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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Englands Mittel zur Verteidigung Indiens.

wohl geeignet. So giebt es für die Russen nur zwei Straßen zum Angriffe:
die von Taschkend nach Buchara und der Oase von Merw und dann über die
Passe des nicht sehr hohen Barchut-Gebirges nach Herat, und die vom Kaspischen
Meere durch Persien gleichfalls nach Herat führende. Von hier aus wäre dann
entweder über Kandahar und Kabul durch den Chaiber-Paß nach Peschawer
oder über Kandahar durch den Botan-Paß und Beludschistan nach dem untern
Indus vorzurücken. Die Straße, welche ein vom Kaspischen Meere kommendes
russisches Heer einzuschlagen hätte, ginge zunächst nach Teheran, dann südöstlich
nach der heiligen Stadt Mesched, hierauf rein östlich über Schachrud, Bostan,
Sabsawar und Nischapur nach Herat und zuletzt über Kandahar nach den ge¬
nannten indischen Grenzpässen. Sie ist es, welche der an ihr gelegenen Oasen¬
stadt Herat ihre strategische Wichtigkeit in einem russisch-englischen Kriege in
Asien verleiht. Herat würde mit diesem "Königswegc" und seiner äußerst frucht¬
baren Umgebung eine vortreffliche Etappe für ein zunächst gegen die Haupt¬
orte Afghanistans, dann gegen den Nordwesten Vritisch-Jndiens heranziehendes
russisches Heer sein.

Da Herat seit etwa zwölf Jahren dem Emir von Afghanistan gehört, so
könnte ihn sein Interesse auf ein Bündnis mit England hinweisen, welches letz¬
terem gestattete, die Stadt mit seinen Truppen zu besetzen, wenn die Russen
bestimmte Absichten auf dieselbe verrieten. Er könnte dann den Engländern
ein ziemlich zahlreiches Heer an die Seite stellen, das eine brauchbare Reiterei
hätte, wogegen dessen Artillerie nicht viel und die nur zum kleinen Teile mit
Snyder-Gewehren bewaffnete Infanterie auch nur mäßigen Wert haben würde.
Es wäre aber sehr möglich, daß Abdurrachmau sich trotz seiner Zusammenkunft
mit Lord Dufferin, zu der er sich nur zögernd begab, und trotz der von ihm
dabei abgegebenen "sehr befriedigenden" Versprechungen, falls Rußlands Ernst
machte und seine Macht greifbarer entwickelte, wesentlich anders besänne, etwaige
Zusicherungen von dieser Seite als vorteilhafter erkannte und wenigstens neutral
zu bleiben versuchte. Ähnlich dürfte die Haltung Persiens sein. Es scheint,
daß bald nachdem die vizeköniglichen Behörden in Kalkutta vom Einrücken der
Truppen General Komaroffs in den Landstrich östlich und südlich von Sarachs
Kenntnis erhalten hatten, der englische Gesandte in Teheran um Auskunft über
die Streitkräfte ersucht wurde, über welche der Schah verfüge. Man beant¬
wortete diese Anfrage mit einem ausführlichen Berichte, der dahin ging, Persien
könne unter Umstanden eine Fülle Rohmaterial zu einer ganz vorzüglichen
Armee liefern, und obwohl dessen jetzige organisirte Streitmacht in vielen Be¬
ziehungen zu wünschen übrig ließe, könne sie doch, von einer genügenden An¬
zahl europäischer Offiziere befehligt, gute Dienste leisten. Im Falle der Not
würden die persischen Kurden, Farsis, Chasserius und andre Nomadenstämme
Chorassans 100 000 Reiter von gleicher Güte stellen können wie die Kosaken
und Turkmenen, über die Rußland verfüge, indessen ließe sich diese irreguläre


Englands Mittel zur Verteidigung Indiens.

wohl geeignet. So giebt es für die Russen nur zwei Straßen zum Angriffe:
die von Taschkend nach Buchara und der Oase von Merw und dann über die
Passe des nicht sehr hohen Barchut-Gebirges nach Herat, und die vom Kaspischen
Meere durch Persien gleichfalls nach Herat führende. Von hier aus wäre dann
entweder über Kandahar und Kabul durch den Chaiber-Paß nach Peschawer
oder über Kandahar durch den Botan-Paß und Beludschistan nach dem untern
Indus vorzurücken. Die Straße, welche ein vom Kaspischen Meere kommendes
russisches Heer einzuschlagen hätte, ginge zunächst nach Teheran, dann südöstlich
nach der heiligen Stadt Mesched, hierauf rein östlich über Schachrud, Bostan,
Sabsawar und Nischapur nach Herat und zuletzt über Kandahar nach den ge¬
nannten indischen Grenzpässen. Sie ist es, welche der an ihr gelegenen Oasen¬
stadt Herat ihre strategische Wichtigkeit in einem russisch-englischen Kriege in
Asien verleiht. Herat würde mit diesem „Königswegc" und seiner äußerst frucht¬
baren Umgebung eine vortreffliche Etappe für ein zunächst gegen die Haupt¬
orte Afghanistans, dann gegen den Nordwesten Vritisch-Jndiens heranziehendes
russisches Heer sein.

Da Herat seit etwa zwölf Jahren dem Emir von Afghanistan gehört, so
könnte ihn sein Interesse auf ein Bündnis mit England hinweisen, welches letz¬
terem gestattete, die Stadt mit seinen Truppen zu besetzen, wenn die Russen
bestimmte Absichten auf dieselbe verrieten. Er könnte dann den Engländern
ein ziemlich zahlreiches Heer an die Seite stellen, das eine brauchbare Reiterei
hätte, wogegen dessen Artillerie nicht viel und die nur zum kleinen Teile mit
Snyder-Gewehren bewaffnete Infanterie auch nur mäßigen Wert haben würde.
Es wäre aber sehr möglich, daß Abdurrachmau sich trotz seiner Zusammenkunft
mit Lord Dufferin, zu der er sich nur zögernd begab, und trotz der von ihm
dabei abgegebenen „sehr befriedigenden" Versprechungen, falls Rußlands Ernst
machte und seine Macht greifbarer entwickelte, wesentlich anders besänne, etwaige
Zusicherungen von dieser Seite als vorteilhafter erkannte und wenigstens neutral
zu bleiben versuchte. Ähnlich dürfte die Haltung Persiens sein. Es scheint,
daß bald nachdem die vizeköniglichen Behörden in Kalkutta vom Einrücken der
Truppen General Komaroffs in den Landstrich östlich und südlich von Sarachs
Kenntnis erhalten hatten, der englische Gesandte in Teheran um Auskunft über
die Streitkräfte ersucht wurde, über welche der Schah verfüge. Man beant¬
wortete diese Anfrage mit einem ausführlichen Berichte, der dahin ging, Persien
könne unter Umstanden eine Fülle Rohmaterial zu einer ganz vorzüglichen
Armee liefern, und obwohl dessen jetzige organisirte Streitmacht in vielen Be¬
ziehungen zu wünschen übrig ließe, könne sie doch, von einer genügenden An¬
zahl europäischer Offiziere befehligt, gute Dienste leisten. Im Falle der Not
würden die persischen Kurden, Farsis, Chasserius und andre Nomadenstämme
Chorassans 100 000 Reiter von gleicher Güte stellen können wie die Kosaken
und Turkmenen, über die Rußland verfüge, indessen ließe sich diese irreguläre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/175>, abgerufen am 22.07.2024.