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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal.

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Aus "Österreich.

zu können, sie wird vielleicht künftig zu schwach sein, um selbständig eine Ver-
fassungsrevision (welche zwei Drittel der Stimmen erfordern würde) zu ver¬
hindern, und in welcher Richtung eine Revision würde vorgenommen werden,
beweist hinlänglich die eine Thatsache, daß sogar aus dem Munde eines Mi¬
nisters zu hören war, das "böhmische Staatsrecht" müsse respektirt werden;
die Verständigung mit den konservativen Zentren aber würde sie auf jeden
Fall vor Vergewaltigung schützen, könnte möglicherweise das Übergewicht auf
ihre Seite bringen. In bäuerlichen und gewerblichen Kreisen ist eine Bewegung
im Gange, welche den deutschkvnservativen Elementen im Hanse Verstärkung zu
verheißen scheint. Und eben diese Elemente stellen sich in den nationalen Kon¬
flikten auf die Seite ihrer Stammesgenossen. Steht nun den Liberalen ihr
Deutschtum wirklich so hoch, wie sie jetzt versichern, so scheint es selbstverständlich,
daß sie sich jenen einzigmöglichen Bundesgenossen zu nähern suchen, daß sie
theoretische Meinungsverschiedenheiten auf sich beruhe" lassen, bis der gemein¬
schaftliche Feind geschlagen wäre. Aber zu diesem Zwecke müßte der bornirte
Abscheu gegen jede Mittelpartci überwunden, müßte manches Dogma aufgegeben
werden, wie der Glaube an die alleinseligmachende Kraft der achtjährigen Schul¬
pflicht, der unbeschränkten Gewerbefreiheit u. s. w. Und zu solchen Opfern ent¬
schließt sich ein echtgefärbtcr Liberaler nicht, brennte ihm auch das Haus über
dem Kopfe!

Wohl ist es denkbar, daß der Eine oder der Andre ein ähnliches Nü-
sonnement anstellt, sobald er ganz mit sich allein ist. Aber dann kommt die
Zeitung und schärft ihm die liberale Glaubenslehre von neuem ein, malt jeg¬
liche Ketzerei mit den schwärzesten Farben, überschüttet mit dem bittersten Haß
und giftigsten Hohn alle, die auch gute Deutsche zu sein glauben, jedoch das
Unglück haben, weder Juden noch Indifferente zu sein, in der Freiteilbarkeit
des Bodens, Freizügigkeit und ähnlichen Errungenschaften nicht den Inbegriff
aller Glückseligkeit erblicken -- und dann graut ihm bei dem Gedanken, daß
auch er einmal so der Verachtung aller Edeldenkenden preisgegeben werden
könnte. Also Deutschtum und Freiheit, die die Zeitungen meinen, nicht eins
ohne die andre! Und darüber werden sie um beide kommen.




Aus «Österreich.

zu können, sie wird vielleicht künftig zu schwach sein, um selbständig eine Ver-
fassungsrevision (welche zwei Drittel der Stimmen erfordern würde) zu ver¬
hindern, und in welcher Richtung eine Revision würde vorgenommen werden,
beweist hinlänglich die eine Thatsache, daß sogar aus dem Munde eines Mi¬
nisters zu hören war, das „böhmische Staatsrecht" müsse respektirt werden;
die Verständigung mit den konservativen Zentren aber würde sie auf jeden
Fall vor Vergewaltigung schützen, könnte möglicherweise das Übergewicht auf
ihre Seite bringen. In bäuerlichen und gewerblichen Kreisen ist eine Bewegung
im Gange, welche den deutschkvnservativen Elementen im Hanse Verstärkung zu
verheißen scheint. Und eben diese Elemente stellen sich in den nationalen Kon¬
flikten auf die Seite ihrer Stammesgenossen. Steht nun den Liberalen ihr
Deutschtum wirklich so hoch, wie sie jetzt versichern, so scheint es selbstverständlich,
daß sie sich jenen einzigmöglichen Bundesgenossen zu nähern suchen, daß sie
theoretische Meinungsverschiedenheiten auf sich beruhe» lassen, bis der gemein¬
schaftliche Feind geschlagen wäre. Aber zu diesem Zwecke müßte der bornirte
Abscheu gegen jede Mittelpartci überwunden, müßte manches Dogma aufgegeben
werden, wie der Glaube an die alleinseligmachende Kraft der achtjährigen Schul¬
pflicht, der unbeschränkten Gewerbefreiheit u. s. w. Und zu solchen Opfern ent¬
schließt sich ein echtgefärbtcr Liberaler nicht, brennte ihm auch das Haus über
dem Kopfe!

Wohl ist es denkbar, daß der Eine oder der Andre ein ähnliches Nü-
sonnement anstellt, sobald er ganz mit sich allein ist. Aber dann kommt die
Zeitung und schärft ihm die liberale Glaubenslehre von neuem ein, malt jeg¬
liche Ketzerei mit den schwärzesten Farben, überschüttet mit dem bittersten Haß
und giftigsten Hohn alle, die auch gute Deutsche zu sein glauben, jedoch das
Unglück haben, weder Juden noch Indifferente zu sein, in der Freiteilbarkeit
des Bodens, Freizügigkeit und ähnlichen Errungenschaften nicht den Inbegriff
aller Glückseligkeit erblicken — und dann graut ihm bei dem Gedanken, daß
auch er einmal so der Verachtung aller Edeldenkenden preisgegeben werden
könnte. Also Deutschtum und Freiheit, die die Zeitungen meinen, nicht eins
ohne die andre! Und darüber werden sie um beide kommen.




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[0113] Aus «Österreich. zu können, sie wird vielleicht künftig zu schwach sein, um selbständig eine Ver- fassungsrevision (welche zwei Drittel der Stimmen erfordern würde) zu ver¬ hindern, und in welcher Richtung eine Revision würde vorgenommen werden, beweist hinlänglich die eine Thatsache, daß sogar aus dem Munde eines Mi¬ nisters zu hören war, das „böhmische Staatsrecht" müsse respektirt werden; die Verständigung mit den konservativen Zentren aber würde sie auf jeden Fall vor Vergewaltigung schützen, könnte möglicherweise das Übergewicht auf ihre Seite bringen. In bäuerlichen und gewerblichen Kreisen ist eine Bewegung im Gange, welche den deutschkvnservativen Elementen im Hanse Verstärkung zu verheißen scheint. Und eben diese Elemente stellen sich in den nationalen Kon¬ flikten auf die Seite ihrer Stammesgenossen. Steht nun den Liberalen ihr Deutschtum wirklich so hoch, wie sie jetzt versichern, so scheint es selbstverständlich, daß sie sich jenen einzigmöglichen Bundesgenossen zu nähern suchen, daß sie theoretische Meinungsverschiedenheiten auf sich beruhe» lassen, bis der gemein¬ schaftliche Feind geschlagen wäre. Aber zu diesem Zwecke müßte der bornirte Abscheu gegen jede Mittelpartci überwunden, müßte manches Dogma aufgegeben werden, wie der Glaube an die alleinseligmachende Kraft der achtjährigen Schul¬ pflicht, der unbeschränkten Gewerbefreiheit u. s. w. Und zu solchen Opfern ent¬ schließt sich ein echtgefärbtcr Liberaler nicht, brennte ihm auch das Haus über dem Kopfe! Wohl ist es denkbar, daß der Eine oder der Andre ein ähnliches Nü- sonnement anstellt, sobald er ganz mit sich allein ist. Aber dann kommt die Zeitung und schärft ihm die liberale Glaubenslehre von neuem ein, malt jeg¬ liche Ketzerei mit den schwärzesten Farben, überschüttet mit dem bittersten Haß und giftigsten Hohn alle, die auch gute Deutsche zu sein glauben, jedoch das Unglück haben, weder Juden noch Indifferente zu sein, in der Freiteilbarkeit des Bodens, Freizügigkeit und ähnlichen Errungenschaften nicht den Inbegriff aller Glückseligkeit erblicken — und dann graut ihm bei dem Gedanken, daß auch er einmal so der Verachtung aller Edeldenkenden preisgegeben werden könnte. Also Deutschtum und Freiheit, die die Zeitungen meinen, nicht eins ohne die andre! Und darüber werden sie um beide kommen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_195390/113>, abgerufen am 25.08.2024.