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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Englands Mittel zur Verteidigung Indiens.

Wohlstand desselben ist gestiegen und würde noch höher stehen, wenn es nicht
infolge von Dürre wiederholt von schrecklicher Hungersnot heimgesucht worden
wäre. Für die Bildung des Volkes ist mancherlei geschehen, es giebt zahlreiche
Schulen für die niederen und Akademien für die höhern Klassen, für welche
damit die Teilnahme an der Verwaltung des Landes angebahnt ist. Es
sind Zeitungen in der Hauptverkehrssprache Indiens, dein Urdu, entstanden,
und so hat sich eine öffentliche Meinung entwickelt, die freilich auch Gefahren
in sich birgt, da die Bevölkerung indischer Abkunft, die sich zu 75 Prozent aus
Heiden, zu 22 Prozent aus Mnslimen zusammensetzt, sich mit den Briten und
Christen noch lange nicht so assimilirt hat, daß man sich als durch dieselben
Interessen vereint fühlen könnte, und da mit der Bildung sich der Gedanke
nationaler Zusammengehörigkeit gegenüber den Fremden und das Bewußtsein
einstellen mußten, die Herrschaft derselben durch die Überzahl abschütteln zu können.
Regungen der Art waren in der einheimischen Presse mehrfach zu beobachten,
und was im Stillen in den Gemütern vorgehen mag -- namentlich in den
Kreisen der Muhammedaner des Pendschab --, entzieht sich zwar der Be¬
obachtung, läßt sich aber vermuten, wenn man sich erinnert, daß gerade der
kräftigste Teil der Bevölkerung erst vor etwa einem Menschenalter seine Un¬
abhängigkeit verloren hat, und wenn man weiß, wie die neuesten Ereignisse im
Sudan ans die ganze Welt des Islam gewirkt haben. Selbst die heidnischen
Hindus, die weniger energischen Charakters sind, lassen sich nicht sür alle Fälle
berechnen, und sogar die aus ihrer Mitte gewordenen Truppen wurden wieder¬
holt vom Geiste der Empörung ergriffen. 1844 mußte eine Meuterei der
Sipohregimenter von Bengalen unterdrückt werden, und dreizehn Jahre später
brach die große Rebellion der eingebornen Truppen aus, die sich ohne Vorbe¬
reitung durch eine weitverzweigte Verschwörung und ohne einen festgestellten
allgemeinen Plan und Zweck fast mit Blitzesschnelle über einen sehr großen
Teil des Landes verbreitete. Verursacht wurde sie teils durch drückende Steuern,
unmenschliches Verfahren von Beamten und verschiedne Mißgriffe politischer
Natur, teils durch Neuerungen, die gegen die altgewohnten Sitten und Mei¬
nungen verstießen und das Ansehen der Bramanen bedrohten. Der Ausbruch
der Empörung traf die Europäer ahnungslos, und wenn sie nicht das ganze
Land ergriff, so hatte mau es nur dem Umstände zu danken, daß die erst kurz
vorher unterworfenen Sikhs sich ihr nicht anschlössen, und daß der eingeborne
Regent von Hyderabad Versuche zum Aufstände sofort energisch unterdrückte.
Immerhin währte der Kampf mit den Rebellen über anderthalb Jahre. Seit¬
dem ist viel reformirt und mancher Mißbrauch abgeschafft, manche Vorsichts¬
maßregel getroffen worden. Allein vollkommen sicher ist man jetzt wohl vor
einem Aufstande wie der damalige, nicht aber vor einer von außen angefachten
Erhebung der muhammedanischen Elemente im Pendschab. Auch sind die ein¬
gebornen Feudalfürsten Indiens in Rechnung zu ziehen, deren Besitzungen un-


Englands Mittel zur Verteidigung Indiens.

Wohlstand desselben ist gestiegen und würde noch höher stehen, wenn es nicht
infolge von Dürre wiederholt von schrecklicher Hungersnot heimgesucht worden
wäre. Für die Bildung des Volkes ist mancherlei geschehen, es giebt zahlreiche
Schulen für die niederen und Akademien für die höhern Klassen, für welche
damit die Teilnahme an der Verwaltung des Landes angebahnt ist. Es
sind Zeitungen in der Hauptverkehrssprache Indiens, dein Urdu, entstanden,
und so hat sich eine öffentliche Meinung entwickelt, die freilich auch Gefahren
in sich birgt, da die Bevölkerung indischer Abkunft, die sich zu 75 Prozent aus
Heiden, zu 22 Prozent aus Mnslimen zusammensetzt, sich mit den Briten und
Christen noch lange nicht so assimilirt hat, daß man sich als durch dieselben
Interessen vereint fühlen könnte, und da mit der Bildung sich der Gedanke
nationaler Zusammengehörigkeit gegenüber den Fremden und das Bewußtsein
einstellen mußten, die Herrschaft derselben durch die Überzahl abschütteln zu können.
Regungen der Art waren in der einheimischen Presse mehrfach zu beobachten,
und was im Stillen in den Gemütern vorgehen mag — namentlich in den
Kreisen der Muhammedaner des Pendschab —, entzieht sich zwar der Be¬
obachtung, läßt sich aber vermuten, wenn man sich erinnert, daß gerade der
kräftigste Teil der Bevölkerung erst vor etwa einem Menschenalter seine Un¬
abhängigkeit verloren hat, und wenn man weiß, wie die neuesten Ereignisse im
Sudan ans die ganze Welt des Islam gewirkt haben. Selbst die heidnischen
Hindus, die weniger energischen Charakters sind, lassen sich nicht sür alle Fälle
berechnen, und sogar die aus ihrer Mitte gewordenen Truppen wurden wieder¬
holt vom Geiste der Empörung ergriffen. 1844 mußte eine Meuterei der
Sipohregimenter von Bengalen unterdrückt werden, und dreizehn Jahre später
brach die große Rebellion der eingebornen Truppen aus, die sich ohne Vorbe¬
reitung durch eine weitverzweigte Verschwörung und ohne einen festgestellten
allgemeinen Plan und Zweck fast mit Blitzesschnelle über einen sehr großen
Teil des Landes verbreitete. Verursacht wurde sie teils durch drückende Steuern,
unmenschliches Verfahren von Beamten und verschiedne Mißgriffe politischer
Natur, teils durch Neuerungen, die gegen die altgewohnten Sitten und Mei¬
nungen verstießen und das Ansehen der Bramanen bedrohten. Der Ausbruch
der Empörung traf die Europäer ahnungslos, und wenn sie nicht das ganze
Land ergriff, so hatte mau es nur dem Umstände zu danken, daß die erst kurz
vorher unterworfenen Sikhs sich ihr nicht anschlössen, und daß der eingeborne
Regent von Hyderabad Versuche zum Aufstände sofort energisch unterdrückte.
Immerhin währte der Kampf mit den Rebellen über anderthalb Jahre. Seit¬
dem ist viel reformirt und mancher Mißbrauch abgeschafft, manche Vorsichts¬
maßregel getroffen worden. Allein vollkommen sicher ist man jetzt wohl vor
einem Aufstande wie der damalige, nicht aber vor einer von außen angefachten
Erhebung der muhammedanischen Elemente im Pendschab. Auch sind die ein¬
gebornen Feudalfürsten Indiens in Rechnung zu ziehen, deren Besitzungen un-


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[0173] Englands Mittel zur Verteidigung Indiens. Wohlstand desselben ist gestiegen und würde noch höher stehen, wenn es nicht infolge von Dürre wiederholt von schrecklicher Hungersnot heimgesucht worden wäre. Für die Bildung des Volkes ist mancherlei geschehen, es giebt zahlreiche Schulen für die niederen und Akademien für die höhern Klassen, für welche damit die Teilnahme an der Verwaltung des Landes angebahnt ist. Es sind Zeitungen in der Hauptverkehrssprache Indiens, dein Urdu, entstanden, und so hat sich eine öffentliche Meinung entwickelt, die freilich auch Gefahren in sich birgt, da die Bevölkerung indischer Abkunft, die sich zu 75 Prozent aus Heiden, zu 22 Prozent aus Mnslimen zusammensetzt, sich mit den Briten und Christen noch lange nicht so assimilirt hat, daß man sich als durch dieselben Interessen vereint fühlen könnte, und da mit der Bildung sich der Gedanke nationaler Zusammengehörigkeit gegenüber den Fremden und das Bewußtsein einstellen mußten, die Herrschaft derselben durch die Überzahl abschütteln zu können. Regungen der Art waren in der einheimischen Presse mehrfach zu beobachten, und was im Stillen in den Gemütern vorgehen mag — namentlich in den Kreisen der Muhammedaner des Pendschab —, entzieht sich zwar der Be¬ obachtung, läßt sich aber vermuten, wenn man sich erinnert, daß gerade der kräftigste Teil der Bevölkerung erst vor etwa einem Menschenalter seine Un¬ abhängigkeit verloren hat, und wenn man weiß, wie die neuesten Ereignisse im Sudan ans die ganze Welt des Islam gewirkt haben. Selbst die heidnischen Hindus, die weniger energischen Charakters sind, lassen sich nicht sür alle Fälle berechnen, und sogar die aus ihrer Mitte gewordenen Truppen wurden wieder¬ holt vom Geiste der Empörung ergriffen. 1844 mußte eine Meuterei der Sipohregimenter von Bengalen unterdrückt werden, und dreizehn Jahre später brach die große Rebellion der eingebornen Truppen aus, die sich ohne Vorbe¬ reitung durch eine weitverzweigte Verschwörung und ohne einen festgestellten allgemeinen Plan und Zweck fast mit Blitzesschnelle über einen sehr großen Teil des Landes verbreitete. Verursacht wurde sie teils durch drückende Steuern, unmenschliches Verfahren von Beamten und verschiedne Mißgriffe politischer Natur, teils durch Neuerungen, die gegen die altgewohnten Sitten und Mei¬ nungen verstießen und das Ansehen der Bramanen bedrohten. Der Ausbruch der Empörung traf die Europäer ahnungslos, und wenn sie nicht das ganze Land ergriff, so hatte mau es nur dem Umstände zu danken, daß die erst kurz vorher unterworfenen Sikhs sich ihr nicht anschlössen, und daß der eingeborne Regent von Hyderabad Versuche zum Aufstände sofort energisch unterdrückte. Immerhin währte der Kampf mit den Rebellen über anderthalb Jahre. Seit¬ dem ist viel reformirt und mancher Mißbrauch abgeschafft, manche Vorsichts¬ maßregel getroffen worden. Allein vollkommen sicher ist man jetzt wohl vor einem Aufstande wie der damalige, nicht aber vor einer von außen angefachten Erhebung der muhammedanischen Elemente im Pendschab. Auch sind die ein¬ gebornen Feudalfürsten Indiens in Rechnung zu ziehen, deren Besitzungen un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/173>, abgerufen am 22.07.2024.