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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Noriz Karriere über die Poesie.

Dichtarten, welche mit der Tragödie beginnt. Der Grundgedanke ist dabei:
Das Tragische gehört nicht dem Mechanismus der Natur, sondern der Freiheit
des Geistes, dem Reiche des Willens an. Die große Frage der "tragischen
Schuld" wird lichtvoll erörtert. Daß Schuld und Sühne nicht das Tragische
ganz erschöpfen, macht Carriere ausdrücklich gegen "moralisirende Philisterei"
geltend. Aber das wichtigste Moment im Tragischen ist ihm doch die Erschei¬
nung, daß jede Tugend den Schatten ihrer eignen Fehler nach sich zieht, und
unigekehrt weist er auf "der Leidenschaft heilige Flamme hin, welche den Men¬
schen verklärt, wenn sie den Menschen verzehrt." "Das Leben ist der Güter
Höchstes nicht" -- das ist eine Offenbarung jeder Tragödie, und Carriere er¬
innert an Heyses schneidiges Wort:


Als die Tragödie zuerst entstund,
War noch der Wunsch nicht allgemein:
Lieber ein lebendiger Hund,
Als ein toter Löwe sein.

Dann wird, unter Benutzung der neuesten Literatur, die große Katharsisfrage
erörtert, worauf die Erörterung der Komödie beginnt. Zu Tragödie und Ko¬
mödie tritt eine dritte dramatische Art, welche Carriere wohl nicht unge¬
schickt als "Versöhnungsdrama" bezeichnet und deren Darstellung er mit den
Worten einleitet: "Es ist längst anerkannt worden, daß zwischen den Extremen
der Tragödie und Komödie ein Mittelglied im Drama besteht und ästhetisch
gerechtfertigt werden muß." Diese Rechtfertigung ist Carriere vorzüglich ge¬
lungen unter Besprechung der betreffenden Theorien von Hegel, Weiße, Ulrici,
Hettner n. a. Als Typus der Gattung erscheint ihm dabei mit Recht Goethes
"Iphigenie"; andre Beispiele sind Lessings "Nathan," Shakespeares "Kaufmann
von Venedig," Kleists "Käthchen von Heilbronn" u. s. w. Der große Abschnitt
(S. 579--706): "Grundzüge und Winke zur vergleichenden Literaturgeschichte
des Dramas" schließt das Werk in würdigster Weise ab -- hier erreicht die
ebenso an feinsinnigen wie an weittragenden Bemerkungen reiche Darstellung,
welche überall mit geschmackvoll gewählten Beispielen belebt ist, ihren Höhepunkt.
Der Abschnitt gipfelt in einem vortrefflichen (in Berlin in Gegenwart des
Kaisers gehaltenen) Vortrage: "Parallele von Calderons "Wunderthätigen
Magus" und Goethes "Faust"" -- einer Verherrlichung des protestantischen und
germanischen Geistes gegenüber katholischem Nomanentum und romanischem Ka¬
tholizismus. Das ist überhaupt das Eigentümliche und der Borzug Carrieres,
daß seine Ästhetik auf dem Grunde einer überall deutlich ausgesprochenen Welt¬
anschauung steht, die er in seinem Werke "Die sittliche Weltordnung" aus¬
führlich entwickelt hat.




Grenzboten II. 188S.Z9
Noriz Karriere über die Poesie.

Dichtarten, welche mit der Tragödie beginnt. Der Grundgedanke ist dabei:
Das Tragische gehört nicht dem Mechanismus der Natur, sondern der Freiheit
des Geistes, dem Reiche des Willens an. Die große Frage der „tragischen
Schuld" wird lichtvoll erörtert. Daß Schuld und Sühne nicht das Tragische
ganz erschöpfen, macht Carriere ausdrücklich gegen „moralisirende Philisterei"
geltend. Aber das wichtigste Moment im Tragischen ist ihm doch die Erschei¬
nung, daß jede Tugend den Schatten ihrer eignen Fehler nach sich zieht, und
unigekehrt weist er auf „der Leidenschaft heilige Flamme hin, welche den Men¬
schen verklärt, wenn sie den Menschen verzehrt." „Das Leben ist der Güter
Höchstes nicht" — das ist eine Offenbarung jeder Tragödie, und Carriere er¬
innert an Heyses schneidiges Wort:


Als die Tragödie zuerst entstund,
War noch der Wunsch nicht allgemein:
Lieber ein lebendiger Hund,
Als ein toter Löwe sein.

Dann wird, unter Benutzung der neuesten Literatur, die große Katharsisfrage
erörtert, worauf die Erörterung der Komödie beginnt. Zu Tragödie und Ko¬
mödie tritt eine dritte dramatische Art, welche Carriere wohl nicht unge¬
schickt als „Versöhnungsdrama" bezeichnet und deren Darstellung er mit den
Worten einleitet: „Es ist längst anerkannt worden, daß zwischen den Extremen
der Tragödie und Komödie ein Mittelglied im Drama besteht und ästhetisch
gerechtfertigt werden muß." Diese Rechtfertigung ist Carriere vorzüglich ge¬
lungen unter Besprechung der betreffenden Theorien von Hegel, Weiße, Ulrici,
Hettner n. a. Als Typus der Gattung erscheint ihm dabei mit Recht Goethes
„Iphigenie"; andre Beispiele sind Lessings „Nathan," Shakespeares „Kaufmann
von Venedig," Kleists „Käthchen von Heilbronn" u. s. w. Der große Abschnitt
(S. 579—706): „Grundzüge und Winke zur vergleichenden Literaturgeschichte
des Dramas" schließt das Werk in würdigster Weise ab — hier erreicht die
ebenso an feinsinnigen wie an weittragenden Bemerkungen reiche Darstellung,
welche überall mit geschmackvoll gewählten Beispielen belebt ist, ihren Höhepunkt.
Der Abschnitt gipfelt in einem vortrefflichen (in Berlin in Gegenwart des
Kaisers gehaltenen) Vortrage: „Parallele von Calderons »Wunderthätigen
Magus« und Goethes »Faust«" — einer Verherrlichung des protestantischen und
germanischen Geistes gegenüber katholischem Nomanentum und romanischem Ka¬
tholizismus. Das ist überhaupt das Eigentümliche und der Borzug Carrieres,
daß seine Ästhetik auf dem Grunde einer überall deutlich ausgesprochenen Welt¬
anschauung steht, die er in seinem Werke „Die sittliche Weltordnung" aus¬
führlich entwickelt hat.




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[0150] Noriz Karriere über die Poesie. Dichtarten, welche mit der Tragödie beginnt. Der Grundgedanke ist dabei: Das Tragische gehört nicht dem Mechanismus der Natur, sondern der Freiheit des Geistes, dem Reiche des Willens an. Die große Frage der „tragischen Schuld" wird lichtvoll erörtert. Daß Schuld und Sühne nicht das Tragische ganz erschöpfen, macht Carriere ausdrücklich gegen „moralisirende Philisterei" geltend. Aber das wichtigste Moment im Tragischen ist ihm doch die Erschei¬ nung, daß jede Tugend den Schatten ihrer eignen Fehler nach sich zieht, und unigekehrt weist er auf „der Leidenschaft heilige Flamme hin, welche den Men¬ schen verklärt, wenn sie den Menschen verzehrt." „Das Leben ist der Güter Höchstes nicht" — das ist eine Offenbarung jeder Tragödie, und Carriere er¬ innert an Heyses schneidiges Wort: Als die Tragödie zuerst entstund, War noch der Wunsch nicht allgemein: Lieber ein lebendiger Hund, Als ein toter Löwe sein. Dann wird, unter Benutzung der neuesten Literatur, die große Katharsisfrage erörtert, worauf die Erörterung der Komödie beginnt. Zu Tragödie und Ko¬ mödie tritt eine dritte dramatische Art, welche Carriere wohl nicht unge¬ schickt als „Versöhnungsdrama" bezeichnet und deren Darstellung er mit den Worten einleitet: „Es ist längst anerkannt worden, daß zwischen den Extremen der Tragödie und Komödie ein Mittelglied im Drama besteht und ästhetisch gerechtfertigt werden muß." Diese Rechtfertigung ist Carriere vorzüglich ge¬ lungen unter Besprechung der betreffenden Theorien von Hegel, Weiße, Ulrici, Hettner n. a. Als Typus der Gattung erscheint ihm dabei mit Recht Goethes „Iphigenie"; andre Beispiele sind Lessings „Nathan," Shakespeares „Kaufmann von Venedig," Kleists „Käthchen von Heilbronn" u. s. w. Der große Abschnitt (S. 579—706): „Grundzüge und Winke zur vergleichenden Literaturgeschichte des Dramas" schließt das Werk in würdigster Weise ab — hier erreicht die ebenso an feinsinnigen wie an weittragenden Bemerkungen reiche Darstellung, welche überall mit geschmackvoll gewählten Beispielen belebt ist, ihren Höhepunkt. Der Abschnitt gipfelt in einem vortrefflichen (in Berlin in Gegenwart des Kaisers gehaltenen) Vortrage: „Parallele von Calderons »Wunderthätigen Magus« und Goethes »Faust«" — einer Verherrlichung des protestantischen und germanischen Geistes gegenüber katholischem Nomanentum und romanischem Ka¬ tholizismus. Das ist überhaupt das Eigentümliche und der Borzug Carrieres, daß seine Ästhetik auf dem Grunde einer überall deutlich ausgesprochenen Welt¬ anschauung steht, die er in seinem Werke „Die sittliche Weltordnung" aus¬ führlich entwickelt hat. Grenzboten II. 188S.Z9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/150>, abgerufen am 25.08.2024.