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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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für viele ein "Bedürfnis," in Homburg und Baden-Baden am Rouletttisch zu
sitzen. Und wenn man heute den Strafparagraphen gegen Diebstahl striche, so
würden schon morgen viele das "Bedürfnis" empfinden, zu stehlen. Man rede
doch nicht von Bedürfnissen, wo man selbst das Volk zu schlechten Gewohn¬
heiten verführt. Sobald die Gelegenheit aufhört, hört auch das Bedürfnis auf.
Niemand im Volke würde sich, wenn die Lotterien aufgehoben würden, deshalb
unglücklich fühlen; die Lotterielollekteure natürlich abgerechnet. Dann aber er¬
heben die Freunde der Lotterie weiter die Frage: "Ist denn das Lotteriespiel
wirklich so schlimm? Kann es irgend mit dem Börsenspiel oder mit dem Hazard-
spiel in den Bädern verglichen werden, wo ganze Vermögen verloren gehen und
der unglückliche Spieler vielleicht durch Selbstmord endet? Wo hätte man je
gehört, daß das Lotteriespiel solche Folgen gehabt habe?" Allerdings übt das
Lotteriespiel nicht so augenfällige Wirkungen. Wir behaupten auch nicht, daß
jeder, der einmal ein Loos kauft, damit eine Sünde begehe. Unsre Reichen
und Wohlhabenden erlauben sich ja so viele nutzlose Ausgaben, daß, wenn sie
einmal in der Lotterie spielen, man sehr wohl sagen kann: Il-Mse^t ouin oswris.
Aber sind es denn nur die Reichen und Wohlhabenden, welche die Loose kaufen?
Wollten auf sie allem die Lotterielollekteure spekuliren, so würden sie sehr
schlechte Geschäfte machen. Nein, die Loose gehen bis in die untersten Schichten
des Volkes hinein und werden von vielen gekauft, die wahrlich kein Geld
übrig haben. Auch ist es durchaus unrichtig, wenn man glaubt, die Loose
würden nur von solchen erworben, welche das famose "Bedürfnis" dazu fühlen
und sich zum Erwerbe hindrängen. Unzähligen werden sie fast gegen ihren
Willen aufgehängt. Auch die sichernden Vorschriften, welche man in Preußen
für den Vertrieb der Staatslotterieloose erlassen hat, können dies nicht hindern.
Und jedenfalls treffen sie nicht zu für den Vertrieb der zahlreichen übrigen
Loose. Wer kennt nicht die Persönlichkeiten, die mit einer Zudringlichkeit ohne
gleichen in die bescheidene Wohnung des kleinen Mannes und über die Hinter¬
treppen auch in bessere Häuser eindringen, und mit unglaublich beweglicher
Zunge dnrch bethörende Vorspiegelungen dem dürftigen Arbeiter und dem armen
Dienstboten ihren Spnrpfennig ablocken? Mau errichtet Sparkassen, um zur Spar¬
samkeit zu gewöhnen. Wie kann man da rechtfertigen, daß man gleichzeitig in den
zahlreichen Lotterien förmliche Verführuugsanstalteu zum Nichtspareu etablirt?
In dieser weiten Ausdehnung der ausbeutenden Kraft des Lotteriespiels liegt
eine mindestens ebenso schlimme Wirksamkeit wie in den akuten Erscheinungen,
welche die Spielhöllen unseligen Andenkens hervorriefen. Die, welche dort zu
gründe gingen, waren doch immer nur wenige und meist schon verlorene oder
halbverlorcne Existenzen. Die Lotterie aber bahnt sich schleichend ihren Weg
in alle Schichten des Volkes und vergiftet den Sinn für ernste Arbeit und
redlichen Erwerb. Ist denn nicht gerade eine der schlimmsten Krankheiten unsrer
Zeit die Sucht, nicht mehr durch Fleiß und Sparsamkeit, sondern womöglich


für viele ein „Bedürfnis," in Homburg und Baden-Baden am Rouletttisch zu
sitzen. Und wenn man heute den Strafparagraphen gegen Diebstahl striche, so
würden schon morgen viele das „Bedürfnis" empfinden, zu stehlen. Man rede
doch nicht von Bedürfnissen, wo man selbst das Volk zu schlechten Gewohn¬
heiten verführt. Sobald die Gelegenheit aufhört, hört auch das Bedürfnis auf.
Niemand im Volke würde sich, wenn die Lotterien aufgehoben würden, deshalb
unglücklich fühlen; die Lotterielollekteure natürlich abgerechnet. Dann aber er¬
heben die Freunde der Lotterie weiter die Frage: „Ist denn das Lotteriespiel
wirklich so schlimm? Kann es irgend mit dem Börsenspiel oder mit dem Hazard-
spiel in den Bädern verglichen werden, wo ganze Vermögen verloren gehen und
der unglückliche Spieler vielleicht durch Selbstmord endet? Wo hätte man je
gehört, daß das Lotteriespiel solche Folgen gehabt habe?" Allerdings übt das
Lotteriespiel nicht so augenfällige Wirkungen. Wir behaupten auch nicht, daß
jeder, der einmal ein Loos kauft, damit eine Sünde begehe. Unsre Reichen
und Wohlhabenden erlauben sich ja so viele nutzlose Ausgaben, daß, wenn sie
einmal in der Lotterie spielen, man sehr wohl sagen kann: Il-Mse^t ouin oswris.
Aber sind es denn nur die Reichen und Wohlhabenden, welche die Loose kaufen?
Wollten auf sie allem die Lotterielollekteure spekuliren, so würden sie sehr
schlechte Geschäfte machen. Nein, die Loose gehen bis in die untersten Schichten
des Volkes hinein und werden von vielen gekauft, die wahrlich kein Geld
übrig haben. Auch ist es durchaus unrichtig, wenn man glaubt, die Loose
würden nur von solchen erworben, welche das famose „Bedürfnis" dazu fühlen
und sich zum Erwerbe hindrängen. Unzähligen werden sie fast gegen ihren
Willen aufgehängt. Auch die sichernden Vorschriften, welche man in Preußen
für den Vertrieb der Staatslotterieloose erlassen hat, können dies nicht hindern.
Und jedenfalls treffen sie nicht zu für den Vertrieb der zahlreichen übrigen
Loose. Wer kennt nicht die Persönlichkeiten, die mit einer Zudringlichkeit ohne
gleichen in die bescheidene Wohnung des kleinen Mannes und über die Hinter¬
treppen auch in bessere Häuser eindringen, und mit unglaublich beweglicher
Zunge dnrch bethörende Vorspiegelungen dem dürftigen Arbeiter und dem armen
Dienstboten ihren Spnrpfennig ablocken? Mau errichtet Sparkassen, um zur Spar¬
samkeit zu gewöhnen. Wie kann man da rechtfertigen, daß man gleichzeitig in den
zahlreichen Lotterien förmliche Verführuugsanstalteu zum Nichtspareu etablirt?
In dieser weiten Ausdehnung der ausbeutenden Kraft des Lotteriespiels liegt
eine mindestens ebenso schlimme Wirksamkeit wie in den akuten Erscheinungen,
welche die Spielhöllen unseligen Andenkens hervorriefen. Die, welche dort zu
gründe gingen, waren doch immer nur wenige und meist schon verlorene oder
halbverlorcne Existenzen. Die Lotterie aber bahnt sich schleichend ihren Weg
in alle Schichten des Volkes und vergiftet den Sinn für ernste Arbeit und
redlichen Erwerb. Ist denn nicht gerade eine der schlimmsten Krankheiten unsrer
Zeit die Sucht, nicht mehr durch Fleiß und Sparsamkeit, sondern womöglich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/130>, abgerufen am 23.07.2024.