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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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gefallen war, um nie wieder zu erstehen, war die Furcht vor solcher Schmach
ein Schreckmittel, durch das sich viele schwachmütige Leute in die Gefolgschaft
der Revolution hineintreiben ließen. Und auf der andern Seite wurde von
diesem Schreckmittel der rücksichtsloseste und oft ruchloseste Gebrauch gemacht.
Überall schössen neue Blätter der verschiedensten Farbe und der verschiedensten
Tonart hervor, und daneben brachte jeder Tag Massen von Plataeer und flie¬
genden Blättern, die zum Teil so flüchtig waren, daß es später nur mit vieler
Mühe und großen Kosten hat gelingen wollen, eine vollständige Sammlung
dieser Blätter, selbst nur soweit sie Berlin betrafen, für die dortige Bibliothek
herzustellen. Ein wirres Durcheinander von Plänen, Aufreizungen und An¬
schuldigungen ist in dieser Straßenliteratur niedergelegt, und sie, sowie die vielen
kleinen Zeitungen, die oft ebensoschnell wieder eingingen, wie sie entstanden
waren, spritzten eine wahre Fülle von Gift um sich her. Hinter der Berliner
Presse blieb man aber auch anderwärts nicht zurück. In Kassel brachte z. B.
die "Hornisse" regelmäßig unter der Überschrift "Er" einige den Kurfürsten
lächerlich machende Verse und publizirte sehr oft Intimitäten aus dem kur¬
fürstlichen Palais, wie sie nur von ungetreuen Dienstleuten erlauscht worden sein
konnten.

Ein weiteres Machtmittel der Umsturzpartei waren Vereins- und Volks¬
versammlungen, und es gehört zu den wunderbaren Erscheinungen jener Zeit,
daß mit einemmale soviele Volksredner vorhanden waren, die, von der Erregung
der Zeit ergriffen, mit Geschick und Erfolg auf die Massen zu wirken und oft
sie aufzuregen und zu begeistern vermochten, obgleich die ganze seitherige Ent¬
wicklung der öffentlichen Zustände nichts gethan hatte, um Volksredner auszu¬
bilden. Die Art dieser Versammlungen und der darin gehaltenen Reden war
freilich unendlich mannichfach, und es war eine lange Skala zwischen dem klein¬
städtischen konstitutionellen Vereine, der, um mit Bräsig zu reden, seine Beschlüsse
über alle möglichen staatsrechtlichen Fragen so gut machte, "als jeder dat libre
hett," und sich damit tröstete: "Wird da nichts draus, denn wird da nichts
draus," bis zu jener Septembcrversammlung auf der Pfingstweide bei Frankfurt,
deren bluttriefende Reden die Einleitung zu der Ermordung von General von
Auerswald und Fürst Lichnowski und zu all dem andern Graus jener Frank¬
furter Bluttage wurden.

Alle diese Versammlungen hatten aber doch insofern einen gemeinsamen Zug,
als darin überall die Meinung zum Ausdruck kam, daß mit den Märztagen
ein neuer Weltabschnitt begonnen habe, welcher lediglich nach seinen eignen
Gesetzen, ohne Rücksicht auf die Vergangenheit auszugestalten sei. Es gab kaum
einen größeren Vorwurf, als wenn man jemand beschuldigte, er sei "vormärz¬
lich," d. h. er stehe noch mit seinen Anschauungen in der gleichsam durch
eine große Sintflut von der neuen Zeit geschiednen alten Zeit. Wer seine
Rede mit: Meine Herren! begann, der hatte schon den Verdacht der "Vor-


gefallen war, um nie wieder zu erstehen, war die Furcht vor solcher Schmach
ein Schreckmittel, durch das sich viele schwachmütige Leute in die Gefolgschaft
der Revolution hineintreiben ließen. Und auf der andern Seite wurde von
diesem Schreckmittel der rücksichtsloseste und oft ruchloseste Gebrauch gemacht.
Überall schössen neue Blätter der verschiedensten Farbe und der verschiedensten
Tonart hervor, und daneben brachte jeder Tag Massen von Plataeer und flie¬
genden Blättern, die zum Teil so flüchtig waren, daß es später nur mit vieler
Mühe und großen Kosten hat gelingen wollen, eine vollständige Sammlung
dieser Blätter, selbst nur soweit sie Berlin betrafen, für die dortige Bibliothek
herzustellen. Ein wirres Durcheinander von Plänen, Aufreizungen und An¬
schuldigungen ist in dieser Straßenliteratur niedergelegt, und sie, sowie die vielen
kleinen Zeitungen, die oft ebensoschnell wieder eingingen, wie sie entstanden
waren, spritzten eine wahre Fülle von Gift um sich her. Hinter der Berliner
Presse blieb man aber auch anderwärts nicht zurück. In Kassel brachte z. B.
die „Hornisse" regelmäßig unter der Überschrift „Er" einige den Kurfürsten
lächerlich machende Verse und publizirte sehr oft Intimitäten aus dem kur¬
fürstlichen Palais, wie sie nur von ungetreuen Dienstleuten erlauscht worden sein
konnten.

Ein weiteres Machtmittel der Umsturzpartei waren Vereins- und Volks¬
versammlungen, und es gehört zu den wunderbaren Erscheinungen jener Zeit,
daß mit einemmale soviele Volksredner vorhanden waren, die, von der Erregung
der Zeit ergriffen, mit Geschick und Erfolg auf die Massen zu wirken und oft
sie aufzuregen und zu begeistern vermochten, obgleich die ganze seitherige Ent¬
wicklung der öffentlichen Zustände nichts gethan hatte, um Volksredner auszu¬
bilden. Die Art dieser Versammlungen und der darin gehaltenen Reden war
freilich unendlich mannichfach, und es war eine lange Skala zwischen dem klein¬
städtischen konstitutionellen Vereine, der, um mit Bräsig zu reden, seine Beschlüsse
über alle möglichen staatsrechtlichen Fragen so gut machte, „als jeder dat libre
hett," und sich damit tröstete: „Wird da nichts draus, denn wird da nichts
draus," bis zu jener Septembcrversammlung auf der Pfingstweide bei Frankfurt,
deren bluttriefende Reden die Einleitung zu der Ermordung von General von
Auerswald und Fürst Lichnowski und zu all dem andern Graus jener Frank¬
furter Bluttage wurden.

Alle diese Versammlungen hatten aber doch insofern einen gemeinsamen Zug,
als darin überall die Meinung zum Ausdruck kam, daß mit den Märztagen
ein neuer Weltabschnitt begonnen habe, welcher lediglich nach seinen eignen
Gesetzen, ohne Rücksicht auf die Vergangenheit auszugestalten sei. Es gab kaum
einen größeren Vorwurf, als wenn man jemand beschuldigte, er sei „vormärz¬
lich," d. h. er stehe noch mit seinen Anschauungen in der gleichsam durch
eine große Sintflut von der neuen Zeit geschiednen alten Zeit. Wer seine
Rede mit: Meine Herren! begann, der hatte schon den Verdacht der „Vor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/578>, abgerufen am 23.07.2024.