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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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wurden ist. Er hat, weiter gedrängt, wenigstens einen Wink zu geben, was
geschehen könne, nur eine Meinung geäußert, die folgenden Gedankengang
hatte. England bedarf in Ägypten, diesem Vindeglicde zwischen seinen euro¬
päischen und asiatischen Besitzungen, einer gewissen sichern Stellung. Eine An¬
nexion des Landes aber ist in diesem Augenblicke nicht zu empfehlen, da sie ein
gespanntes Verhältnis zu mehreren europäischen Mächten, zum Sultan und zu
dem gesamten Muhamedanismus zur Folge haben würde. Dagegen kann man
dnrch den Sultan die wünschenswerte sichere und einflußreiche Stellung am Nil
gewinnen. Diese Form würde bei andern Nationen kaum Anstoß erregen, da
sie einerseits nicht gegen die Verträge wäre, andrerseits den französischen und
englischen Bondholdcrs, diesen Hanptinteressentcn an den ägyptischen Finanzen,
eine geschickte und geordnete Verwaltung durch britische Beamte verhieße. So
würde eine Verstimmung zwischen England und Frankreich vermieden werden,
und das ist für Deutschland in erster Linie, dann aber für ganz Europa drin¬
gend zu wünschen. Zieht England einer Besitznahme Ägyptens im Einvernehmen
mit der Pforte und unter der Snzeränetät des Sultans die direkte Annexion
vor, so wird Deutschland das nicht verhindern, da ihm die Freundschaft mit
England wichtiger ist als das zukünftige Schicksal Ägyptens.

Der Kanzler hat also nicht nur nicht geraten, Ägypten zu nehmen, son¬
dern davor gewarnt, Vorsicht und Achtung vor den Verträgen, sowie vor den
Rechten des Sultans empfohlen und schließlich die Erledigung der Sache für
alleinige Obliegenheit der englischen Negierung erklärt. Das ist der geschicht¬
liche Hergang dieser Episode, jede andre Darstellung ist Mißverständnis oder
Verdrehung mit der Absicht, die Franzosen irrezuführen und dem neuerdings
hergestellten guten Einvernehmen mit Deutschland abgeneigt zu machen.

Dieselbe Absicht hat, so sagte man sich bisher, Wohl auch zu der Indis¬
kretion bewogen, mit welcher die jüngst ausgegebenen englischen Blanbücher
vertrauliche Besprechungen britischer Diplomaten mit dem leitenden deutsche"
Staatsmanne veröffentlicht haben. Der diplomatische Verkehr mit der deutschen
Negierung wird englischerseits gegenwärtig fast ausschließlich in schriftlicher Form,
d. h. in Gestalt von Noten, betrieben, die in London redigirt, dann an den
Botschafter in Berlin gesandt und von diesem dem Reichskanzler entweder vor¬
gelesen oder übergeben werden. Der Reichskanzler hält den mündlichen Verkehr
sür zweckmäßiger, er hat gefunden, daß es, wem? man diplomatische Geschäfte
zu macheu beabsichtigt, geraten ist, erst mündlich zu sondiren, welche Aufnahme
eine Eröffnung zu erwarten hat. Der Gesandte oder Botschafter kennt den
fremden Hof, die fremde Politik genauer als sein Minister daheim, er kann
besser als dieser herausfühlen und vorbereiten. Merkt er, daß die betreffende
Eröffnung keiner günstigen Aufnahme sicher ist, so kaun er sie fallen lassen oder
abändern. Auf diesem Wege werden Verlegenheiten und verdrießliche Ent¬
täuschungen vermieden. Derselbe setzt aber Diskretion und Vertrauen voraus;


wurden ist. Er hat, weiter gedrängt, wenigstens einen Wink zu geben, was
geschehen könne, nur eine Meinung geäußert, die folgenden Gedankengang
hatte. England bedarf in Ägypten, diesem Vindeglicde zwischen seinen euro¬
päischen und asiatischen Besitzungen, einer gewissen sichern Stellung. Eine An¬
nexion des Landes aber ist in diesem Augenblicke nicht zu empfehlen, da sie ein
gespanntes Verhältnis zu mehreren europäischen Mächten, zum Sultan und zu
dem gesamten Muhamedanismus zur Folge haben würde. Dagegen kann man
dnrch den Sultan die wünschenswerte sichere und einflußreiche Stellung am Nil
gewinnen. Diese Form würde bei andern Nationen kaum Anstoß erregen, da
sie einerseits nicht gegen die Verträge wäre, andrerseits den französischen und
englischen Bondholdcrs, diesen Hanptinteressentcn an den ägyptischen Finanzen,
eine geschickte und geordnete Verwaltung durch britische Beamte verhieße. So
würde eine Verstimmung zwischen England und Frankreich vermieden werden,
und das ist für Deutschland in erster Linie, dann aber für ganz Europa drin¬
gend zu wünschen. Zieht England einer Besitznahme Ägyptens im Einvernehmen
mit der Pforte und unter der Snzeränetät des Sultans die direkte Annexion
vor, so wird Deutschland das nicht verhindern, da ihm die Freundschaft mit
England wichtiger ist als das zukünftige Schicksal Ägyptens.

Der Kanzler hat also nicht nur nicht geraten, Ägypten zu nehmen, son¬
dern davor gewarnt, Vorsicht und Achtung vor den Verträgen, sowie vor den
Rechten des Sultans empfohlen und schließlich die Erledigung der Sache für
alleinige Obliegenheit der englischen Negierung erklärt. Das ist der geschicht¬
liche Hergang dieser Episode, jede andre Darstellung ist Mißverständnis oder
Verdrehung mit der Absicht, die Franzosen irrezuführen und dem neuerdings
hergestellten guten Einvernehmen mit Deutschland abgeneigt zu machen.

Dieselbe Absicht hat, so sagte man sich bisher, Wohl auch zu der Indis¬
kretion bewogen, mit welcher die jüngst ausgegebenen englischen Blanbücher
vertrauliche Besprechungen britischer Diplomaten mit dem leitenden deutsche»
Staatsmanne veröffentlicht haben. Der diplomatische Verkehr mit der deutschen
Negierung wird englischerseits gegenwärtig fast ausschließlich in schriftlicher Form,
d. h. in Gestalt von Noten, betrieben, die in London redigirt, dann an den
Botschafter in Berlin gesandt und von diesem dem Reichskanzler entweder vor¬
gelesen oder übergeben werden. Der Reichskanzler hält den mündlichen Verkehr
sür zweckmäßiger, er hat gefunden, daß es, wem? man diplomatische Geschäfte
zu macheu beabsichtigt, geraten ist, erst mündlich zu sondiren, welche Aufnahme
eine Eröffnung zu erwarten hat. Der Gesandte oder Botschafter kennt den
fremden Hof, die fremde Politik genauer als sein Minister daheim, er kann
besser als dieser herausfühlen und vorbereiten. Merkt er, daß die betreffende
Eröffnung keiner günstigen Aufnahme sicher ist, so kaun er sie fallen lassen oder
abändern. Auf diesem Wege werden Verlegenheiten und verdrießliche Ent¬
täuschungen vermieden. Derselbe setzt aber Diskretion und Vertrauen voraus;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/558>, abgerufen am 22.07.2024.