Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Abschnitt über die Gliederung der Poesie in Epos, Lyrik und Drama; jedes¬
mal wird zuerst das Wesen und Gesetz der betreffenden Gattung entwickelt und
ihre Arten dargelegt, und sodann folgt eine Darstellung derselben "im Lichte
der vergleichenden Literaturgeschichte."

Das Schöne ist für Carriere das Gefühl der Harmonie von Geist und
Natur; es ist die Individualisirung des Idealen, die Jdealisirung des Indivi¬
duellen. Es ist das Seinsollende im Seienden dargestellt. Die Kunst stellt
die Dinge im Lichte der Ewigkeit dar und bringt das Ewige im Realen zur
Erscheinung. Er stimmt mit Dürer überein, der den wunderbaren Ausspruch
gethan hat: "Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur; wer sie heraus¬
reißen kann, der hat sie." Die Kunst gestaltet das innere Leben des Geistes
in den Formen der äußeren Natur, sie erfaßt die Gegenstände der sinnlichen
Erscheinung, um in ihnen das ewige geistige Wesen der Dinge zu enthüllen.
Darum gliedert sich auch die Kunst nach den verschiednen Gebieten der Innen
und Außenwelt. Unser inneres Leben bewegt sich in Anschauungen, Gefühlen
und Gedanken; anßer uns haben wir das räumliche Nebeneinander der Dinge,
das Nacheinander des Geschehens im Flusse der Zeit, und die in Raum und
Zeit sich darstellenden und entwickelnden Wesen und Kräfte; und der Zusammen¬
hang beider Reihen ist wieder der, daß wir die Bilder der Räumlichkeit an¬
schauen, daß wir den zeitlichen Wechsel als innern Zustand fühlen, und daß
wir die Wesen und Kräfte denkend erfassen. So entsprechen Innen- und Außen¬
welt einander, und wir haben demgemäß nicht zufällig, sondern natur- und
vernunftnotwendig drei Kuustweiscn:

1. Offenbarung geistiger Anschauungen in bleibenden sichtbaren Formen
durch Gestaltung der Materie im Raume -- bildende Kunst.

2. Offenbarung der natürlichen und gemütlichen Lebensbewegung in ihrem
Werden durch die Töne und ihre rhythmisch-melodische Folge in der Zeit --
Musik.

3. Offenbarung der Gedanken des Selbstbewußtseins und des Lebens der
Welt durch das Wort - Poesie.

Mit diesem Schema stehen die Kapitel über "Die poetischen Darstellnngs-
Mittel" und über "Die Gliederung der Poesie" im engsten Znsammmenhcmge;
daher hat Carriere dem Verhältnis der Poesie zur bildenden Kunst einerseits
und zur Musik andrerseits anch noch ein eignes Kapitel gewidmet, eines der am
besten und schönsten geschriebenen des Buches. Die Poesie als die Kunst des
Geistes ist ihm die Verbindung der beiden andern Künste in einer idealen
Wiedergeburt, wie der deutende Geist oder das Selbstbewußtsein die natürliche
Anschauung und die innern Gefühle auf einer höhern Stufe wiederspiegelt.
Der bildende Künstler stellt die Außenwelt dar, wie sie im Spiegel der Seele
ihr Wesen offenbart; der Musiker läßt die Innenwelt des Gemütes in Tönen
kund werden; der Dichter zeigt Außer- und Innenwelt, Anschauung und Ge-


Abschnitt über die Gliederung der Poesie in Epos, Lyrik und Drama; jedes¬
mal wird zuerst das Wesen und Gesetz der betreffenden Gattung entwickelt und
ihre Arten dargelegt, und sodann folgt eine Darstellung derselben „im Lichte
der vergleichenden Literaturgeschichte."

Das Schöne ist für Carriere das Gefühl der Harmonie von Geist und
Natur; es ist die Individualisirung des Idealen, die Jdealisirung des Indivi¬
duellen. Es ist das Seinsollende im Seienden dargestellt. Die Kunst stellt
die Dinge im Lichte der Ewigkeit dar und bringt das Ewige im Realen zur
Erscheinung. Er stimmt mit Dürer überein, der den wunderbaren Ausspruch
gethan hat: „Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur; wer sie heraus¬
reißen kann, der hat sie." Die Kunst gestaltet das innere Leben des Geistes
in den Formen der äußeren Natur, sie erfaßt die Gegenstände der sinnlichen
Erscheinung, um in ihnen das ewige geistige Wesen der Dinge zu enthüllen.
Darum gliedert sich auch die Kunst nach den verschiednen Gebieten der Innen
und Außenwelt. Unser inneres Leben bewegt sich in Anschauungen, Gefühlen
und Gedanken; anßer uns haben wir das räumliche Nebeneinander der Dinge,
das Nacheinander des Geschehens im Flusse der Zeit, und die in Raum und
Zeit sich darstellenden und entwickelnden Wesen und Kräfte; und der Zusammen¬
hang beider Reihen ist wieder der, daß wir die Bilder der Räumlichkeit an¬
schauen, daß wir den zeitlichen Wechsel als innern Zustand fühlen, und daß
wir die Wesen und Kräfte denkend erfassen. So entsprechen Innen- und Außen¬
welt einander, und wir haben demgemäß nicht zufällig, sondern natur- und
vernunftnotwendig drei Kuustweiscn:

1. Offenbarung geistiger Anschauungen in bleibenden sichtbaren Formen
durch Gestaltung der Materie im Raume — bildende Kunst.

2. Offenbarung der natürlichen und gemütlichen Lebensbewegung in ihrem
Werden durch die Töne und ihre rhythmisch-melodische Folge in der Zeit —
Musik.

3. Offenbarung der Gedanken des Selbstbewußtseins und des Lebens der
Welt durch das Wort - Poesie.

Mit diesem Schema stehen die Kapitel über „Die poetischen Darstellnngs-
Mittel" und über „Die Gliederung der Poesie" im engsten Znsammmenhcmge;
daher hat Carriere dem Verhältnis der Poesie zur bildenden Kunst einerseits
und zur Musik andrerseits anch noch ein eignes Kapitel gewidmet, eines der am
besten und schönsten geschriebenen des Buches. Die Poesie als die Kunst des
Geistes ist ihm die Verbindung der beiden andern Künste in einer idealen
Wiedergeburt, wie der deutende Geist oder das Selbstbewußtsein die natürliche
Anschauung und die innern Gefühle auf einer höhern Stufe wiederspiegelt.
Der bildende Künstler stellt die Außenwelt dar, wie sie im Spiegel der Seele
ihr Wesen offenbart; der Musiker läßt die Innenwelt des Gemütes in Tönen
kund werden; der Dichter zeigt Außer- und Innenwelt, Anschauung und Ge-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0146" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/195535"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_487" prev="#ID_486"> Abschnitt über die Gliederung der Poesie in Epos, Lyrik und Drama; jedes¬<lb/>
mal wird zuerst das Wesen und Gesetz der betreffenden Gattung entwickelt und<lb/>
ihre Arten dargelegt, und sodann folgt eine Darstellung derselben &#x201E;im Lichte<lb/>
der vergleichenden Literaturgeschichte."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_488"> Das Schöne ist für Carriere das Gefühl der Harmonie von Geist und<lb/>
Natur; es ist die Individualisirung des Idealen, die Jdealisirung des Indivi¬<lb/>
duellen. Es ist das Seinsollende im Seienden dargestellt. Die Kunst stellt<lb/>
die Dinge im Lichte der Ewigkeit dar und bringt das Ewige im Realen zur<lb/>
Erscheinung. Er stimmt mit Dürer überein, der den wunderbaren Ausspruch<lb/>
gethan hat: &#x201E;Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur; wer sie heraus¬<lb/>
reißen kann, der hat sie." Die Kunst gestaltet das innere Leben des Geistes<lb/>
in den Formen der äußeren Natur, sie erfaßt die Gegenstände der sinnlichen<lb/>
Erscheinung, um in ihnen das ewige geistige Wesen der Dinge zu enthüllen.<lb/>
Darum gliedert sich auch die Kunst nach den verschiednen Gebieten der Innen<lb/>
und Außenwelt. Unser inneres Leben bewegt sich in Anschauungen, Gefühlen<lb/>
und Gedanken; anßer uns haben wir das räumliche Nebeneinander der Dinge,<lb/>
das Nacheinander des Geschehens im Flusse der Zeit, und die in Raum und<lb/>
Zeit sich darstellenden und entwickelnden Wesen und Kräfte; und der Zusammen¬<lb/>
hang beider Reihen ist wieder der, daß wir die Bilder der Räumlichkeit an¬<lb/>
schauen, daß wir den zeitlichen Wechsel als innern Zustand fühlen, und daß<lb/>
wir die Wesen und Kräfte denkend erfassen. So entsprechen Innen- und Außen¬<lb/>
welt einander, und wir haben demgemäß nicht zufällig, sondern natur- und<lb/>
vernunftnotwendig drei Kuustweiscn:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_489"> 1. Offenbarung geistiger Anschauungen in bleibenden sichtbaren Formen<lb/>
durch Gestaltung der Materie im Raume &#x2014; bildende Kunst.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_490"> 2. Offenbarung der natürlichen und gemütlichen Lebensbewegung in ihrem<lb/>
Werden durch die Töne und ihre rhythmisch-melodische Folge in der Zeit &#x2014;<lb/>
Musik.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_491"> 3. Offenbarung der Gedanken des Selbstbewußtseins und des Lebens der<lb/>
Welt durch das Wort - Poesie.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_492" next="#ID_493"> Mit diesem Schema stehen die Kapitel über &#x201E;Die poetischen Darstellnngs-<lb/>
Mittel" und über &#x201E;Die Gliederung der Poesie" im engsten Znsammmenhcmge;<lb/>
daher hat Carriere dem Verhältnis der Poesie zur bildenden Kunst einerseits<lb/>
und zur Musik andrerseits anch noch ein eignes Kapitel gewidmet, eines der am<lb/>
besten und schönsten geschriebenen des Buches. Die Poesie als die Kunst des<lb/>
Geistes ist ihm die Verbindung der beiden andern Künste in einer idealen<lb/>
Wiedergeburt, wie der deutende Geist oder das Selbstbewußtsein die natürliche<lb/>
Anschauung und die innern Gefühle auf einer höhern Stufe wiederspiegelt.<lb/>
Der bildende Künstler stellt die Außenwelt dar, wie sie im Spiegel der Seele<lb/>
ihr Wesen offenbart; der Musiker läßt die Innenwelt des Gemütes in Tönen<lb/>
kund werden; der Dichter zeigt Außer- und Innenwelt, Anschauung und Ge-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0146] Abschnitt über die Gliederung der Poesie in Epos, Lyrik und Drama; jedes¬ mal wird zuerst das Wesen und Gesetz der betreffenden Gattung entwickelt und ihre Arten dargelegt, und sodann folgt eine Darstellung derselben „im Lichte der vergleichenden Literaturgeschichte." Das Schöne ist für Carriere das Gefühl der Harmonie von Geist und Natur; es ist die Individualisirung des Idealen, die Jdealisirung des Indivi¬ duellen. Es ist das Seinsollende im Seienden dargestellt. Die Kunst stellt die Dinge im Lichte der Ewigkeit dar und bringt das Ewige im Realen zur Erscheinung. Er stimmt mit Dürer überein, der den wunderbaren Ausspruch gethan hat: „Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur; wer sie heraus¬ reißen kann, der hat sie." Die Kunst gestaltet das innere Leben des Geistes in den Formen der äußeren Natur, sie erfaßt die Gegenstände der sinnlichen Erscheinung, um in ihnen das ewige geistige Wesen der Dinge zu enthüllen. Darum gliedert sich auch die Kunst nach den verschiednen Gebieten der Innen und Außenwelt. Unser inneres Leben bewegt sich in Anschauungen, Gefühlen und Gedanken; anßer uns haben wir das räumliche Nebeneinander der Dinge, das Nacheinander des Geschehens im Flusse der Zeit, und die in Raum und Zeit sich darstellenden und entwickelnden Wesen und Kräfte; und der Zusammen¬ hang beider Reihen ist wieder der, daß wir die Bilder der Räumlichkeit an¬ schauen, daß wir den zeitlichen Wechsel als innern Zustand fühlen, und daß wir die Wesen und Kräfte denkend erfassen. So entsprechen Innen- und Außen¬ welt einander, und wir haben demgemäß nicht zufällig, sondern natur- und vernunftnotwendig drei Kuustweiscn: 1. Offenbarung geistiger Anschauungen in bleibenden sichtbaren Formen durch Gestaltung der Materie im Raume — bildende Kunst. 2. Offenbarung der natürlichen und gemütlichen Lebensbewegung in ihrem Werden durch die Töne und ihre rhythmisch-melodische Folge in der Zeit — Musik. 3. Offenbarung der Gedanken des Selbstbewußtseins und des Lebens der Welt durch das Wort - Poesie. Mit diesem Schema stehen die Kapitel über „Die poetischen Darstellnngs- Mittel" und über „Die Gliederung der Poesie" im engsten Znsammmenhcmge; daher hat Carriere dem Verhältnis der Poesie zur bildenden Kunst einerseits und zur Musik andrerseits anch noch ein eignes Kapitel gewidmet, eines der am besten und schönsten geschriebenen des Buches. Die Poesie als die Kunst des Geistes ist ihm die Verbindung der beiden andern Künste in einer idealen Wiedergeburt, wie der deutende Geist oder das Selbstbewußtsein die natürliche Anschauung und die innern Gefühle auf einer höhern Stufe wiederspiegelt. Der bildende Künstler stellt die Außenwelt dar, wie sie im Spiegel der Seele ihr Wesen offenbart; der Musiker läßt die Innenwelt des Gemütes in Tönen kund werden; der Dichter zeigt Außer- und Innenwelt, Anschauung und Ge-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/146
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/146>, abgerufen am 22.07.2024.