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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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dienten und an denen dennoch ein in die Vergangenheit gründlich Eingeweihter
vorübergehen kann, ohne daß sein Haar sich sträubt?

Der alte Buonacolsi wollte auf andres übergehen, ans das Veroneser Ge¬
burtshaus Catulls, des anmuthvoller Dichters, auf dasjenige des großen Bau¬
meisters Vitruvius, auf das, jetzt vom ersten Morgenrot angeglühte, rosig aus
der Mitte der Stadt herübergrüßende Amphitheater, in welchem das Volk einst
seine Schaulust sättigte, zuerst an den blutigen Kämpfen der Sklaven und der
gewerbsmäßigen Fechter, dann, unter den Viscontis, an den gerichtlich ver¬
ordneten Zweikämpfen, endlich, nnter den Sealigern, an den zahlreichen Ent¬
hauptungen namhafter Empörer oder Widersacher.

Aber wie Lehrreiches er auch über diese weitschichtigen Materien an die
lokalen Fingerzeige zu knüpfen bemüht war, immer fand Florida wieder ein
Mittel, um auf den der schönen Königstochter angethanen Ehezwang zurückzu¬
greifen.

Und wer sagt dir, daß sie dem Lombardenkönig nicht freiwillig die Hand
reichte? versetzte der Alte, indem er, was er sonst noch der Tochter zu erzählen
hatte, auf eine andre Gelegenheit verschob und die Pferde wieder vorführen ließ.

Ihr selbst, Vater, versetzte Florida, oder war es nicht so? Hatte nicht
Alboin den Gepidenkönig Kunimund, den Vater Rosamundens, erschlagen, und
zwar mit eigner Hand?

Das ist durch glaubhafte Geschichtschreiber verbürgt.

Und also?

Und also heiratete sie denjenigen, der ihren Vater erschlug, sagte der Alte,
was weiter?

Was weiter, Vater? Wird eine Tochter einem solchen Manne aus freien
Stücken die Hand reichen? Unmöglich! Rosamunde muß also doch unbedingt
dazu gezwungen worden sein.

Darüber, sagte der Alte, hat man uns nichts Bestimmtes überliefert. Es
gab immer Kinder, die über thörichten Sinnenreizen vergaßen, was sie ihren
Eltern schuldig waren. Wer weiß, wie schön und verführerisch der Lombarden¬
könig ihr erschien? Er hatte gesiegt; der Sieg verherrlicht immer. Vielleicht
gehörte sie auch zu den oberflächlichen Naturen, die nicht begreifen, warum sich
die Völker bekriegen, warum eine Fehde zwischen Herrschergeschlechtern sich ver¬
erbt, sich vererben muß, soll gelittenes Unrecht nicht den Schein des Rechtes
annehmen. Du schüttelst den Kopf. Ich weiß, zu jenen oberflächlichen Naturen
gehört, dank dem Himmel, meine Tochter nicht. Oder würdest du -- aber warum
frage ich nur! -- würdest du deinen Freund denjenigen nennen können, der
deinen Vater gestern ins Gesicht schlug? Und ist er minder für alle Zeit dein
Feind, wenn es nicht gestern, sondern vorgestern, wenn es nicht vorgestern,
sondern vor Jahresfrist, wenn es nicht vor Jahresfrist, sondern vor zehn,
vor zwanzig Jahren geschah, oder wenn es nicht dein Vater, sondern dein


dienten und an denen dennoch ein in die Vergangenheit gründlich Eingeweihter
vorübergehen kann, ohne daß sein Haar sich sträubt?

Der alte Buonacolsi wollte auf andres übergehen, ans das Veroneser Ge¬
burtshaus Catulls, des anmuthvoller Dichters, auf dasjenige des großen Bau¬
meisters Vitruvius, auf das, jetzt vom ersten Morgenrot angeglühte, rosig aus
der Mitte der Stadt herübergrüßende Amphitheater, in welchem das Volk einst
seine Schaulust sättigte, zuerst an den blutigen Kämpfen der Sklaven und der
gewerbsmäßigen Fechter, dann, unter den Viscontis, an den gerichtlich ver¬
ordneten Zweikämpfen, endlich, nnter den Sealigern, an den zahlreichen Ent¬
hauptungen namhafter Empörer oder Widersacher.

Aber wie Lehrreiches er auch über diese weitschichtigen Materien an die
lokalen Fingerzeige zu knüpfen bemüht war, immer fand Florida wieder ein
Mittel, um auf den der schönen Königstochter angethanen Ehezwang zurückzu¬
greifen.

Und wer sagt dir, daß sie dem Lombardenkönig nicht freiwillig die Hand
reichte? versetzte der Alte, indem er, was er sonst noch der Tochter zu erzählen
hatte, auf eine andre Gelegenheit verschob und die Pferde wieder vorführen ließ.

Ihr selbst, Vater, versetzte Florida, oder war es nicht so? Hatte nicht
Alboin den Gepidenkönig Kunimund, den Vater Rosamundens, erschlagen, und
zwar mit eigner Hand?

Das ist durch glaubhafte Geschichtschreiber verbürgt.

Und also?

Und also heiratete sie denjenigen, der ihren Vater erschlug, sagte der Alte,
was weiter?

Was weiter, Vater? Wird eine Tochter einem solchen Manne aus freien
Stücken die Hand reichen? Unmöglich! Rosamunde muß also doch unbedingt
dazu gezwungen worden sein.

Darüber, sagte der Alte, hat man uns nichts Bestimmtes überliefert. Es
gab immer Kinder, die über thörichten Sinnenreizen vergaßen, was sie ihren
Eltern schuldig waren. Wer weiß, wie schön und verführerisch der Lombarden¬
könig ihr erschien? Er hatte gesiegt; der Sieg verherrlicht immer. Vielleicht
gehörte sie auch zu den oberflächlichen Naturen, die nicht begreifen, warum sich
die Völker bekriegen, warum eine Fehde zwischen Herrschergeschlechtern sich ver¬
erbt, sich vererben muß, soll gelittenes Unrecht nicht den Schein des Rechtes
annehmen. Du schüttelst den Kopf. Ich weiß, zu jenen oberflächlichen Naturen
gehört, dank dem Himmel, meine Tochter nicht. Oder würdest du — aber warum
frage ich nur! — würdest du deinen Freund denjenigen nennen können, der
deinen Vater gestern ins Gesicht schlug? Und ist er minder für alle Zeit dein
Feind, wenn es nicht gestern, sondern vorgestern, wenn es nicht vorgestern,
sondern vor Jahresfrist, wenn es nicht vor Jahresfrist, sondern vor zehn,
vor zwanzig Jahren geschah, oder wenn es nicht dein Vater, sondern dein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/699>, abgerufen am 22.07.2024.