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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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die merkwürdige Häufung des Kindesnwrdes, welche auf die durch die revolu¬
tionären und kriegerischen Unruhen herbeigeführte Armut zurückzuführen gewesen
wären, mit politischen Umtrieben in Verbindung gesetzt. Die Gesetzgebung
war eine drakonische, auf Kindesmord war der Tod durch den Strang gesetzt,
ohne etwaige Erwägung der psychologischen Umstände im Augenblicke der That.
Dabei war die Handhabung des Rechts willkürlich, die Freiheit des Richters
durch Verfügungen des Ministers aufgehoben. Und als am 18. Februar 1853
ein wahnwitziger Geselle ein Attentat auf deu Kaiser wagte, bei dem der
Monarch nur durch die glückliche Dazwischenkamst eines Fleischhauers vom Tode
gerettet wurde, da wurden die Zügel der Regierung natürlich noch straffer an¬
gezogen.

In dieser Zeit, und zwar von der Mitte des Jahres 1852 bis zum verhäng¬
nisvollen 18. Februar spielt die Handlung der Erzählung. Beim Gerichte einer
galizischen Stadt wird ein junges siebzehnjähriges Mädchen, Viktorine Lippert,
wegen Kindcsmordes eingeliefert; sie wurde auf der Straße halb wahnsinnig
ausgefunden, neben ihr der kleine Leichnam. Sie war Gesellschafterin bei einer
Polnischen Gräfin; auf dem einsamen Schlosse hatte deren Sohn, ein angehender,
eben aus Paris heimkehrender junger Attache, das schöne Mädchen verführt,
und als ihr Unglück offenbar wurde, hatte man sie mit Schimpf und Schande
ans dem Schlosse gejagt -- in ruchloser Hartherzigkeit. So wurde sie Ver¬
brecherin. Als der von einem kurzen Aufenthalte in Wien, wo ihm sein Avanee-
nient zum Präsidenten des Obergerichts der Gegend mitgeteilt wurde, heim¬
kehrende Präsident des obigen Gerichtshofes die Akten der Lippert zu Gesichte
bekommt, macht er die erschütternde Entdeckung, daß die Schuldige sein eignes,
einem seist ganz vergessenen Verhältnis in seiner Jugendzeit entsprossenes Kind
ist. Vor zwanzig Jahren lernte der Freiherr Viktor von Sendungen in Suezawa
im Hause eines Bojaren die deutsche Gouvernante Emilie Lippert kennen und
glühend lieben. Er war damals einer der hoffnungsvollsten jungen Beamten
des Staates, aber sein Schicksal und seine ganze Karriere hing von der Pro¬
tektion ab, die ihm ein starr aristokratischer Verwandter angedeihen ließ, und
als Seil, Verhältnis zu jener, übrigens edeln und hochherzigen deutscheu Gou¬
vernante so offenkundig wurde, daß er sie als Ehrenmann hätte heiraten müssen,
da erhob jener gräfliche Protektor Einspruch dagegen und drohte, ihn ganz
fallen zu lassen, was dnrch eine bei jenem Liebesverhältnis verschuldete Nach¬
lässigkeit im Dienste noch gefährlicher wurde, falls er die bürgerliche Deutsche
heiraten würde. Überdies hatte der junge Sendungen das furchtbare Schicksal
seines eignen Vaters vor Angen; auch dieser hatte eine Liebschaft, gar mit der
Pvrtierstvchter im eignen väterlichen Hause, gehabt, die Frucht derselben war
eben unser Baron Viktor. Damals hatte dessen Großvater, gleichfalls Gerichts¬
präsident, gerufen: Ein Sendungen darf kein Schurke sein, und hatte den eignen
Sohn zur Ehe mit einem im Grunde gleichgiltigen, nur in einem leichtsinnigen


die merkwürdige Häufung des Kindesnwrdes, welche auf die durch die revolu¬
tionären und kriegerischen Unruhen herbeigeführte Armut zurückzuführen gewesen
wären, mit politischen Umtrieben in Verbindung gesetzt. Die Gesetzgebung
war eine drakonische, auf Kindesmord war der Tod durch den Strang gesetzt,
ohne etwaige Erwägung der psychologischen Umstände im Augenblicke der That.
Dabei war die Handhabung des Rechts willkürlich, die Freiheit des Richters
durch Verfügungen des Ministers aufgehoben. Und als am 18. Februar 1853
ein wahnwitziger Geselle ein Attentat auf deu Kaiser wagte, bei dem der
Monarch nur durch die glückliche Dazwischenkamst eines Fleischhauers vom Tode
gerettet wurde, da wurden die Zügel der Regierung natürlich noch straffer an¬
gezogen.

In dieser Zeit, und zwar von der Mitte des Jahres 1852 bis zum verhäng¬
nisvollen 18. Februar spielt die Handlung der Erzählung. Beim Gerichte einer
galizischen Stadt wird ein junges siebzehnjähriges Mädchen, Viktorine Lippert,
wegen Kindcsmordes eingeliefert; sie wurde auf der Straße halb wahnsinnig
ausgefunden, neben ihr der kleine Leichnam. Sie war Gesellschafterin bei einer
Polnischen Gräfin; auf dem einsamen Schlosse hatte deren Sohn, ein angehender,
eben aus Paris heimkehrender junger Attache, das schöne Mädchen verführt,
und als ihr Unglück offenbar wurde, hatte man sie mit Schimpf und Schande
ans dem Schlosse gejagt — in ruchloser Hartherzigkeit. So wurde sie Ver¬
brecherin. Als der von einem kurzen Aufenthalte in Wien, wo ihm sein Avanee-
nient zum Präsidenten des Obergerichts der Gegend mitgeteilt wurde, heim¬
kehrende Präsident des obigen Gerichtshofes die Akten der Lippert zu Gesichte
bekommt, macht er die erschütternde Entdeckung, daß die Schuldige sein eignes,
einem seist ganz vergessenen Verhältnis in seiner Jugendzeit entsprossenes Kind
ist. Vor zwanzig Jahren lernte der Freiherr Viktor von Sendungen in Suezawa
im Hause eines Bojaren die deutsche Gouvernante Emilie Lippert kennen und
glühend lieben. Er war damals einer der hoffnungsvollsten jungen Beamten
des Staates, aber sein Schicksal und seine ganze Karriere hing von der Pro¬
tektion ab, die ihm ein starr aristokratischer Verwandter angedeihen ließ, und
als Seil, Verhältnis zu jener, übrigens edeln und hochherzigen deutscheu Gou¬
vernante so offenkundig wurde, daß er sie als Ehrenmann hätte heiraten müssen,
da erhob jener gräfliche Protektor Einspruch dagegen und drohte, ihn ganz
fallen zu lassen, was dnrch eine bei jenem Liebesverhältnis verschuldete Nach¬
lässigkeit im Dienste noch gefährlicher wurde, falls er die bürgerliche Deutsche
heiraten würde. Überdies hatte der junge Sendungen das furchtbare Schicksal
seines eignen Vaters vor Angen; auch dieser hatte eine Liebschaft, gar mit der
Pvrtierstvchter im eignen väterlichen Hause, gehabt, die Frucht derselben war
eben unser Baron Viktor. Damals hatte dessen Großvater, gleichfalls Gerichts¬
präsident, gerufen: Ein Sendungen darf kein Schurke sein, und hatte den eignen
Sohn zur Ehe mit einem im Grunde gleichgiltigen, nur in einem leichtsinnigen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/312>, abgerufen am 22.07.2024.