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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Das Ministerium Brisson.

des Kaiserreiches im Jahre 1870 hat die dritte Republik achtzehn Ministerien
über den Haufen geworfen und rund etwa zweihundert Minister verbraucht.
Die Dauer des einzelnen Ministeriums betrug im Durchschnitte nicht ganz
neun Monate; Ferry, der die Geschäfte am längsten geführt hat, war das erste
mal vierzehn Monate, das zweitemal etwas über zwei Jahre an der Spitze.
Was das eine Ministerium in seinem kurzen Dasein mühsam geschaffen, hat
das nächste wieder eingerissen; was das eine an notdürftigen Sicherungs-
maßregeln gegen die staatsfeindlichen Angriffe der Radikalen aufgerichtet, hat
das nächste wieder umgeworfen. Nach vierzehn Jahren glorreichen Bestandes
des parlamentarischen Regiments ist das Land in unglückliche auswärtige Unter¬
nehmungen verwickelt, im Innern steht die Anarchie vor der Thür, und die
Schuldenlast ist zu einer unter dem Kaiserreiche nie geahnten Höhe gewachsen.
Die Verwaltung wird nicht mehr von unabhängigen Beamten geleitet, soudern
nach Gunst und Willkür der Deputirten gehandhabt; die Korruption dringt auf
allen Wegen ein, und die Minister, welche ihre Kraft daran setzen, dem
direktionsloscn Staate eine Zeit lang Halt und besonnene Leitung zu geben,
werden von betrunkenen Pöbclhcmfen beschimpft und vor die Thür geworfen,
wenn eine Anzahl neidischer Parlamentarier ihr Gelüste nach deren Plätzen nicht
länger unterdrücken kann.

Als der Deputirte Clemeuceau dem Ministerpräsidenten Ferry wegen der
Lappalie von Lang-Son in der Kammer zurief, er habe keine Minister mehr
vor sich, sondern Angeklagte, und zwar des Hochverrats Angeklagte, lächelte
Ferry, worauf ein andrer Deputirter zur Aufnahme in das Journal oKeiel
konstatirte, daß die Minister zu lachen wagen. "Er hat gelacht, meine Herren
-- rief dieser Volksvertreter -- er hat wirklich gelacht!" Ja, er hat freilich
gelacht und wird, wenn ihn diese jammervolle Komödie nicht erbarmt, noch
öfter über diese Spaßmacher lachen, und mit Recht.

Das parlamentarische Regiment, bekanntlich auch das Ideal des deutschen
Liberalismus, wenn auch in neuerer Zeit bei den ungünstigen Konjunkturen
etwas weniger vorlaut proklamirt, hat in Frankreich seit der Revolution am
Ende des vorigen Jahrhunderts viermal Gelegenheit gehabt, seine Leistungs¬
fähigkeit zu erproben: unter den restaurirten Bourbons, unter dem Bürgerköuige
Louis Philipp, unter der zweiten und endlich unter der gegenwärtigen dritten
Republik. Dreimal hat dasselbe seine absolute Unfähigkeit bewiesen und mit
seinem Bankerott geendet; der vierte Bankerott wird Wohl nicht mehr lange auf
sich warten lassen.




Das Ministerium Brisson.

des Kaiserreiches im Jahre 1870 hat die dritte Republik achtzehn Ministerien
über den Haufen geworfen und rund etwa zweihundert Minister verbraucht.
Die Dauer des einzelnen Ministeriums betrug im Durchschnitte nicht ganz
neun Monate; Ferry, der die Geschäfte am längsten geführt hat, war das erste
mal vierzehn Monate, das zweitemal etwas über zwei Jahre an der Spitze.
Was das eine Ministerium in seinem kurzen Dasein mühsam geschaffen, hat
das nächste wieder eingerissen; was das eine an notdürftigen Sicherungs-
maßregeln gegen die staatsfeindlichen Angriffe der Radikalen aufgerichtet, hat
das nächste wieder umgeworfen. Nach vierzehn Jahren glorreichen Bestandes
des parlamentarischen Regiments ist das Land in unglückliche auswärtige Unter¬
nehmungen verwickelt, im Innern steht die Anarchie vor der Thür, und die
Schuldenlast ist zu einer unter dem Kaiserreiche nie geahnten Höhe gewachsen.
Die Verwaltung wird nicht mehr von unabhängigen Beamten geleitet, soudern
nach Gunst und Willkür der Deputirten gehandhabt; die Korruption dringt auf
allen Wegen ein, und die Minister, welche ihre Kraft daran setzen, dem
direktionsloscn Staate eine Zeit lang Halt und besonnene Leitung zu geben,
werden von betrunkenen Pöbclhcmfen beschimpft und vor die Thür geworfen,
wenn eine Anzahl neidischer Parlamentarier ihr Gelüste nach deren Plätzen nicht
länger unterdrücken kann.

Als der Deputirte Clemeuceau dem Ministerpräsidenten Ferry wegen der
Lappalie von Lang-Son in der Kammer zurief, er habe keine Minister mehr
vor sich, sondern Angeklagte, und zwar des Hochverrats Angeklagte, lächelte
Ferry, worauf ein andrer Deputirter zur Aufnahme in das Journal oKeiel
konstatirte, daß die Minister zu lachen wagen. „Er hat gelacht, meine Herren
— rief dieser Volksvertreter — er hat wirklich gelacht!" Ja, er hat freilich
gelacht und wird, wenn ihn diese jammervolle Komödie nicht erbarmt, noch
öfter über diese Spaßmacher lachen, und mit Recht.

Das parlamentarische Regiment, bekanntlich auch das Ideal des deutschen
Liberalismus, wenn auch in neuerer Zeit bei den ungünstigen Konjunkturen
etwas weniger vorlaut proklamirt, hat in Frankreich seit der Revolution am
Ende des vorigen Jahrhunderts viermal Gelegenheit gehabt, seine Leistungs¬
fähigkeit zu erproben: unter den restaurirten Bourbons, unter dem Bürgerköuige
Louis Philipp, unter der zweiten und endlich unter der gegenwärtigen dritten
Republik. Dreimal hat dasselbe seine absolute Unfähigkeit bewiesen und mit
seinem Bankerott geendet; der vierte Bankerott wird Wohl nicht mehr lange auf
sich warten lassen.




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[0169] Das Ministerium Brisson. des Kaiserreiches im Jahre 1870 hat die dritte Republik achtzehn Ministerien über den Haufen geworfen und rund etwa zweihundert Minister verbraucht. Die Dauer des einzelnen Ministeriums betrug im Durchschnitte nicht ganz neun Monate; Ferry, der die Geschäfte am längsten geführt hat, war das erste mal vierzehn Monate, das zweitemal etwas über zwei Jahre an der Spitze. Was das eine Ministerium in seinem kurzen Dasein mühsam geschaffen, hat das nächste wieder eingerissen; was das eine an notdürftigen Sicherungs- maßregeln gegen die staatsfeindlichen Angriffe der Radikalen aufgerichtet, hat das nächste wieder umgeworfen. Nach vierzehn Jahren glorreichen Bestandes des parlamentarischen Regiments ist das Land in unglückliche auswärtige Unter¬ nehmungen verwickelt, im Innern steht die Anarchie vor der Thür, und die Schuldenlast ist zu einer unter dem Kaiserreiche nie geahnten Höhe gewachsen. Die Verwaltung wird nicht mehr von unabhängigen Beamten geleitet, soudern nach Gunst und Willkür der Deputirten gehandhabt; die Korruption dringt auf allen Wegen ein, und die Minister, welche ihre Kraft daran setzen, dem direktionsloscn Staate eine Zeit lang Halt und besonnene Leitung zu geben, werden von betrunkenen Pöbclhcmfen beschimpft und vor die Thür geworfen, wenn eine Anzahl neidischer Parlamentarier ihr Gelüste nach deren Plätzen nicht länger unterdrücken kann. Als der Deputirte Clemeuceau dem Ministerpräsidenten Ferry wegen der Lappalie von Lang-Son in der Kammer zurief, er habe keine Minister mehr vor sich, sondern Angeklagte, und zwar des Hochverrats Angeklagte, lächelte Ferry, worauf ein andrer Deputirter zur Aufnahme in das Journal oKeiel konstatirte, daß die Minister zu lachen wagen. „Er hat gelacht, meine Herren — rief dieser Volksvertreter — er hat wirklich gelacht!" Ja, er hat freilich gelacht und wird, wenn ihn diese jammervolle Komödie nicht erbarmt, noch öfter über diese Spaßmacher lachen, und mit Recht. Das parlamentarische Regiment, bekanntlich auch das Ideal des deutschen Liberalismus, wenn auch in neuerer Zeit bei den ungünstigen Konjunkturen etwas weniger vorlaut proklamirt, hat in Frankreich seit der Revolution am Ende des vorigen Jahrhunderts viermal Gelegenheit gehabt, seine Leistungs¬ fähigkeit zu erproben: unter den restaurirten Bourbons, unter dem Bürgerköuige Louis Philipp, unter der zweiten und endlich unter der gegenwärtigen dritten Republik. Dreimal hat dasselbe seine absolute Unfähigkeit bewiesen und mit seinem Bankerott geendet; der vierte Bankerott wird Wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/169>, abgerufen am 22.07.2024.