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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Zur Revision manchesterlicher Lehren.

beklagt und mildthätiger Fürsorge empfohlen werden. Aber die Übergangs¬
periode ist da, wir befinden uns mitten darin und mögen uns getrosten, daß
sie zu bessern Zuständen fuhrt. Dem Wahne aber sollen wir uns nicht hin¬
geben, es sei möglich, Not und Elend aus dieser Welt zu verbannen. Wohl
aber mögen wir einen Zustand anstreben und für erreichbar halten, wo kein
Notstand unbeachtet bleibt und die menschliche Gesellschaft sich ihrer Solidarität
vollkommen bewußt ist.

Notstände aber wird es immer geben, auch wenn es gelingt, den Lohn der
Arbeit in allen Zweigen gewerblicher Thätigkeit nach befriedigenden Sätzen, nach
ihrem innern Werte zu regeln. Denn dahin können wir zwar gelangen, daß jeder
Arbeiter in gerechter Weise entlohnt werde, nicht aber auch dahin, daß unter allen
Umständen und zu allen Zeiten auch jeder Arbeitsuchende beschäftigt werde.

Der Umfang, in welchem Arbeiter beschäftigt werden können, hängt nicht
von der Güterproduktion, sondern von der Nachfrage nach Produkten ab, vom
Bedürfnis der Konsumenten. Die Vermittlung aber zwischen Produzenten und
Konsumenten, das Aufsuchen von Konsumenten für die Produzenten und die An¬
regung der Unternehmer nach den Bedürfnissen der Konsumtion, die Sorge
dafür, daß die Produktion sich nicht in falsche Bahnen verirre, daß augen¬
blicklicher Mangel oder Überfluß an Gütern durch entsprechende Spekulation
ausgeglichen werde -- dies alles ist Sache des Handels, und deshalb ist die
Blüte und Ausdehnung des Handels ein so wichtiges Erfordernis für das
wirtschaftliche Gedeihen eines Volkes. Auch dessen ist sich unsre Zeit, Volk
und Negierung vollkommen bewußt, und wie wir hoffen dürfen, daß innerhalb
der Produktion das Verhältnis zwischen Kapital, Unternehmer und Arbeiter
sich befriedigender gestalten werde, so können wir auch darauf vertrauen, daß
unser Handel solche Ausdehnung gewinnen werde, daß kein zur Arbeit williger
und fähiger Mensch ohne Beschäftigung bleibe.

Das Wesentliche ist, und damit will ich diese Bemerkungen schließen, daß
die Mängel unsrer wirtschaftlichen und sozialen Zustände erkannt werden, und
daß auf allen Seiten, sei es freiwillig oder vom Zeitgeiste genötigt, der Wille
vorhanden sei, die bessernde Hand anzulegen. Rom ließ sich dnrch drei gefähr¬
liche Sklavenkriege (141--71 v. Chr.), die das Reich an den Rand des Ab¬
grundes brachten, nicht warnen und ging an der Zersetzung seiner Gesellschaft
durch das Sklavenwesen zu gründe. Der deutsche Adel fand weder in der Re¬
ligion noch in politischer Klugheit einen Anlaß, auf die Klagen seiner zum
Äußersten mißhandelten Leibeignen zu hören und mußte es in den Bauernkriegen
büßen. Mit derselben Blindheit waren die regierenden Klassen in Frankreich
geschlagen, als der dritte Stand seine Gleichberechtigung, ja seine Überlegenheit
geistig bereits erkämpft hatte, ihm aber jede Beachtung im Staate versagt wurde,
sodaß der Ausbruch der großen Revolution und der Umsturz aller bestehenden
Verhältnisse die unvermeidliche Folge wurde.


Zur Revision manchesterlicher Lehren.

beklagt und mildthätiger Fürsorge empfohlen werden. Aber die Übergangs¬
periode ist da, wir befinden uns mitten darin und mögen uns getrosten, daß
sie zu bessern Zuständen fuhrt. Dem Wahne aber sollen wir uns nicht hin¬
geben, es sei möglich, Not und Elend aus dieser Welt zu verbannen. Wohl
aber mögen wir einen Zustand anstreben und für erreichbar halten, wo kein
Notstand unbeachtet bleibt und die menschliche Gesellschaft sich ihrer Solidarität
vollkommen bewußt ist.

Notstände aber wird es immer geben, auch wenn es gelingt, den Lohn der
Arbeit in allen Zweigen gewerblicher Thätigkeit nach befriedigenden Sätzen, nach
ihrem innern Werte zu regeln. Denn dahin können wir zwar gelangen, daß jeder
Arbeiter in gerechter Weise entlohnt werde, nicht aber auch dahin, daß unter allen
Umständen und zu allen Zeiten auch jeder Arbeitsuchende beschäftigt werde.

Der Umfang, in welchem Arbeiter beschäftigt werden können, hängt nicht
von der Güterproduktion, sondern von der Nachfrage nach Produkten ab, vom
Bedürfnis der Konsumenten. Die Vermittlung aber zwischen Produzenten und
Konsumenten, das Aufsuchen von Konsumenten für die Produzenten und die An¬
regung der Unternehmer nach den Bedürfnissen der Konsumtion, die Sorge
dafür, daß die Produktion sich nicht in falsche Bahnen verirre, daß augen¬
blicklicher Mangel oder Überfluß an Gütern durch entsprechende Spekulation
ausgeglichen werde — dies alles ist Sache des Handels, und deshalb ist die
Blüte und Ausdehnung des Handels ein so wichtiges Erfordernis für das
wirtschaftliche Gedeihen eines Volkes. Auch dessen ist sich unsre Zeit, Volk
und Negierung vollkommen bewußt, und wie wir hoffen dürfen, daß innerhalb
der Produktion das Verhältnis zwischen Kapital, Unternehmer und Arbeiter
sich befriedigender gestalten werde, so können wir auch darauf vertrauen, daß
unser Handel solche Ausdehnung gewinnen werde, daß kein zur Arbeit williger
und fähiger Mensch ohne Beschäftigung bleibe.

Das Wesentliche ist, und damit will ich diese Bemerkungen schließen, daß
die Mängel unsrer wirtschaftlichen und sozialen Zustände erkannt werden, und
daß auf allen Seiten, sei es freiwillig oder vom Zeitgeiste genötigt, der Wille
vorhanden sei, die bessernde Hand anzulegen. Rom ließ sich dnrch drei gefähr¬
liche Sklavenkriege (141—71 v. Chr.), die das Reich an den Rand des Ab¬
grundes brachten, nicht warnen und ging an der Zersetzung seiner Gesellschaft
durch das Sklavenwesen zu gründe. Der deutsche Adel fand weder in der Re¬
ligion noch in politischer Klugheit einen Anlaß, auf die Klagen seiner zum
Äußersten mißhandelten Leibeignen zu hören und mußte es in den Bauernkriegen
büßen. Mit derselben Blindheit waren die regierenden Klassen in Frankreich
geschlagen, als der dritte Stand seine Gleichberechtigung, ja seine Überlegenheit
geistig bereits erkämpft hatte, ihm aber jede Beachtung im Staate versagt wurde,
sodaß der Ausbruch der großen Revolution und der Umsturz aller bestehenden
Verhältnisse die unvermeidliche Folge wurde.


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[0570] Zur Revision manchesterlicher Lehren. beklagt und mildthätiger Fürsorge empfohlen werden. Aber die Übergangs¬ periode ist da, wir befinden uns mitten darin und mögen uns getrosten, daß sie zu bessern Zuständen fuhrt. Dem Wahne aber sollen wir uns nicht hin¬ geben, es sei möglich, Not und Elend aus dieser Welt zu verbannen. Wohl aber mögen wir einen Zustand anstreben und für erreichbar halten, wo kein Notstand unbeachtet bleibt und die menschliche Gesellschaft sich ihrer Solidarität vollkommen bewußt ist. Notstände aber wird es immer geben, auch wenn es gelingt, den Lohn der Arbeit in allen Zweigen gewerblicher Thätigkeit nach befriedigenden Sätzen, nach ihrem innern Werte zu regeln. Denn dahin können wir zwar gelangen, daß jeder Arbeiter in gerechter Weise entlohnt werde, nicht aber auch dahin, daß unter allen Umständen und zu allen Zeiten auch jeder Arbeitsuchende beschäftigt werde. Der Umfang, in welchem Arbeiter beschäftigt werden können, hängt nicht von der Güterproduktion, sondern von der Nachfrage nach Produkten ab, vom Bedürfnis der Konsumenten. Die Vermittlung aber zwischen Produzenten und Konsumenten, das Aufsuchen von Konsumenten für die Produzenten und die An¬ regung der Unternehmer nach den Bedürfnissen der Konsumtion, die Sorge dafür, daß die Produktion sich nicht in falsche Bahnen verirre, daß augen¬ blicklicher Mangel oder Überfluß an Gütern durch entsprechende Spekulation ausgeglichen werde — dies alles ist Sache des Handels, und deshalb ist die Blüte und Ausdehnung des Handels ein so wichtiges Erfordernis für das wirtschaftliche Gedeihen eines Volkes. Auch dessen ist sich unsre Zeit, Volk und Negierung vollkommen bewußt, und wie wir hoffen dürfen, daß innerhalb der Produktion das Verhältnis zwischen Kapital, Unternehmer und Arbeiter sich befriedigender gestalten werde, so können wir auch darauf vertrauen, daß unser Handel solche Ausdehnung gewinnen werde, daß kein zur Arbeit williger und fähiger Mensch ohne Beschäftigung bleibe. Das Wesentliche ist, und damit will ich diese Bemerkungen schließen, daß die Mängel unsrer wirtschaftlichen und sozialen Zustände erkannt werden, und daß auf allen Seiten, sei es freiwillig oder vom Zeitgeiste genötigt, der Wille vorhanden sei, die bessernde Hand anzulegen. Rom ließ sich dnrch drei gefähr¬ liche Sklavenkriege (141—71 v. Chr.), die das Reich an den Rand des Ab¬ grundes brachten, nicht warnen und ging an der Zersetzung seiner Gesellschaft durch das Sklavenwesen zu gründe. Der deutsche Adel fand weder in der Re¬ ligion noch in politischer Klugheit einen Anlaß, auf die Klagen seiner zum Äußersten mißhandelten Leibeignen zu hören und mußte es in den Bauernkriegen büßen. Mit derselben Blindheit waren die regierenden Klassen in Frankreich geschlagen, als der dritte Stand seine Gleichberechtigung, ja seine Überlegenheit geistig bereits erkämpft hatte, ihm aber jede Beachtung im Staate versagt wurde, sodaß der Ausbruch der großen Revolution und der Umsturz aller bestehenden Verhältnisse die unvermeidliche Folge wurde.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/570>, abgerufen am 22.07.2024.