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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.

läuft der Abgeordnete durch den längeren Aufenthalt außerhalb der Parlamcnts-
atmosphäre Gefahr, sich von der Existenz von Dingen und Verhältnissen zu
überzeugen, welche laut Fraktionsprogramm nicht existiren dürfen, Wünsche
kennen zu lernen, welche jenem Programm widersprechen, und dadurch in seinen
patentirter Überzeugungen wankend gemacht zu werden. Und dann im allgemeinen!
Da parlamentarische Diskussionen anerkanntermaßen der größte Segen für ein
Volk sind -- wozu denn Pausen in der Segenspendung eintreten lassen? Wer
noch andre Beschäftigungen oder Interessen wahrzunehmen hat, der soll über¬
haupt keine Wahl annehmen, damit endlich das Ideal erreicht werde: eine Ver¬
sammlung von lauter professionellen, beinahe möchte ich sagen zünftigen Parla¬
mentariern, welche wie bei dem Eintritt in einen geistlichen Orden geloben, die
Profane Welt hinter sich zu lassen, sich einzig der Aufgabe widmen, das Volk
glücklichzureden und dem Fraktionsabt unverbrüchlichen Gehorsam leisten.

Wie bedauerlich es ist, daß die Arbeit an der Vervollkommnung der deut¬
schen Menschheit auch nur auf kurze Zeit unterbrochen wird, wurde mir in den
Rcichstcigssitzungcn am 20. und 21. April wieder recht deutlich, als ich die
klassische Eloquenz verschiedner verehrten Herren von neuem zu bewundern Ge¬
legenheit hatte. Ich sagte mir: Wenn schon Männer der schwieligen Hand wie
der schlichte Arbeiter Herr von Vollmar und der biedere Bauer Herr Dirichlet
in der parlamentarischen Schule sich eine solche Sicherheit in der Handhabung
der feinsten gesellschaftlichen Formen, eine solche Eleganz des Ausdruckes, soviel
attisches Salz angeeignet haben, wenn also nicht mehr ausschließlich von den
Lippen der Herren Richter und Windthorst die tiefsten Gedanken, die höchste
staatsmännische Weisheit in der bezauberndsten Fassung fließen, dann ist
Berlin auf dem besten Wege, für die Gegenwart das zu werden, was Florenz
für das Nenaissaneezeitalter und Paris vor der französischen Revolution war.
Und nnn erst verstand ich, was mir unlängst in Frankfurt gesagt worden war,
daß nämlich in dem "gegen Frankfurt über liegenden Ding" Niedergeschlagenheit
und Verstimmung herrsche, weil die guten Sachsenhauser dnrch die Konkurrenz
mancher Volksvertreter um ihren ererbten und immer frisch erhaltenen Ruhm
unter den Stämmen Deutschlands zu kommen fürchten. Auf dergleichen Sonder¬
interessen kann selbstverständlich keine Rücksicht genommen werden. Wenn
niemand mehr expreß über die Mainbrücke geht, um die feinen Sachsenhauser
kennen zu lernen, so werden dafür die Reisenden nach Deutschland strömen, um
von den ehemals als pedantisch, schwerfällig und formlos Verschrieenen den
guten Ton zu lernen. Denn dank der Tagespresse kommen die Vorträge an
der Akademie der höchste:, Beredsamkeit in der Leipzigerstraße sofort der
ganzen Bevölkerung zustatten. Verfolgen auch die Wenigsten den Gegenstand
der Debatte, so entgehen doch keinem die ausgezeichnetsten Stilblüten, jeder
atmet mit Entzücken ihren Duft ein uns damit nimmt, ihm unbewußt, die Ver¬
feinerung von ihm Besitz. Wie sollte es ohne Einfluß bleiben, wenn die Redner


Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.

läuft der Abgeordnete durch den längeren Aufenthalt außerhalb der Parlamcnts-
atmosphäre Gefahr, sich von der Existenz von Dingen und Verhältnissen zu
überzeugen, welche laut Fraktionsprogramm nicht existiren dürfen, Wünsche
kennen zu lernen, welche jenem Programm widersprechen, und dadurch in seinen
patentirter Überzeugungen wankend gemacht zu werden. Und dann im allgemeinen!
Da parlamentarische Diskussionen anerkanntermaßen der größte Segen für ein
Volk sind — wozu denn Pausen in der Segenspendung eintreten lassen? Wer
noch andre Beschäftigungen oder Interessen wahrzunehmen hat, der soll über¬
haupt keine Wahl annehmen, damit endlich das Ideal erreicht werde: eine Ver¬
sammlung von lauter professionellen, beinahe möchte ich sagen zünftigen Parla¬
mentariern, welche wie bei dem Eintritt in einen geistlichen Orden geloben, die
Profane Welt hinter sich zu lassen, sich einzig der Aufgabe widmen, das Volk
glücklichzureden und dem Fraktionsabt unverbrüchlichen Gehorsam leisten.

Wie bedauerlich es ist, daß die Arbeit an der Vervollkommnung der deut¬
schen Menschheit auch nur auf kurze Zeit unterbrochen wird, wurde mir in den
Rcichstcigssitzungcn am 20. und 21. April wieder recht deutlich, als ich die
klassische Eloquenz verschiedner verehrten Herren von neuem zu bewundern Ge¬
legenheit hatte. Ich sagte mir: Wenn schon Männer der schwieligen Hand wie
der schlichte Arbeiter Herr von Vollmar und der biedere Bauer Herr Dirichlet
in der parlamentarischen Schule sich eine solche Sicherheit in der Handhabung
der feinsten gesellschaftlichen Formen, eine solche Eleganz des Ausdruckes, soviel
attisches Salz angeeignet haben, wenn also nicht mehr ausschließlich von den
Lippen der Herren Richter und Windthorst die tiefsten Gedanken, die höchste
staatsmännische Weisheit in der bezauberndsten Fassung fließen, dann ist
Berlin auf dem besten Wege, für die Gegenwart das zu werden, was Florenz
für das Nenaissaneezeitalter und Paris vor der französischen Revolution war.
Und nnn erst verstand ich, was mir unlängst in Frankfurt gesagt worden war,
daß nämlich in dem „gegen Frankfurt über liegenden Ding" Niedergeschlagenheit
und Verstimmung herrsche, weil die guten Sachsenhauser dnrch die Konkurrenz
mancher Volksvertreter um ihren ererbten und immer frisch erhaltenen Ruhm
unter den Stämmen Deutschlands zu kommen fürchten. Auf dergleichen Sonder¬
interessen kann selbstverständlich keine Rücksicht genommen werden. Wenn
niemand mehr expreß über die Mainbrücke geht, um die feinen Sachsenhauser
kennen zu lernen, so werden dafür die Reisenden nach Deutschland strömen, um
von den ehemals als pedantisch, schwerfällig und formlos Verschrieenen den
guten Ton zu lernen. Denn dank der Tagespresse kommen die Vorträge an
der Akademie der höchste:, Beredsamkeit in der Leipzigerstraße sofort der
ganzen Bevölkerung zustatten. Verfolgen auch die Wenigsten den Gegenstand
der Debatte, so entgehen doch keinem die ausgezeichnetsten Stilblüten, jeder
atmet mit Entzücken ihren Duft ein uns damit nimmt, ihm unbewußt, die Ver¬
feinerung von ihm Besitz. Wie sollte es ohne Einfluß bleiben, wenn die Redner


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[0266] Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten. läuft der Abgeordnete durch den längeren Aufenthalt außerhalb der Parlamcnts- atmosphäre Gefahr, sich von der Existenz von Dingen und Verhältnissen zu überzeugen, welche laut Fraktionsprogramm nicht existiren dürfen, Wünsche kennen zu lernen, welche jenem Programm widersprechen, und dadurch in seinen patentirter Überzeugungen wankend gemacht zu werden. Und dann im allgemeinen! Da parlamentarische Diskussionen anerkanntermaßen der größte Segen für ein Volk sind — wozu denn Pausen in der Segenspendung eintreten lassen? Wer noch andre Beschäftigungen oder Interessen wahrzunehmen hat, der soll über¬ haupt keine Wahl annehmen, damit endlich das Ideal erreicht werde: eine Ver¬ sammlung von lauter professionellen, beinahe möchte ich sagen zünftigen Parla¬ mentariern, welche wie bei dem Eintritt in einen geistlichen Orden geloben, die Profane Welt hinter sich zu lassen, sich einzig der Aufgabe widmen, das Volk glücklichzureden und dem Fraktionsabt unverbrüchlichen Gehorsam leisten. Wie bedauerlich es ist, daß die Arbeit an der Vervollkommnung der deut¬ schen Menschheit auch nur auf kurze Zeit unterbrochen wird, wurde mir in den Rcichstcigssitzungcn am 20. und 21. April wieder recht deutlich, als ich die klassische Eloquenz verschiedner verehrten Herren von neuem zu bewundern Ge¬ legenheit hatte. Ich sagte mir: Wenn schon Männer der schwieligen Hand wie der schlichte Arbeiter Herr von Vollmar und der biedere Bauer Herr Dirichlet in der parlamentarischen Schule sich eine solche Sicherheit in der Handhabung der feinsten gesellschaftlichen Formen, eine solche Eleganz des Ausdruckes, soviel attisches Salz angeeignet haben, wenn also nicht mehr ausschließlich von den Lippen der Herren Richter und Windthorst die tiefsten Gedanken, die höchste staatsmännische Weisheit in der bezauberndsten Fassung fließen, dann ist Berlin auf dem besten Wege, für die Gegenwart das zu werden, was Florenz für das Nenaissaneezeitalter und Paris vor der französischen Revolution war. Und nnn erst verstand ich, was mir unlängst in Frankfurt gesagt worden war, daß nämlich in dem „gegen Frankfurt über liegenden Ding" Niedergeschlagenheit und Verstimmung herrsche, weil die guten Sachsenhauser dnrch die Konkurrenz mancher Volksvertreter um ihren ererbten und immer frisch erhaltenen Ruhm unter den Stämmen Deutschlands zu kommen fürchten. Auf dergleichen Sonder¬ interessen kann selbstverständlich keine Rücksicht genommen werden. Wenn niemand mehr expreß über die Mainbrücke geht, um die feinen Sachsenhauser kennen zu lernen, so werden dafür die Reisenden nach Deutschland strömen, um von den ehemals als pedantisch, schwerfällig und formlos Verschrieenen den guten Ton zu lernen. Denn dank der Tagespresse kommen die Vorträge an der Akademie der höchste:, Beredsamkeit in der Leipzigerstraße sofort der ganzen Bevölkerung zustatten. Verfolgen auch die Wenigsten den Gegenstand der Debatte, so entgehen doch keinem die ausgezeichnetsten Stilblüten, jeder atmet mit Entzücken ihren Duft ein uns damit nimmt, ihm unbewußt, die Ver¬ feinerung von ihm Besitz. Wie sollte es ohne Einfluß bleiben, wenn die Redner

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/266>, abgerufen am 25.08.2024.