
dem positiven Recht, so ist es hier einer mit dem sogenannten Naturrecht. Und
um wieviel unbeugsamer, ursprünglicher und durch keine menschliche Satzung
umgehbarer das Naturrecht als das positive ist, welches ja, wie wir ebeu ge¬
sehen haben, stets im Fluß ist, umso gespannter, auf die äußerste Hohe ge¬
trieben ist der Konflikt in der jüngern Erzählung, Auch hier ein Ausnahme¬
fall, der umsomehr an tragischer Kraft verliert, je isolirter er dasteht. Und
hier noch mehr als im "Präsidenten" nimmt die dialektische Beleuchtung des
Konfliktes den Autor in Anspruch und konzentrirt sich das Interesse nicht ans
das Schicksal der Menschen, dessen einfache Lösung der Leser von Anfang an
kennt, sondern auf den juristischen Witz des Autors, wie er wohl deu gordischen
Knoten lösen werde. Er löst ihn aber nicht, er zeigt alle seine Verschlingungen
und läßt ihn in der äußersten Bedrängnis von der immer gütigen Natur durch-
hauen.

Um die eheliche Verbindung zwischen Bruder und Schwester handelt es
sich hier -- ein Frevel gegen die Natur! "Eine solche Beziehung -- entwickelt
der Erzähler -- ist thatsächlich nicht bloß für das Gefühl des gesitteten Menschen
empörend, hier wurzelt der moralische Abscheu, den wir empfinden, nicht etwa
bloß in einem Vorurteil oder in einer sittlichen Idee, welche sich die Mensch¬
heit auf ihrem Entwicklungsgange notgedrungen im Interesse der staatlichen
und moralischen Ordnung hat anerziehen müssen -- die Natur selbst hat ihn
uns gelehrt. Je näher die Eltern mit einander verwandt sind, umso größer
ist die Gefahr, daß die Kinder aus dieser Ehe geistige oder körperliche Krüppel
sind -- das ist das stumme und doch so beredte Veto der Natur. Sie geht
also uoch weiter als der Mensch; sie straft Beziehungen, welche der Staat
duldet und als rechtmäßige Ehen unter seinen Schutz stellt. Aber uicht bloß
durch die Folgen erhebt die Natur zürnend dies Verbot, sondern sie warnt
auch von vornherein. Aus welchen Motiven werden die Ehen unter Bluts¬
verwandten in der Regel geschlossen? Damit das Geld in der Familie bleibe,
oder aus schlecht verstandenen Familiensinn, oder aus Bequemlichkeit, "weil die
jungen Leute einander ohnehin genau kennen und daher vor Enttäuschungen
bewahrt sind." Aber aus Liebe? Selten, fast nie. Die Gleichgiltigkeit oder
gar die Abneigung, die erst besiegt werden muß -- das ist die Warnung der
Natur. Kein Zweifel also: die Natur selbst will solche Bündnisse nicht! . .


Neue Erzählungen von U. G. Franzos.

Huinanitüt aufrief, für notwendig, auch äußerlich die Strafe seines Verbrechens
auf sich zu nehmen, und macht durch einen Sturz ins Meer seinem Leben ein
gewaltsames Ende,

Man sollte meinen, daß es dem Schriftsteller hätte schwer fallen müssen,
den Konflikt in dieser Erzählung dnrch einen noch heftigeren zu überbieten,
und doch hat es seine in starken Effekten erfinderische Phantasie in der vor
kurzem (bei Vvnz in Stuttgart) erschienenen Erzählung: Die Reise nach dem
Schicksal zuwege gebracht. War es dort der Konflikt der Menschlichkeit mit
dem positiven Recht, so ist es hier einer mit dem sogenannten Naturrecht. Und
um wieviel unbeugsamer, ursprünglicher und durch keine menschliche Satzung
umgehbarer das Naturrecht als das positive ist, welches ja, wie wir ebeu ge¬
sehen haben, stets im Fluß ist, umso gespannter, auf die äußerste Hohe ge¬
trieben ist der Konflikt in der jüngern Erzählung, Auch hier ein Ausnahme¬
fall, der umsomehr an tragischer Kraft verliert, je isolirter er dasteht. Und
hier noch mehr als im „Präsidenten" nimmt die dialektische Beleuchtung des
Konfliktes den Autor in Anspruch und konzentrirt sich das Interesse nicht ans
das Schicksal der Menschen, dessen einfache Lösung der Leser von Anfang an
kennt, sondern auf den juristischen Witz des Autors, wie er wohl deu gordischen
Knoten lösen werde. Er löst ihn aber nicht, er zeigt alle seine Verschlingungen
und läßt ihn in der äußersten Bedrängnis von der immer gütigen Natur durch-
hauen.

Um die eheliche Verbindung zwischen Bruder und Schwester handelt es
sich hier — ein Frevel gegen die Natur! „Eine solche Beziehung — entwickelt
der Erzähler — ist thatsächlich nicht bloß für das Gefühl des gesitteten Menschen
empörend, hier wurzelt der moralische Abscheu, den wir empfinden, nicht etwa
bloß in einem Vorurteil oder in einer sittlichen Idee, welche sich die Mensch¬
heit auf ihrem Entwicklungsgange notgedrungen im Interesse der staatlichen
und moralischen Ordnung hat anerziehen müssen — die Natur selbst hat ihn
uns gelehrt. Je näher die Eltern mit einander verwandt sind, umso größer
ist die Gefahr, daß die Kinder aus dieser Ehe geistige oder körperliche Krüppel
sind — das ist das stumme und doch so beredte Veto der Natur. Sie geht
also uoch weiter als der Mensch; sie straft Beziehungen, welche der Staat
duldet und als rechtmäßige Ehen unter seinen Schutz stellt. Aber uicht bloß
durch die Folgen erhebt die Natur zürnend dies Verbot, sondern sie warnt
auch von vornherein. Aus welchen Motiven werden die Ehen unter Bluts¬
verwandten in der Regel geschlossen? Damit das Geld in der Familie bleibe,
oder aus schlecht verstandenen Familiensinn, oder aus Bequemlichkeit, »weil die
jungen Leute einander ohnehin genau kennen und daher vor Enttäuschungen
bewahrt sind.« Aber aus Liebe? Selten, fast nie. Die Gleichgiltigkeit oder
gar die Abneigung, die erst besiegt werden muß — das ist die Warnung der
Natur. Kein Zweifel also: die Natur selbst will solche Bündnisse nicht! . .


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[0315] Neue Erzählungen von U. G. Franzos. Huinanitüt aufrief, für notwendig, auch äußerlich die Strafe seines Verbrechens auf sich zu nehmen, und macht durch einen Sturz ins Meer seinem Leben ein gewaltsames Ende, Man sollte meinen, daß es dem Schriftsteller hätte schwer fallen müssen, den Konflikt in dieser Erzählung dnrch einen noch heftigeren zu überbieten, und doch hat es seine in starken Effekten erfinderische Phantasie in der vor kurzem (bei Vvnz in Stuttgart) erschienenen Erzählung: Die Reise nach dem Schicksal zuwege gebracht. War es dort der Konflikt der Menschlichkeit mit dem positiven Recht, so ist es hier einer mit dem sogenannten Naturrecht. Und um wieviel unbeugsamer, ursprünglicher und durch keine menschliche Satzung umgehbarer das Naturrecht als das positive ist, welches ja, wie wir ebeu ge¬ sehen haben, stets im Fluß ist, umso gespannter, auf die äußerste Hohe ge¬ trieben ist der Konflikt in der jüngern Erzählung, Auch hier ein Ausnahme¬ fall, der umsomehr an tragischer Kraft verliert, je isolirter er dasteht. Und hier noch mehr als im „Präsidenten" nimmt die dialektische Beleuchtung des Konfliktes den Autor in Anspruch und konzentrirt sich das Interesse nicht ans das Schicksal der Menschen, dessen einfache Lösung der Leser von Anfang an kennt, sondern auf den juristischen Witz des Autors, wie er wohl deu gordischen Knoten lösen werde. Er löst ihn aber nicht, er zeigt alle seine Verschlingungen und läßt ihn in der äußersten Bedrängnis von der immer gütigen Natur durch- hauen. Um die eheliche Verbindung zwischen Bruder und Schwester handelt es sich hier — ein Frevel gegen die Natur! „Eine solche Beziehung — entwickelt der Erzähler — ist thatsächlich nicht bloß für das Gefühl des gesitteten Menschen empörend, hier wurzelt der moralische Abscheu, den wir empfinden, nicht etwa bloß in einem Vorurteil oder in einer sittlichen Idee, welche sich die Mensch¬ heit auf ihrem Entwicklungsgange notgedrungen im Interesse der staatlichen und moralischen Ordnung hat anerziehen müssen — die Natur selbst hat ihn uns gelehrt. Je näher die Eltern mit einander verwandt sind, umso größer ist die Gefahr, daß die Kinder aus dieser Ehe geistige oder körperliche Krüppel sind — das ist das stumme und doch so beredte Veto der Natur. Sie geht also uoch weiter als der Mensch; sie straft Beziehungen, welche der Staat duldet und als rechtmäßige Ehen unter seinen Schutz stellt. Aber uicht bloß durch die Folgen erhebt die Natur zürnend dies Verbot, sondern sie warnt auch von vornherein. Aus welchen Motiven werden die Ehen unter Bluts¬ verwandten in der Regel geschlossen? Damit das Geld in der Familie bleibe, oder aus schlecht verstandenen Familiensinn, oder aus Bequemlichkeit, »weil die jungen Leute einander ohnehin genau kennen und daher vor Enttäuschungen bewahrt sind.« Aber aus Liebe? Selten, fast nie. Die Gleichgiltigkeit oder gar die Abneigung, die erst besiegt werden muß — das ist die Warnung der Natur. Kein Zweifel also: die Natur selbst will solche Bündnisse nicht! . .

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/315>, abgerufen am 22.07.2024.