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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Neue Erzählungen von K. <L. Franzos.

die Versuchung, stehen zu bleiben, um im holden Genuß der Anschauung -- die
echt poetische Freude -- eines lebensvollen Menschenwesens zu verharren. Es
sind deswegen auch die Frauen meist im Hintergrunde.

Die zwei oben augeführten neuesten Erzählungen von Franzos machen, gegen
einander gehalten, durchaus den Eindruck von zusammengehörigen Pendants.
Beide behandeln novellistische Motive, die als solche das Recht haben, seltene
Ausnahmefälle zu sein. Und beide Geschichten haben auch die -- uralte An-
tigone- -- Tendenz, das positiv geltende sittliche Gesetz im Konflikt mit noch
höhern Gesetzen darzustellen und so die höchste tragische Spannung zu schaffen,
wenn es auch nur der erstern (Der Präsident) gelingt, eine wahrhaft tragische
Lösung herbeizuführen. Man könnte leicht beide Handlungen auf ein und
dasselbe Grundmotiv zurückleite", auf die Formel: ein Vater kommt in die
Lage, über Tod und Leben seines -- in beiden Fällen unehelichen -- Kindes
zu entscheiden, und beide male, nachdem er erst im letzten, äußersten Momente
Kenntnis von dessen Existenz und dem ihm drohenden Schicksale erhalten hatte.
Durch beide Novellen zieht sich der Gedanke: keine That bleibt nugercicht, kein
Mensch kann die Folgen seines Thuns überschauen, die Kinder dürfen nicht
büßen für die Schuld der Eltern, jeder Mensch sorgt für seine eigne Erlösung.
Und in beiden Handlungen wird der schuldige Vater durch einen neuen Frevel
zum Retter seiner mehr oder minder unschuldigen Kinder, um dann auf sich
selbst die tragische Sühne zu nehmen. Aber bei allen diesen so tief ein¬
schneidenden Ähnlichkeiten im Grundgedanken sind doch beide Erzählungen, in
der Verwicklung und im Kolorit, ganz verschieden ausgestaltet und lege" so
Zeugnis von der Erfindungsgabe und dem schriftstellerischen Talent ihres
Autors ab.

Die weitaus gelungenere Arbeit ist die im vorigen Jahre (bei Trewendt
in Breslau) erschienene Erzählung: Der Präsident. Hier ist es dein Dichter
gelungen, seinen Konflikt auf einen sehr interessanten und sehr glücklich geschil¬
derten kulturhistorischen Hintergrund zu stellen und in wahrhaft organischer
Weise das einzelne Menschenschicksal mit wichtigen Zeitereignissen zu verflechten.
Es ist die Zeit der Reaktion in Österreich nach der Revolution vom Jahre 1848,
jene düstere Epoche, da die Polizei hinter jedem Vollbart und Calcibreser einen
Hochverräter witterte, da bürgerliche und persönliche Freiheit aufs jämmerlichste
bedrängt waren, der schöne blaue Himmel Österreichs mit einer schwarzen Kutte
und dem Jesuitenhute darüber verhängt war; die Zeit, da man wegen Besitzes
irgendeines von einem rohen Zensor weiß Gott warum verbotenen Buches
wochenlang eingesperrt wurde, und da wegen des nnbegründctstcn Verdachtes
politischer Umtriebe viele Ehrenmänner in die Kasematten einer böhmischen oder
ungarischen Festung wanderten. Alles wurde ins Politische gedreht: die un¬
gebildetsten Arbeiter wurden, wenn sie keine Bcichtzettel ausweisen konnten, als
hochverräterische Verbrecher behandelt und verurteilt, und auch soziale Schäden, wie


Neue Erzählungen von K. <L. Franzos.

die Versuchung, stehen zu bleiben, um im holden Genuß der Anschauung — die
echt poetische Freude — eines lebensvollen Menschenwesens zu verharren. Es
sind deswegen auch die Frauen meist im Hintergrunde.

Die zwei oben augeführten neuesten Erzählungen von Franzos machen, gegen
einander gehalten, durchaus den Eindruck von zusammengehörigen Pendants.
Beide behandeln novellistische Motive, die als solche das Recht haben, seltene
Ausnahmefälle zu sein. Und beide Geschichten haben auch die — uralte An-
tigone- — Tendenz, das positiv geltende sittliche Gesetz im Konflikt mit noch
höhern Gesetzen darzustellen und so die höchste tragische Spannung zu schaffen,
wenn es auch nur der erstern (Der Präsident) gelingt, eine wahrhaft tragische
Lösung herbeizuführen. Man könnte leicht beide Handlungen auf ein und
dasselbe Grundmotiv zurückleite», auf die Formel: ein Vater kommt in die
Lage, über Tod und Leben seines — in beiden Fällen unehelichen — Kindes
zu entscheiden, und beide male, nachdem er erst im letzten, äußersten Momente
Kenntnis von dessen Existenz und dem ihm drohenden Schicksale erhalten hatte.
Durch beide Novellen zieht sich der Gedanke: keine That bleibt nugercicht, kein
Mensch kann die Folgen seines Thuns überschauen, die Kinder dürfen nicht
büßen für die Schuld der Eltern, jeder Mensch sorgt für seine eigne Erlösung.
Und in beiden Handlungen wird der schuldige Vater durch einen neuen Frevel
zum Retter seiner mehr oder minder unschuldigen Kinder, um dann auf sich
selbst die tragische Sühne zu nehmen. Aber bei allen diesen so tief ein¬
schneidenden Ähnlichkeiten im Grundgedanken sind doch beide Erzählungen, in
der Verwicklung und im Kolorit, ganz verschieden ausgestaltet und lege» so
Zeugnis von der Erfindungsgabe und dem schriftstellerischen Talent ihres
Autors ab.

Die weitaus gelungenere Arbeit ist die im vorigen Jahre (bei Trewendt
in Breslau) erschienene Erzählung: Der Präsident. Hier ist es dein Dichter
gelungen, seinen Konflikt auf einen sehr interessanten und sehr glücklich geschil¬
derten kulturhistorischen Hintergrund zu stellen und in wahrhaft organischer
Weise das einzelne Menschenschicksal mit wichtigen Zeitereignissen zu verflechten.
Es ist die Zeit der Reaktion in Österreich nach der Revolution vom Jahre 1848,
jene düstere Epoche, da die Polizei hinter jedem Vollbart und Calcibreser einen
Hochverräter witterte, da bürgerliche und persönliche Freiheit aufs jämmerlichste
bedrängt waren, der schöne blaue Himmel Österreichs mit einer schwarzen Kutte
und dem Jesuitenhute darüber verhängt war; die Zeit, da man wegen Besitzes
irgendeines von einem rohen Zensor weiß Gott warum verbotenen Buches
wochenlang eingesperrt wurde, und da wegen des nnbegründctstcn Verdachtes
politischer Umtriebe viele Ehrenmänner in die Kasematten einer böhmischen oder
ungarischen Festung wanderten. Alles wurde ins Politische gedreht: die un¬
gebildetsten Arbeiter wurden, wenn sie keine Bcichtzettel ausweisen konnten, als
hochverräterische Verbrecher behandelt und verurteilt, und auch soziale Schäden, wie


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[0311] Neue Erzählungen von K. <L. Franzos. die Versuchung, stehen zu bleiben, um im holden Genuß der Anschauung — die echt poetische Freude — eines lebensvollen Menschenwesens zu verharren. Es sind deswegen auch die Frauen meist im Hintergrunde. Die zwei oben augeführten neuesten Erzählungen von Franzos machen, gegen einander gehalten, durchaus den Eindruck von zusammengehörigen Pendants. Beide behandeln novellistische Motive, die als solche das Recht haben, seltene Ausnahmefälle zu sein. Und beide Geschichten haben auch die — uralte An- tigone- — Tendenz, das positiv geltende sittliche Gesetz im Konflikt mit noch höhern Gesetzen darzustellen und so die höchste tragische Spannung zu schaffen, wenn es auch nur der erstern (Der Präsident) gelingt, eine wahrhaft tragische Lösung herbeizuführen. Man könnte leicht beide Handlungen auf ein und dasselbe Grundmotiv zurückleite», auf die Formel: ein Vater kommt in die Lage, über Tod und Leben seines — in beiden Fällen unehelichen — Kindes zu entscheiden, und beide male, nachdem er erst im letzten, äußersten Momente Kenntnis von dessen Existenz und dem ihm drohenden Schicksale erhalten hatte. Durch beide Novellen zieht sich der Gedanke: keine That bleibt nugercicht, kein Mensch kann die Folgen seines Thuns überschauen, die Kinder dürfen nicht büßen für die Schuld der Eltern, jeder Mensch sorgt für seine eigne Erlösung. Und in beiden Handlungen wird der schuldige Vater durch einen neuen Frevel zum Retter seiner mehr oder minder unschuldigen Kinder, um dann auf sich selbst die tragische Sühne zu nehmen. Aber bei allen diesen so tief ein¬ schneidenden Ähnlichkeiten im Grundgedanken sind doch beide Erzählungen, in der Verwicklung und im Kolorit, ganz verschieden ausgestaltet und lege» so Zeugnis von der Erfindungsgabe und dem schriftstellerischen Talent ihres Autors ab. Die weitaus gelungenere Arbeit ist die im vorigen Jahre (bei Trewendt in Breslau) erschienene Erzählung: Der Präsident. Hier ist es dein Dichter gelungen, seinen Konflikt auf einen sehr interessanten und sehr glücklich geschil¬ derten kulturhistorischen Hintergrund zu stellen und in wahrhaft organischer Weise das einzelne Menschenschicksal mit wichtigen Zeitereignissen zu verflechten. Es ist die Zeit der Reaktion in Österreich nach der Revolution vom Jahre 1848, jene düstere Epoche, da die Polizei hinter jedem Vollbart und Calcibreser einen Hochverräter witterte, da bürgerliche und persönliche Freiheit aufs jämmerlichste bedrängt waren, der schöne blaue Himmel Österreichs mit einer schwarzen Kutte und dem Jesuitenhute darüber verhängt war; die Zeit, da man wegen Besitzes irgendeines von einem rohen Zensor weiß Gott warum verbotenen Buches wochenlang eingesperrt wurde, und da wegen des nnbegründctstcn Verdachtes politischer Umtriebe viele Ehrenmänner in die Kasematten einer böhmischen oder ungarischen Festung wanderten. Alles wurde ins Politische gedreht: die un¬ gebildetsten Arbeiter wurden, wenn sie keine Bcichtzettel ausweisen konnten, als hochverräterische Verbrecher behandelt und verurteilt, und auch soziale Schäden, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/311>, abgerufen am 22.07.2024.