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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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archäologischer Mummenschanz das mangelnde poetische Leben ersetzen soll, ob¬
gleich nichts seltener wird als die Kunst, von allem äußerlichen historischen Gewand
sreie Menschen zu schaffen. Der Kultnrschilderer darf sogar die alltäglichsten
Motive behandeln, da eben die Alltäglichkeit in der Fremde den mit ihr unbe¬
kannten Leser reizt; der frei schöpferische Dichter muß in irgendeiner Weise
von der Alltäglichkeit abweichen. Freilich liegt eben in dieser Art des Ab-
weichens seine Originalität und sein eigentlicher Wert, und es wird ein Unter¬
schied sein, ob er das scheinbar Alltägliche mit einer Fülle originalen Gemüts-
inhaltes ausstattet und so in Wahrheit die Welt neu und eigenartig an¬
schauen lehrt, oder ob seiue Originalität in dem Raffinement einer erfinderischen
Phantasie besteht, die Handlungen und Konflikte unerhörter Art zu erzählen weiß,

Franzos scheint sich aller dieser Bedingungen bei seinem Fortschritt vom
.Kultnrschilderer zum Romandichter wohl bewußt gewesen zu, sein -- Klugheit
ist in der That seine zunächst hervorstechende Eigenschaft. Aber seine Originalität
ist eine von der zweiten Art, und damit kennzeichnet sich zugleich der ganze
Charakter seiner nicht gewöhnlichen Begabung. Er hat sich jedenfalls organisch
entwickelt. Mau wird in seinen Schriften immer denselben Menschen -- den
ursprünglich juristisch geschulten Kopf -- erkennen, aber auch ein stetiges Fort¬
schreiten in der Technik des Erzählens bis zur Virtuosität in der Form wahr¬
nehmen tonnen. Er weiß vor allem zu spannen und den Leser trotz aller
Ahnung des Allsganges bis zur letzten Seite gespannt zu erhalten, besonders
kennt er die Künste der Retardation. Starke Effekte, derbe Konflikte liebt er
noch immer, aber er bringt keine trivialen oder rührseligen. Man hat überhaupt
bei seinen letzten zwei Schriften das Gefühl, es mit einem Manne von Welt -- der
Takt spielt eine große Rolle in seinem Empfindungsleben -- und von Bildung
zu thun zu haben, dessen politischer und sittlicher Freimut wohlthuend berührt.
Nur ist es immer die starke Verstandesarbeit, die nüchterne Berechnung, welche
aus der Gestaltung der Fabel, aus der Form und Führung der Handlung
durchblickt -- schließlich auch ein ästhetisch wirksames Element. Franzos' Naturell
ist im Grunde ein rhetorisches, ein dialektisches: man beobachte seine Dialoge,
die nicht zur Entfaltung der Charaktere, sondern zur Darlegung der Ideen
dienen. Alls der klügsten Reflexion unter dem Beistande einer sehr erfinderischen
Phantasie sind seine Erzählungen entstanden. Darum siud ihre Konflikte so
haarscharf zugespitzt, darum erscheinen die Situationen aufs äußerste gespannt,
werden die Probleme mit dein Interesse des Juristen entwickelt und rein didaktisch
nach ihrem sittlichen Gehalte beleuchtet. Nicht die Menschen als an sich merk¬
würdig lebensvolle Charaktere, oder deren Empfindungswelt, oder deren fein¬
sinnige Psychologie interessiren den Leser -- in den Erzählungen geht die
Charakteristik nur fo weit, als es zum Verstäuduis der Handlung nötig ist --,
sondern einzig die Frage: Wie werden sie sich ans der Zwickmühle heraus¬
bringen? Darum liest man diese Bücher atemlos zu Ende und kommt nicht in


Grcnztwtim II. 1885. A>

archäologischer Mummenschanz das mangelnde poetische Leben ersetzen soll, ob¬
gleich nichts seltener wird als die Kunst, von allem äußerlichen historischen Gewand
sreie Menschen zu schaffen. Der Kultnrschilderer darf sogar die alltäglichsten
Motive behandeln, da eben die Alltäglichkeit in der Fremde den mit ihr unbe¬
kannten Leser reizt; der frei schöpferische Dichter muß in irgendeiner Weise
von der Alltäglichkeit abweichen. Freilich liegt eben in dieser Art des Ab-
weichens seine Originalität und sein eigentlicher Wert, und es wird ein Unter¬
schied sein, ob er das scheinbar Alltägliche mit einer Fülle originalen Gemüts-
inhaltes ausstattet und so in Wahrheit die Welt neu und eigenartig an¬
schauen lehrt, oder ob seiue Originalität in dem Raffinement einer erfinderischen
Phantasie besteht, die Handlungen und Konflikte unerhörter Art zu erzählen weiß,

Franzos scheint sich aller dieser Bedingungen bei seinem Fortschritt vom
.Kultnrschilderer zum Romandichter wohl bewußt gewesen zu, sein — Klugheit
ist in der That seine zunächst hervorstechende Eigenschaft. Aber seine Originalität
ist eine von der zweiten Art, und damit kennzeichnet sich zugleich der ganze
Charakter seiner nicht gewöhnlichen Begabung. Er hat sich jedenfalls organisch
entwickelt. Mau wird in seinen Schriften immer denselben Menschen — den
ursprünglich juristisch geschulten Kopf — erkennen, aber auch ein stetiges Fort¬
schreiten in der Technik des Erzählens bis zur Virtuosität in der Form wahr¬
nehmen tonnen. Er weiß vor allem zu spannen und den Leser trotz aller
Ahnung des Allsganges bis zur letzten Seite gespannt zu erhalten, besonders
kennt er die Künste der Retardation. Starke Effekte, derbe Konflikte liebt er
noch immer, aber er bringt keine trivialen oder rührseligen. Man hat überhaupt
bei seinen letzten zwei Schriften das Gefühl, es mit einem Manne von Welt — der
Takt spielt eine große Rolle in seinem Empfindungsleben — und von Bildung
zu thun zu haben, dessen politischer und sittlicher Freimut wohlthuend berührt.
Nur ist es immer die starke Verstandesarbeit, die nüchterne Berechnung, welche
aus der Gestaltung der Fabel, aus der Form und Führung der Handlung
durchblickt — schließlich auch ein ästhetisch wirksames Element. Franzos' Naturell
ist im Grunde ein rhetorisches, ein dialektisches: man beobachte seine Dialoge,
die nicht zur Entfaltung der Charaktere, sondern zur Darlegung der Ideen
dienen. Alls der klügsten Reflexion unter dem Beistande einer sehr erfinderischen
Phantasie sind seine Erzählungen entstanden. Darum siud ihre Konflikte so
haarscharf zugespitzt, darum erscheinen die Situationen aufs äußerste gespannt,
werden die Probleme mit dein Interesse des Juristen entwickelt und rein didaktisch
nach ihrem sittlichen Gehalte beleuchtet. Nicht die Menschen als an sich merk¬
würdig lebensvolle Charaktere, oder deren Empfindungswelt, oder deren fein¬
sinnige Psychologie interessiren den Leser — in den Erzählungen geht die
Charakteristik nur fo weit, als es zum Verstäuduis der Handlung nötig ist —,
sondern einzig die Frage: Wie werden sie sich ans der Zwickmühle heraus¬
bringen? Darum liest man diese Bücher atemlos zu Ende und kommt nicht in


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[0310] archäologischer Mummenschanz das mangelnde poetische Leben ersetzen soll, ob¬ gleich nichts seltener wird als die Kunst, von allem äußerlichen historischen Gewand sreie Menschen zu schaffen. Der Kultnrschilderer darf sogar die alltäglichsten Motive behandeln, da eben die Alltäglichkeit in der Fremde den mit ihr unbe¬ kannten Leser reizt; der frei schöpferische Dichter muß in irgendeiner Weise von der Alltäglichkeit abweichen. Freilich liegt eben in dieser Art des Ab- weichens seine Originalität und sein eigentlicher Wert, und es wird ein Unter¬ schied sein, ob er das scheinbar Alltägliche mit einer Fülle originalen Gemüts- inhaltes ausstattet und so in Wahrheit die Welt neu und eigenartig an¬ schauen lehrt, oder ob seiue Originalität in dem Raffinement einer erfinderischen Phantasie besteht, die Handlungen und Konflikte unerhörter Art zu erzählen weiß, Franzos scheint sich aller dieser Bedingungen bei seinem Fortschritt vom .Kultnrschilderer zum Romandichter wohl bewußt gewesen zu, sein — Klugheit ist in der That seine zunächst hervorstechende Eigenschaft. Aber seine Originalität ist eine von der zweiten Art, und damit kennzeichnet sich zugleich der ganze Charakter seiner nicht gewöhnlichen Begabung. Er hat sich jedenfalls organisch entwickelt. Mau wird in seinen Schriften immer denselben Menschen — den ursprünglich juristisch geschulten Kopf — erkennen, aber auch ein stetiges Fort¬ schreiten in der Technik des Erzählens bis zur Virtuosität in der Form wahr¬ nehmen tonnen. Er weiß vor allem zu spannen und den Leser trotz aller Ahnung des Allsganges bis zur letzten Seite gespannt zu erhalten, besonders kennt er die Künste der Retardation. Starke Effekte, derbe Konflikte liebt er noch immer, aber er bringt keine trivialen oder rührseligen. Man hat überhaupt bei seinen letzten zwei Schriften das Gefühl, es mit einem Manne von Welt — der Takt spielt eine große Rolle in seinem Empfindungsleben — und von Bildung zu thun zu haben, dessen politischer und sittlicher Freimut wohlthuend berührt. Nur ist es immer die starke Verstandesarbeit, die nüchterne Berechnung, welche aus der Gestaltung der Fabel, aus der Form und Führung der Handlung durchblickt — schließlich auch ein ästhetisch wirksames Element. Franzos' Naturell ist im Grunde ein rhetorisches, ein dialektisches: man beobachte seine Dialoge, die nicht zur Entfaltung der Charaktere, sondern zur Darlegung der Ideen dienen. Alls der klügsten Reflexion unter dem Beistande einer sehr erfinderischen Phantasie sind seine Erzählungen entstanden. Darum siud ihre Konflikte so haarscharf zugespitzt, darum erscheinen die Situationen aufs äußerste gespannt, werden die Probleme mit dein Interesse des Juristen entwickelt und rein didaktisch nach ihrem sittlichen Gehalte beleuchtet. Nicht die Menschen als an sich merk¬ würdig lebensvolle Charaktere, oder deren Empfindungswelt, oder deren fein¬ sinnige Psychologie interessiren den Leser — in den Erzählungen geht die Charakteristik nur fo weit, als es zum Verstäuduis der Handlung nötig ist —, sondern einzig die Frage: Wie werden sie sich ans der Zwickmühle heraus¬ bringen? Darum liest man diese Bücher atemlos zu Ende und kommt nicht in Grcnztwtim II. 1885. A>

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/310>, abgerufen am 22.07.2024.