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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Das Ministerium Brissoii,

einer Versammlung erwachsener Männer würdig war. Von allen Seiten wurden
dem Ministerpräsidenten die Worte "Lügner, Schuft, Dieb, Betrüger" u. dergl.
zugerufen, man nannte ihn den größten Verbrecher, wollte ihn zur Thür hinaus¬
werfen, die Abgeordneten sprangen mit geballten Fäusten gegen ihn und schrieen
mit vor Wut heiserer Stimme Schmähungen über ihn, kein Mensch hatte den
Mut, ein Wort der Verteidigung zu sprechen, der Kammerpräsident ließ den
ganzen Skandal ohne irgendeine Rüge oder den leisesten Versuch eines Schutzes des
beschimpften Kabinets sich entwickeln, es war als ob eine tobende Menge an
einem in flagranti ergriffenen Mörder Lynchjustiz üben wollte. Auf den Straßen
schrie der versammelte Pöbel nach Rache gegen Ferry: "Zum Tod Fcrry!"
"Ins Wasser mit dem Schuft!" "Nieder mit dem Vogesenmann!" (Ferry ist
aus Se. Die), während der Kammersitzung mußte das Palais Bourbon und
das anstoßende auswärtige Ministerium von massenhaft aufgebotener Polizei
gegen das andringende Gesindel geschützt werden, die als Opportunisten be¬
kannten Abgeordneten wurden beim Verlassen des Sitzungsgcbäudes insultirt,
zwei bei dein Pöbel besonders beliebte Hauptschreier, Rochefort und Clemenccau,
wurden vou ihren entzückten Freunden ans die Schultern gehoben und unter
Triumphgeschrei bis zum Pont de la Concorde getragen, als sie nach dem
Sturze des Ministeriums das Palais Bourbon verließen. Und all dieses sinn¬
lose Gebahren wegen eines nicht der Rede werten Mißerfolges in der mit Zu¬
stimmung und Billigung der Kammer von der Regierung unternommenen ton-
kinesischen Expedition!

Das Schauspiel ist ein so jammervolles, die Blamage der französischen
Kammer eine so gründliche, daß selbst die französischen Zeitungen sie nicht zu
bemänteln versuchen, sondern nur dadurch einigermaßen zu mildern streben, daß
sie den anfänglich übertriebenen Nachrichten über die Größe der erlittenen
Niederlage die Schuld an der erzeugten Aufregung zur Last legen.

Die Erbschaft des gestürzten Ministeriums hat der seitherige Kammer¬
präsident Brisson angetreten, derselbe Mann, welcher, anstatt die Leitung der
Debatte in der Hand zu behalten und durch den Schutz der Mitglieder der
Regierung gegen die Unflätigkeitcn der entfesselten Volksvertreter seine eigne
Würde mit derjenigen der von ihm prcisidirten Versammlung zu wahren, diesen
ganzen parlamentarischen Cancan ohne Widerrede aufführen ließ. Brisson ist
zu Bourges geboren und jetzt fünfzig Jahre alt. Er war ursprünglich Rechts¬
anwalt und hat sich im Jahre 1859 zu Paris niedergelassen. Neben seinem
Berufe widmete er sich alsbald der journalistischen Thätigkeit und trat immer
mehr als lebhafter Gegner des Kaiserreichs hervor. Im Jahre 1871 wurde
er zum Abgeordneten von Paris gewählt und beteiligte sich von da an in
hervorragendem Maße an der Politik der Nationalversammlung als Redner in
deren Sitzungen und als Schriftsteller, namentlich in? Lie-vio, in dessen Redak¬
tion er eintrat. Im Jahre 1876 wurde Brisson in die Deputirtenkammer ge-


Das Ministerium Brissoii,

einer Versammlung erwachsener Männer würdig war. Von allen Seiten wurden
dem Ministerpräsidenten die Worte „Lügner, Schuft, Dieb, Betrüger" u. dergl.
zugerufen, man nannte ihn den größten Verbrecher, wollte ihn zur Thür hinaus¬
werfen, die Abgeordneten sprangen mit geballten Fäusten gegen ihn und schrieen
mit vor Wut heiserer Stimme Schmähungen über ihn, kein Mensch hatte den
Mut, ein Wort der Verteidigung zu sprechen, der Kammerpräsident ließ den
ganzen Skandal ohne irgendeine Rüge oder den leisesten Versuch eines Schutzes des
beschimpften Kabinets sich entwickeln, es war als ob eine tobende Menge an
einem in flagranti ergriffenen Mörder Lynchjustiz üben wollte. Auf den Straßen
schrie der versammelte Pöbel nach Rache gegen Ferry: „Zum Tod Fcrry!"
„Ins Wasser mit dem Schuft!" „Nieder mit dem Vogesenmann!" (Ferry ist
aus Se. Die), während der Kammersitzung mußte das Palais Bourbon und
das anstoßende auswärtige Ministerium von massenhaft aufgebotener Polizei
gegen das andringende Gesindel geschützt werden, die als Opportunisten be¬
kannten Abgeordneten wurden beim Verlassen des Sitzungsgcbäudes insultirt,
zwei bei dein Pöbel besonders beliebte Hauptschreier, Rochefort und Clemenccau,
wurden vou ihren entzückten Freunden ans die Schultern gehoben und unter
Triumphgeschrei bis zum Pont de la Concorde getragen, als sie nach dem
Sturze des Ministeriums das Palais Bourbon verließen. Und all dieses sinn¬
lose Gebahren wegen eines nicht der Rede werten Mißerfolges in der mit Zu¬
stimmung und Billigung der Kammer von der Regierung unternommenen ton-
kinesischen Expedition!

Das Schauspiel ist ein so jammervolles, die Blamage der französischen
Kammer eine so gründliche, daß selbst die französischen Zeitungen sie nicht zu
bemänteln versuchen, sondern nur dadurch einigermaßen zu mildern streben, daß
sie den anfänglich übertriebenen Nachrichten über die Größe der erlittenen
Niederlage die Schuld an der erzeugten Aufregung zur Last legen.

Die Erbschaft des gestürzten Ministeriums hat der seitherige Kammer¬
präsident Brisson angetreten, derselbe Mann, welcher, anstatt die Leitung der
Debatte in der Hand zu behalten und durch den Schutz der Mitglieder der
Regierung gegen die Unflätigkeitcn der entfesselten Volksvertreter seine eigne
Würde mit derjenigen der von ihm prcisidirten Versammlung zu wahren, diesen
ganzen parlamentarischen Cancan ohne Widerrede aufführen ließ. Brisson ist
zu Bourges geboren und jetzt fünfzig Jahre alt. Er war ursprünglich Rechts¬
anwalt und hat sich im Jahre 1859 zu Paris niedergelassen. Neben seinem
Berufe widmete er sich alsbald der journalistischen Thätigkeit und trat immer
mehr als lebhafter Gegner des Kaiserreichs hervor. Im Jahre 1871 wurde
er zum Abgeordneten von Paris gewählt und beteiligte sich von da an in
hervorragendem Maße an der Politik der Nationalversammlung als Redner in
deren Sitzungen und als Schriftsteller, namentlich in? Lie-vio, in dessen Redak¬
tion er eintrat. Im Jahre 1876 wurde Brisson in die Deputirtenkammer ge-


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[0167] Das Ministerium Brissoii, einer Versammlung erwachsener Männer würdig war. Von allen Seiten wurden dem Ministerpräsidenten die Worte „Lügner, Schuft, Dieb, Betrüger" u. dergl. zugerufen, man nannte ihn den größten Verbrecher, wollte ihn zur Thür hinaus¬ werfen, die Abgeordneten sprangen mit geballten Fäusten gegen ihn und schrieen mit vor Wut heiserer Stimme Schmähungen über ihn, kein Mensch hatte den Mut, ein Wort der Verteidigung zu sprechen, der Kammerpräsident ließ den ganzen Skandal ohne irgendeine Rüge oder den leisesten Versuch eines Schutzes des beschimpften Kabinets sich entwickeln, es war als ob eine tobende Menge an einem in flagranti ergriffenen Mörder Lynchjustiz üben wollte. Auf den Straßen schrie der versammelte Pöbel nach Rache gegen Ferry: „Zum Tod Fcrry!" „Ins Wasser mit dem Schuft!" „Nieder mit dem Vogesenmann!" (Ferry ist aus Se. Die), während der Kammersitzung mußte das Palais Bourbon und das anstoßende auswärtige Ministerium von massenhaft aufgebotener Polizei gegen das andringende Gesindel geschützt werden, die als Opportunisten be¬ kannten Abgeordneten wurden beim Verlassen des Sitzungsgcbäudes insultirt, zwei bei dein Pöbel besonders beliebte Hauptschreier, Rochefort und Clemenccau, wurden vou ihren entzückten Freunden ans die Schultern gehoben und unter Triumphgeschrei bis zum Pont de la Concorde getragen, als sie nach dem Sturze des Ministeriums das Palais Bourbon verließen. Und all dieses sinn¬ lose Gebahren wegen eines nicht der Rede werten Mißerfolges in der mit Zu¬ stimmung und Billigung der Kammer von der Regierung unternommenen ton- kinesischen Expedition! Das Schauspiel ist ein so jammervolles, die Blamage der französischen Kammer eine so gründliche, daß selbst die französischen Zeitungen sie nicht zu bemänteln versuchen, sondern nur dadurch einigermaßen zu mildern streben, daß sie den anfänglich übertriebenen Nachrichten über die Größe der erlittenen Niederlage die Schuld an der erzeugten Aufregung zur Last legen. Die Erbschaft des gestürzten Ministeriums hat der seitherige Kammer¬ präsident Brisson angetreten, derselbe Mann, welcher, anstatt die Leitung der Debatte in der Hand zu behalten und durch den Schutz der Mitglieder der Regierung gegen die Unflätigkeitcn der entfesselten Volksvertreter seine eigne Würde mit derjenigen der von ihm prcisidirten Versammlung zu wahren, diesen ganzen parlamentarischen Cancan ohne Widerrede aufführen ließ. Brisson ist zu Bourges geboren und jetzt fünfzig Jahre alt. Er war ursprünglich Rechts¬ anwalt und hat sich im Jahre 1859 zu Paris niedergelassen. Neben seinem Berufe widmete er sich alsbald der journalistischen Thätigkeit und trat immer mehr als lebhafter Gegner des Kaiserreichs hervor. Im Jahre 1871 wurde er zum Abgeordneten von Paris gewählt und beteiligte sich von da an in hervorragendem Maße an der Politik der Nationalversammlung als Redner in deren Sitzungen und als Schriftsteller, namentlich in? Lie-vio, in dessen Redak¬ tion er eintrat. Im Jahre 1876 wurde Brisson in die Deputirtenkammer ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/167>, abgerufen am 22.07.2024.