Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Fabrik- und Hausindustrie,

auf alle diese Kunstgriffe, die nicht nur in der Weberei, sondern auch in andern
Industrien üblich sind, aufmerksam gemacht zu werden. In der That scheint
hiernach die Unredlichkeit der Fabrikation groß und die Moral in der Volks¬
wirtschaft in bedauerlicher Weise untergraben. Da ist die Belastung und Ver¬
mehrung der Wollgewebe mit Mungo, der Baumwollgewebe mit Chinaclay,
Mehl, Stärke und Mineralstoffen, der Seide mit Eisen, Gerbstoff und Cam-
peche, der Stickwolle mit Zucker und Dextrin, des Leders mit Schwerspat
und Magnesia, der Seide mit Chlormagnesium und Schwerspat, der Farb¬
stosse mit Dextrin, des Papiers mit Thonerde und ähnliches mehr. Ihren
Anfang haben diese Verfälschungen in Großbritannien genommen und von dort
aus sich dem Kontinente mitgeteilt. Besonders ist es daher der englische Frei¬
handel und dessen Einfluß auf die industrielle Thätigkeit, die Grothe mit
scharfen Worten geißelt. Er zieht zur Unterstützung seiner Ansichten die Ur¬
teile der Engländer selbst herbei, wie denn n. a. der berühmte Sociologe Herbert
Spencer es ausgesprochen hat, daß nach seiner Überzeugung der englische Handel
durchaus verderbt (e88vuLg.1I/ korrupt) sei. "Allgemein ist es die Ansicht des
Handelsstandes, daß Erfolg unvereinbar ist mit strikter Redlichkeit" sagt er an
einer Stelle, und an einer andern: "Ein System scharfer Konkurrenz, wie es
besteht ohne moralische Zurückhaltung, erweist sich als ein System kommerziellen
Kannibalismus. Für die Kaufleute in England sind jetzt nur zwei Wege
möglich -- entweder sie adoptiren die Praxis ihrer Mitbewerber oder sie geben
ihr Geschäft auf. Männer, den verschiedensten Branchen und Platzen angehörig,
Männer von natürlicher Gewissenhaftigkeit, welche ausdrücklich sich über die
Erniedrigung ärgerten, der sie unterworfen wurden, haben einer wie der andre
schließlich mit tiefer Trauer erklärt, daß es unmöglich sei, mit strenger Recht¬
lichkeit Handel zu treiben." Und ähnlich erklärt Syene: "England ist her¬
vorragend das Land der Fälschung. Die betrügerischen Gebräuche sind
Regel geworden, ehrlicher Handel ist heutzutage Ausnahme" und macht die
fehlerhaften Doktrinen der englischen ökonomischen Schule dafür verant¬
wortlich. Demgemäß schüttet anch Grothe die Schale seines Unwillens
über England aus. Ein Volkswirtschaftssystem, wie dies Land es betreibe,
vertrete keine Volkswirtschaft mehr, sondern ein Räuber- und Betrugs¬
system.

In der That scheint dem Manchestertum der Vorwurf nicht erspart werden
zu können, daß es durch das schrankenlose Waltcnlassen der freien Konkurrenz
der Entfaltung des menschlichen Eigennutzes und dem Treiben üppiger Schö߬
linge desselben besouders Vorschub geleistet hat. Wohl ist zu allen Zeiten über
Unredlichkeit im Handel geklagt worden. Wer die Geschichte des Handels kennt,
weiß, daß fast so alt wie dieser selbst Beschwerden über Unregelmäßigkeiten sind,
die bei ihm vorkamen. Eine Übervorteilung in gewissen Grenzen scheint demnach in
der Schwäche der menschlichen Natur zu liegen. Auch systematische Fälschungen


Fabrik- und Hausindustrie,

auf alle diese Kunstgriffe, die nicht nur in der Weberei, sondern auch in andern
Industrien üblich sind, aufmerksam gemacht zu werden. In der That scheint
hiernach die Unredlichkeit der Fabrikation groß und die Moral in der Volks¬
wirtschaft in bedauerlicher Weise untergraben. Da ist die Belastung und Ver¬
mehrung der Wollgewebe mit Mungo, der Baumwollgewebe mit Chinaclay,
Mehl, Stärke und Mineralstoffen, der Seide mit Eisen, Gerbstoff und Cam-
peche, der Stickwolle mit Zucker und Dextrin, des Leders mit Schwerspat
und Magnesia, der Seide mit Chlormagnesium und Schwerspat, der Farb¬
stosse mit Dextrin, des Papiers mit Thonerde und ähnliches mehr. Ihren
Anfang haben diese Verfälschungen in Großbritannien genommen und von dort
aus sich dem Kontinente mitgeteilt. Besonders ist es daher der englische Frei¬
handel und dessen Einfluß auf die industrielle Thätigkeit, die Grothe mit
scharfen Worten geißelt. Er zieht zur Unterstützung seiner Ansichten die Ur¬
teile der Engländer selbst herbei, wie denn n. a. der berühmte Sociologe Herbert
Spencer es ausgesprochen hat, daß nach seiner Überzeugung der englische Handel
durchaus verderbt (e88vuLg.1I/ korrupt) sei. „Allgemein ist es die Ansicht des
Handelsstandes, daß Erfolg unvereinbar ist mit strikter Redlichkeit" sagt er an
einer Stelle, und an einer andern: „Ein System scharfer Konkurrenz, wie es
besteht ohne moralische Zurückhaltung, erweist sich als ein System kommerziellen
Kannibalismus. Für die Kaufleute in England sind jetzt nur zwei Wege
möglich — entweder sie adoptiren die Praxis ihrer Mitbewerber oder sie geben
ihr Geschäft auf. Männer, den verschiedensten Branchen und Platzen angehörig,
Männer von natürlicher Gewissenhaftigkeit, welche ausdrücklich sich über die
Erniedrigung ärgerten, der sie unterworfen wurden, haben einer wie der andre
schließlich mit tiefer Trauer erklärt, daß es unmöglich sei, mit strenger Recht¬
lichkeit Handel zu treiben." Und ähnlich erklärt Syene: „England ist her¬
vorragend das Land der Fälschung. Die betrügerischen Gebräuche sind
Regel geworden, ehrlicher Handel ist heutzutage Ausnahme" und macht die
fehlerhaften Doktrinen der englischen ökonomischen Schule dafür verant¬
wortlich. Demgemäß schüttet anch Grothe die Schale seines Unwillens
über England aus. Ein Volkswirtschaftssystem, wie dies Land es betreibe,
vertrete keine Volkswirtschaft mehr, sondern ein Räuber- und Betrugs¬
system.

In der That scheint dem Manchestertum der Vorwurf nicht erspart werden
zu können, daß es durch das schrankenlose Waltcnlassen der freien Konkurrenz
der Entfaltung des menschlichen Eigennutzes und dem Treiben üppiger Schö߬
linge desselben besouders Vorschub geleistet hat. Wohl ist zu allen Zeiten über
Unredlichkeit im Handel geklagt worden. Wer die Geschichte des Handels kennt,
weiß, daß fast so alt wie dieser selbst Beschwerden über Unregelmäßigkeiten sind,
die bei ihm vorkamen. Eine Übervorteilung in gewissen Grenzen scheint demnach in
der Schwäche der menschlichen Natur zu liegen. Auch systematische Fälschungen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0192" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/195581"/>
          <fw type="header" place="top"> Fabrik- und Hausindustrie,</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_653" prev="#ID_652"> auf alle diese Kunstgriffe, die nicht nur in der Weberei, sondern auch in andern<lb/>
Industrien üblich sind, aufmerksam gemacht zu werden. In der That scheint<lb/>
hiernach die Unredlichkeit der Fabrikation groß und die Moral in der Volks¬<lb/>
wirtschaft in bedauerlicher Weise untergraben. Da ist die Belastung und Ver¬<lb/>
mehrung der Wollgewebe mit Mungo, der Baumwollgewebe mit Chinaclay,<lb/>
Mehl, Stärke und Mineralstoffen, der Seide mit Eisen, Gerbstoff und Cam-<lb/>
peche, der Stickwolle mit Zucker und Dextrin, des Leders mit Schwerspat<lb/>
und Magnesia, der Seide mit Chlormagnesium und Schwerspat, der Farb¬<lb/>
stosse mit Dextrin, des Papiers mit Thonerde und ähnliches mehr. Ihren<lb/>
Anfang haben diese Verfälschungen in Großbritannien genommen und von dort<lb/>
aus sich dem Kontinente mitgeteilt. Besonders ist es daher der englische Frei¬<lb/>
handel und dessen Einfluß auf die industrielle Thätigkeit, die Grothe mit<lb/>
scharfen Worten geißelt. Er zieht zur Unterstützung seiner Ansichten die Ur¬<lb/>
teile der Engländer selbst herbei, wie denn n. a. der berühmte Sociologe Herbert<lb/>
Spencer es ausgesprochen hat, daß nach seiner Überzeugung der englische Handel<lb/>
durchaus verderbt (e88vuLg.1I/ korrupt) sei. &#x201E;Allgemein ist es die Ansicht des<lb/>
Handelsstandes, daß Erfolg unvereinbar ist mit strikter Redlichkeit" sagt er an<lb/>
einer Stelle, und an einer andern: &#x201E;Ein System scharfer Konkurrenz, wie es<lb/>
besteht ohne moralische Zurückhaltung, erweist sich als ein System kommerziellen<lb/>
Kannibalismus. Für die Kaufleute in England sind jetzt nur zwei Wege<lb/>
möglich &#x2014; entweder sie adoptiren die Praxis ihrer Mitbewerber oder sie geben<lb/>
ihr Geschäft auf. Männer, den verschiedensten Branchen und Platzen angehörig,<lb/>
Männer von natürlicher Gewissenhaftigkeit, welche ausdrücklich sich über die<lb/>
Erniedrigung ärgerten, der sie unterworfen wurden, haben einer wie der andre<lb/>
schließlich mit tiefer Trauer erklärt, daß es unmöglich sei, mit strenger Recht¬<lb/>
lichkeit Handel zu treiben." Und ähnlich erklärt Syene: &#x201E;England ist her¬<lb/>
vorragend das Land der Fälschung. Die betrügerischen Gebräuche sind<lb/>
Regel geworden, ehrlicher Handel ist heutzutage Ausnahme" und macht die<lb/>
fehlerhaften Doktrinen der englischen ökonomischen Schule dafür verant¬<lb/>
wortlich. Demgemäß schüttet anch Grothe die Schale seines Unwillens<lb/>
über England aus. Ein Volkswirtschaftssystem, wie dies Land es betreibe,<lb/>
vertrete keine Volkswirtschaft mehr, sondern ein Räuber- und Betrugs¬<lb/>
system.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_654" next="#ID_655"> In der That scheint dem Manchestertum der Vorwurf nicht erspart werden<lb/>
zu können, daß es durch das schrankenlose Waltcnlassen der freien Konkurrenz<lb/>
der Entfaltung des menschlichen Eigennutzes und dem Treiben üppiger Schö߬<lb/>
linge desselben besouders Vorschub geleistet hat. Wohl ist zu allen Zeiten über<lb/>
Unredlichkeit im Handel geklagt worden. Wer die Geschichte des Handels kennt,<lb/>
weiß, daß fast so alt wie dieser selbst Beschwerden über Unregelmäßigkeiten sind,<lb/>
die bei ihm vorkamen. Eine Übervorteilung in gewissen Grenzen scheint demnach in<lb/>
der Schwäche der menschlichen Natur zu liegen. Auch systematische Fälschungen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0192] Fabrik- und Hausindustrie, auf alle diese Kunstgriffe, die nicht nur in der Weberei, sondern auch in andern Industrien üblich sind, aufmerksam gemacht zu werden. In der That scheint hiernach die Unredlichkeit der Fabrikation groß und die Moral in der Volks¬ wirtschaft in bedauerlicher Weise untergraben. Da ist die Belastung und Ver¬ mehrung der Wollgewebe mit Mungo, der Baumwollgewebe mit Chinaclay, Mehl, Stärke und Mineralstoffen, der Seide mit Eisen, Gerbstoff und Cam- peche, der Stickwolle mit Zucker und Dextrin, des Leders mit Schwerspat und Magnesia, der Seide mit Chlormagnesium und Schwerspat, der Farb¬ stosse mit Dextrin, des Papiers mit Thonerde und ähnliches mehr. Ihren Anfang haben diese Verfälschungen in Großbritannien genommen und von dort aus sich dem Kontinente mitgeteilt. Besonders ist es daher der englische Frei¬ handel und dessen Einfluß auf die industrielle Thätigkeit, die Grothe mit scharfen Worten geißelt. Er zieht zur Unterstützung seiner Ansichten die Ur¬ teile der Engländer selbst herbei, wie denn n. a. der berühmte Sociologe Herbert Spencer es ausgesprochen hat, daß nach seiner Überzeugung der englische Handel durchaus verderbt (e88vuLg.1I/ korrupt) sei. „Allgemein ist es die Ansicht des Handelsstandes, daß Erfolg unvereinbar ist mit strikter Redlichkeit" sagt er an einer Stelle, und an einer andern: „Ein System scharfer Konkurrenz, wie es besteht ohne moralische Zurückhaltung, erweist sich als ein System kommerziellen Kannibalismus. Für die Kaufleute in England sind jetzt nur zwei Wege möglich — entweder sie adoptiren die Praxis ihrer Mitbewerber oder sie geben ihr Geschäft auf. Männer, den verschiedensten Branchen und Platzen angehörig, Männer von natürlicher Gewissenhaftigkeit, welche ausdrücklich sich über die Erniedrigung ärgerten, der sie unterworfen wurden, haben einer wie der andre schließlich mit tiefer Trauer erklärt, daß es unmöglich sei, mit strenger Recht¬ lichkeit Handel zu treiben." Und ähnlich erklärt Syene: „England ist her¬ vorragend das Land der Fälschung. Die betrügerischen Gebräuche sind Regel geworden, ehrlicher Handel ist heutzutage Ausnahme" und macht die fehlerhaften Doktrinen der englischen ökonomischen Schule dafür verant¬ wortlich. Demgemäß schüttet anch Grothe die Schale seines Unwillens über England aus. Ein Volkswirtschaftssystem, wie dies Land es betreibe, vertrete keine Volkswirtschaft mehr, sondern ein Räuber- und Betrugs¬ system. In der That scheint dem Manchestertum der Vorwurf nicht erspart werden zu können, daß es durch das schrankenlose Waltcnlassen der freien Konkurrenz der Entfaltung des menschlichen Eigennutzes und dem Treiben üppiger Schö߬ linge desselben besouders Vorschub geleistet hat. Wohl ist zu allen Zeiten über Unredlichkeit im Handel geklagt worden. Wer die Geschichte des Handels kennt, weiß, daß fast so alt wie dieser selbst Beschwerden über Unregelmäßigkeiten sind, die bei ihm vorkamen. Eine Übervorteilung in gewissen Grenzen scheint demnach in der Schwäche der menschlichen Natur zu liegen. Auch systematische Fälschungen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/192
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/192>, abgerufen am 22.07.2024.