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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Bestrebungen für eine wissenschaftliche Landeskunde Deutschlands.

Aus Mechterstedt im Vorlande wird berichtet: Fleisch kommt wenig auf
den Tisch, hauptsächlich Kartoffeln und Mehlspeisen; als Kaffee dient ein Auf¬
guß auf gebrannte Runkelrüben; ein warmes Mittagsbrod ist in der Woche
selten, die Hauptmahlzeit fällt auf den Abend. Aus Bohlen: viel Kartoffeln,
wenig Brot; kommt einmal Fleisch auf den Tisch, so muß ein Pfund für sechs
bis acht Personen ausreichen. Ans Wildenspring: Brot gilt hier als Zukost,
Fleisch wird nnr zur Kirmeß gegessen, aber dann ein recht fettes Stück, das
eine "ordentliche Brühe" giebt.

notwendigerweise ist der Schnapskonsum bei solchen Verhältnissen enorm;
der Schnaps macht den Magen warm, heißt es. Bei Ilmenau giebt es Dörfer,
in welchen die Frauen den Männern im Schnapsgenuß nicht nachstehen; sogar
Kindern wird das Feuerwasser verabreicht. Dazu kommt das Arbeiten in den
Fabriken. Diese Abkehr vom kärglichen aber gesunden Bauernleben, das Zu-
sammenhvcken in den dumpfen Arbeitsräumen und infolge davon das frühe
Heiraten hat an manchen Orten eine Degeneration des Geschlechtes herbei¬
geführt, und zwar nnter wachsender Kinderzahl.

Einige Orte bieten wieder ein erfreulicheres Bild, z. B- Marksuhl. Trotz
der Vermehrung der Kneipen infolge der Gewerbefreiheit sieht man selten Be¬
trunkene; auch außereheliche Geburten kommen selten vor. Der ganze Ort hat
sich seit der Durchführung der Separation gehoben; Feldfrüchte, die früher
kaum für die Einwohner ausreichten, werden jetzt exportirt, die Leute haben
Freude am Erwerb und sind sparsam geworden. Mau sieht hieraus deutlich,
in welchem innigen Znsammenhnnge Volkscharakter und Bodenkultur stehen.

Auch für den Mythen- und Sagenforscher bringt die Kirchhoffsche Zu¬
sammenstellung Material, nicht minder für den Dialektkündigen. Es würde zu
weit führen, Einzelheiten daraus zu berichten, aber aus dem Wenigen, was
angegeben ist, kann man leicht scheu, daß man in der That in Thüringen noch
Entdeckungsreisen machen kann, wenn man nur das Zeug dazu hat.

Ein glücklicher Zufall ist es, daß gerade auf dem Boden des Thüringer¬
waldes die ersten Untersuchungen landeskundlicher Art angestellt worden sind:
fast kein Gebiet im ganzen deutschen Vaterlande ist so besucht wie Thüringen,
keins den Touristen so bekannt, und so kann an diesem Lande gerade auch in
Laienkreisen das Interesse für eine wissenschaftliche Landesknnde wachgerufen
werden.

War die Kirchhoffsche Arbeit eine Zusammenstellung bestehender Thatsachen,
so sucht die eingangserwähnte Studie des Jenenser Privatdozenten Fritz Regel
(Die Entwicklung der Ortschaften im Thüringerwalde) "unter möglichster Be¬
rücksichtigung der natürlichen und historischen Verhältnisse die ursächlichen Mo¬
mente darzulegen, welche die Entwicklung der hier auftretenden Siedlungen be¬
einflußt und somit die gegenwärtig erreichte wirtschaftliche Lage herbeigeführt
haben."


Bestrebungen für eine wissenschaftliche Landeskunde Deutschlands.

Aus Mechterstedt im Vorlande wird berichtet: Fleisch kommt wenig auf
den Tisch, hauptsächlich Kartoffeln und Mehlspeisen; als Kaffee dient ein Auf¬
guß auf gebrannte Runkelrüben; ein warmes Mittagsbrod ist in der Woche
selten, die Hauptmahlzeit fällt auf den Abend. Aus Bohlen: viel Kartoffeln,
wenig Brot; kommt einmal Fleisch auf den Tisch, so muß ein Pfund für sechs
bis acht Personen ausreichen. Ans Wildenspring: Brot gilt hier als Zukost,
Fleisch wird nnr zur Kirmeß gegessen, aber dann ein recht fettes Stück, das
eine „ordentliche Brühe" giebt.

notwendigerweise ist der Schnapskonsum bei solchen Verhältnissen enorm;
der Schnaps macht den Magen warm, heißt es. Bei Ilmenau giebt es Dörfer,
in welchen die Frauen den Männern im Schnapsgenuß nicht nachstehen; sogar
Kindern wird das Feuerwasser verabreicht. Dazu kommt das Arbeiten in den
Fabriken. Diese Abkehr vom kärglichen aber gesunden Bauernleben, das Zu-
sammenhvcken in den dumpfen Arbeitsräumen und infolge davon das frühe
Heiraten hat an manchen Orten eine Degeneration des Geschlechtes herbei¬
geführt, und zwar nnter wachsender Kinderzahl.

Einige Orte bieten wieder ein erfreulicheres Bild, z. B- Marksuhl. Trotz
der Vermehrung der Kneipen infolge der Gewerbefreiheit sieht man selten Be¬
trunkene; auch außereheliche Geburten kommen selten vor. Der ganze Ort hat
sich seit der Durchführung der Separation gehoben; Feldfrüchte, die früher
kaum für die Einwohner ausreichten, werden jetzt exportirt, die Leute haben
Freude am Erwerb und sind sparsam geworden. Mau sieht hieraus deutlich,
in welchem innigen Znsammenhnnge Volkscharakter und Bodenkultur stehen.

Auch für den Mythen- und Sagenforscher bringt die Kirchhoffsche Zu¬
sammenstellung Material, nicht minder für den Dialektkündigen. Es würde zu
weit führen, Einzelheiten daraus zu berichten, aber aus dem Wenigen, was
angegeben ist, kann man leicht scheu, daß man in der That in Thüringen noch
Entdeckungsreisen machen kann, wenn man nur das Zeug dazu hat.

Ein glücklicher Zufall ist es, daß gerade auf dem Boden des Thüringer¬
waldes die ersten Untersuchungen landeskundlicher Art angestellt worden sind:
fast kein Gebiet im ganzen deutschen Vaterlande ist so besucht wie Thüringen,
keins den Touristen so bekannt, und so kann an diesem Lande gerade auch in
Laienkreisen das Interesse für eine wissenschaftliche Landesknnde wachgerufen
werden.

War die Kirchhoffsche Arbeit eine Zusammenstellung bestehender Thatsachen,
so sucht die eingangserwähnte Studie des Jenenser Privatdozenten Fritz Regel
(Die Entwicklung der Ortschaften im Thüringerwalde) „unter möglichster Be¬
rücksichtigung der natürlichen und historischen Verhältnisse die ursächlichen Mo¬
mente darzulegen, welche die Entwicklung der hier auftretenden Siedlungen be¬
einflußt und somit die gegenwärtig erreichte wirtschaftliche Lage herbeigeführt
haben."


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[0031] Bestrebungen für eine wissenschaftliche Landeskunde Deutschlands. Aus Mechterstedt im Vorlande wird berichtet: Fleisch kommt wenig auf den Tisch, hauptsächlich Kartoffeln und Mehlspeisen; als Kaffee dient ein Auf¬ guß auf gebrannte Runkelrüben; ein warmes Mittagsbrod ist in der Woche selten, die Hauptmahlzeit fällt auf den Abend. Aus Bohlen: viel Kartoffeln, wenig Brot; kommt einmal Fleisch auf den Tisch, so muß ein Pfund für sechs bis acht Personen ausreichen. Ans Wildenspring: Brot gilt hier als Zukost, Fleisch wird nnr zur Kirmeß gegessen, aber dann ein recht fettes Stück, das eine „ordentliche Brühe" giebt. notwendigerweise ist der Schnapskonsum bei solchen Verhältnissen enorm; der Schnaps macht den Magen warm, heißt es. Bei Ilmenau giebt es Dörfer, in welchen die Frauen den Männern im Schnapsgenuß nicht nachstehen; sogar Kindern wird das Feuerwasser verabreicht. Dazu kommt das Arbeiten in den Fabriken. Diese Abkehr vom kärglichen aber gesunden Bauernleben, das Zu- sammenhvcken in den dumpfen Arbeitsräumen und infolge davon das frühe Heiraten hat an manchen Orten eine Degeneration des Geschlechtes herbei¬ geführt, und zwar nnter wachsender Kinderzahl. Einige Orte bieten wieder ein erfreulicheres Bild, z. B- Marksuhl. Trotz der Vermehrung der Kneipen infolge der Gewerbefreiheit sieht man selten Be¬ trunkene; auch außereheliche Geburten kommen selten vor. Der ganze Ort hat sich seit der Durchführung der Separation gehoben; Feldfrüchte, die früher kaum für die Einwohner ausreichten, werden jetzt exportirt, die Leute haben Freude am Erwerb und sind sparsam geworden. Mau sieht hieraus deutlich, in welchem innigen Znsammenhnnge Volkscharakter und Bodenkultur stehen. Auch für den Mythen- und Sagenforscher bringt die Kirchhoffsche Zu¬ sammenstellung Material, nicht minder für den Dialektkündigen. Es würde zu weit führen, Einzelheiten daraus zu berichten, aber aus dem Wenigen, was angegeben ist, kann man leicht scheu, daß man in der That in Thüringen noch Entdeckungsreisen machen kann, wenn man nur das Zeug dazu hat. Ein glücklicher Zufall ist es, daß gerade auf dem Boden des Thüringer¬ waldes die ersten Untersuchungen landeskundlicher Art angestellt worden sind: fast kein Gebiet im ganzen deutschen Vaterlande ist so besucht wie Thüringen, keins den Touristen so bekannt, und so kann an diesem Lande gerade auch in Laienkreisen das Interesse für eine wissenschaftliche Landesknnde wachgerufen werden. War die Kirchhoffsche Arbeit eine Zusammenstellung bestehender Thatsachen, so sucht die eingangserwähnte Studie des Jenenser Privatdozenten Fritz Regel (Die Entwicklung der Ortschaften im Thüringerwalde) „unter möglichster Be¬ rücksichtigung der natürlichen und historischen Verhältnisse die ursächlichen Mo¬ mente darzulegen, welche die Entwicklung der hier auftretenden Siedlungen be¬ einflußt und somit die gegenwärtig erreichte wirtschaftliche Lage herbeigeführt haben."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/31>, abgerufen am 25.08.2024.