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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Unpolitische Briefe aus Wien.

die man gern des öfteren liest, wo über das letzte Wort hinaus Gedanken sich
fortspinnen und Gefühle nachklingen."

Anzengruber sowohl wie Rosegger knüpfen an eine ältere Generation
österreichischer Dialektdichter an, die mit Castelli beginnt und mit dem Sänger
des "Schwarzblattl," Baron Klesheim, endete. Aber welch ungeheurer Fort¬
schritt liegt dazwischen! Dort wurde doch mehr das Äußerliche der ländlichen
Natur und des bäuerlichen Lebens aufgefaßt, und wenn man auch die Sprache
des Herzens durchaus nicht vermißte, so blieb man doch immer auf der Ober¬
flüche haften. Namentlich aber hatte man gar kein Bedürfnis, ethischen und
gesellschaftlichen Problemen nachzugehen; Gehorsam gegen Gott, den Kaiser und
die Eltern, Liebe zu seinen Nächsten, Freude an der schönen Schöpfung bis zum
kleinsten Vogel und Käfer herab, das erschöpfte so ziemlich den ernsten Motiven¬
schatz der älteren Dialektdichter. Dazu trat allerdings ein derber, naiver Humor,
der unserm Volksstamm von jeher eigen war. Bei Anzengruber und Rosegger
durchwandert man aber die ganze Stufenleiter menschlicher Empfindungen, und
in lokalen Tönen wird uns ein Bild der Welt geboten. Immer wieder wird
durch sie der Mensch der höheren Bildnngsschichten, der sich so gern Kultur¬
träger nennt und leicht geneigt ist, sich für das allein Maßgebende im Staate
zu halten, auf die gewaltigen Energien verwiesen, die in dem bäuerlichen
Volke liegen.

Wir wollen nicht schließen, ohne noch einer neuen Erscheinung der öster¬
reichischen Dichterwelt gedacht zu haben, die zwar auf fremdem Boden wurzelt,
aber doch das anderswo Erworbene eigenartig zu gestalten und im vaterlän¬
dischen Sinne zu verwerten bemüht ist. Wir meinen Richard Kraut, der der
jüngsten Dichtergeneration angehört und -- ganz im Sinne derselben -- vor allem
über die großen Welträtsel nachgesonnen hat. Und heute rühmt er sich, eine
Lösung gefunden zu haben: eine kleine Gemeinde hat sich um ihn versammelt,
die den Jugendlichen fast wie den Stifter einer Religion verehrt und von Zeit
M Zeit Apostel in die profane Gesellschaft hinaussendet, um dem neuen Evan¬
gelium Anhänger zu werben. Dem Schreiber dieser Zeilen wurde vor kurzem
durch einen solchen, der gute Gesinnungen bei ihm vermutete, unter geheimnis¬
vollen Zeremonien ein Büchlein eingehändigt, das den bedeutsamen Titel "Offen¬
barung" trägt. Es wurde ihm bedeutet, nur ja alles, was da zu lesen stünde,
wörtlich aufzunehmen und zwischen den Zeilen keinen verborgenen Sinn zu suchen.
Das Motto desselben sind die Worte des Evangelisten Johannes: "Steht nicht
geschrieben in euerm Gesetz: Ich habe gesagt, ihr seid Götter?" Der Dichter
verrät uns nun in dem ersten Gesänge ein Geheimnis, das uns das irdische
Unglück -- wie er meint -- leichter tragen lassen wird:


Muß ich dich erst ernähren an das, was dir entfiel?
Weißt du's, wir sind ja Götter, die Welt ist unser Spiel....

Die gemeinen Sterblichen haben es vergessen, daß sie selber beschlossen haben,


Unpolitische Briefe aus Wien.

die man gern des öfteren liest, wo über das letzte Wort hinaus Gedanken sich
fortspinnen und Gefühle nachklingen."

Anzengruber sowohl wie Rosegger knüpfen an eine ältere Generation
österreichischer Dialektdichter an, die mit Castelli beginnt und mit dem Sänger
des „Schwarzblattl," Baron Klesheim, endete. Aber welch ungeheurer Fort¬
schritt liegt dazwischen! Dort wurde doch mehr das Äußerliche der ländlichen
Natur und des bäuerlichen Lebens aufgefaßt, und wenn man auch die Sprache
des Herzens durchaus nicht vermißte, so blieb man doch immer auf der Ober¬
flüche haften. Namentlich aber hatte man gar kein Bedürfnis, ethischen und
gesellschaftlichen Problemen nachzugehen; Gehorsam gegen Gott, den Kaiser und
die Eltern, Liebe zu seinen Nächsten, Freude an der schönen Schöpfung bis zum
kleinsten Vogel und Käfer herab, das erschöpfte so ziemlich den ernsten Motiven¬
schatz der älteren Dialektdichter. Dazu trat allerdings ein derber, naiver Humor,
der unserm Volksstamm von jeher eigen war. Bei Anzengruber und Rosegger
durchwandert man aber die ganze Stufenleiter menschlicher Empfindungen, und
in lokalen Tönen wird uns ein Bild der Welt geboten. Immer wieder wird
durch sie der Mensch der höheren Bildnngsschichten, der sich so gern Kultur¬
träger nennt und leicht geneigt ist, sich für das allein Maßgebende im Staate
zu halten, auf die gewaltigen Energien verwiesen, die in dem bäuerlichen
Volke liegen.

Wir wollen nicht schließen, ohne noch einer neuen Erscheinung der öster¬
reichischen Dichterwelt gedacht zu haben, die zwar auf fremdem Boden wurzelt,
aber doch das anderswo Erworbene eigenartig zu gestalten und im vaterlän¬
dischen Sinne zu verwerten bemüht ist. Wir meinen Richard Kraut, der der
jüngsten Dichtergeneration angehört und — ganz im Sinne derselben — vor allem
über die großen Welträtsel nachgesonnen hat. Und heute rühmt er sich, eine
Lösung gefunden zu haben: eine kleine Gemeinde hat sich um ihn versammelt,
die den Jugendlichen fast wie den Stifter einer Religion verehrt und von Zeit
M Zeit Apostel in die profane Gesellschaft hinaussendet, um dem neuen Evan¬
gelium Anhänger zu werben. Dem Schreiber dieser Zeilen wurde vor kurzem
durch einen solchen, der gute Gesinnungen bei ihm vermutete, unter geheimnis¬
vollen Zeremonien ein Büchlein eingehändigt, das den bedeutsamen Titel „Offen¬
barung" trägt. Es wurde ihm bedeutet, nur ja alles, was da zu lesen stünde,
wörtlich aufzunehmen und zwischen den Zeilen keinen verborgenen Sinn zu suchen.
Das Motto desselben sind die Worte des Evangelisten Johannes: „Steht nicht
geschrieben in euerm Gesetz: Ich habe gesagt, ihr seid Götter?" Der Dichter
verrät uns nun in dem ersten Gesänge ein Geheimnis, das uns das irdische
Unglück — wie er meint — leichter tragen lassen wird:


Muß ich dich erst ernähren an das, was dir entfiel?
Weißt du's, wir sind ja Götter, die Welt ist unser Spiel....

Die gemeinen Sterblichen haben es vergessen, daß sie selber beschlossen haben,


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[0539] Unpolitische Briefe aus Wien. die man gern des öfteren liest, wo über das letzte Wort hinaus Gedanken sich fortspinnen und Gefühle nachklingen." Anzengruber sowohl wie Rosegger knüpfen an eine ältere Generation österreichischer Dialektdichter an, die mit Castelli beginnt und mit dem Sänger des „Schwarzblattl," Baron Klesheim, endete. Aber welch ungeheurer Fort¬ schritt liegt dazwischen! Dort wurde doch mehr das Äußerliche der ländlichen Natur und des bäuerlichen Lebens aufgefaßt, und wenn man auch die Sprache des Herzens durchaus nicht vermißte, so blieb man doch immer auf der Ober¬ flüche haften. Namentlich aber hatte man gar kein Bedürfnis, ethischen und gesellschaftlichen Problemen nachzugehen; Gehorsam gegen Gott, den Kaiser und die Eltern, Liebe zu seinen Nächsten, Freude an der schönen Schöpfung bis zum kleinsten Vogel und Käfer herab, das erschöpfte so ziemlich den ernsten Motiven¬ schatz der älteren Dialektdichter. Dazu trat allerdings ein derber, naiver Humor, der unserm Volksstamm von jeher eigen war. Bei Anzengruber und Rosegger durchwandert man aber die ganze Stufenleiter menschlicher Empfindungen, und in lokalen Tönen wird uns ein Bild der Welt geboten. Immer wieder wird durch sie der Mensch der höheren Bildnngsschichten, der sich so gern Kultur¬ träger nennt und leicht geneigt ist, sich für das allein Maßgebende im Staate zu halten, auf die gewaltigen Energien verwiesen, die in dem bäuerlichen Volke liegen. Wir wollen nicht schließen, ohne noch einer neuen Erscheinung der öster¬ reichischen Dichterwelt gedacht zu haben, die zwar auf fremdem Boden wurzelt, aber doch das anderswo Erworbene eigenartig zu gestalten und im vaterlän¬ dischen Sinne zu verwerten bemüht ist. Wir meinen Richard Kraut, der der jüngsten Dichtergeneration angehört und — ganz im Sinne derselben — vor allem über die großen Welträtsel nachgesonnen hat. Und heute rühmt er sich, eine Lösung gefunden zu haben: eine kleine Gemeinde hat sich um ihn versammelt, die den Jugendlichen fast wie den Stifter einer Religion verehrt und von Zeit M Zeit Apostel in die profane Gesellschaft hinaussendet, um dem neuen Evan¬ gelium Anhänger zu werben. Dem Schreiber dieser Zeilen wurde vor kurzem durch einen solchen, der gute Gesinnungen bei ihm vermutete, unter geheimnis¬ vollen Zeremonien ein Büchlein eingehändigt, das den bedeutsamen Titel „Offen¬ barung" trägt. Es wurde ihm bedeutet, nur ja alles, was da zu lesen stünde, wörtlich aufzunehmen und zwischen den Zeilen keinen verborgenen Sinn zu suchen. Das Motto desselben sind die Worte des Evangelisten Johannes: „Steht nicht geschrieben in euerm Gesetz: Ich habe gesagt, ihr seid Götter?" Der Dichter verrät uns nun in dem ersten Gesänge ein Geheimnis, das uns das irdische Unglück — wie er meint — leichter tragen lassen wird: Muß ich dich erst ernähren an das, was dir entfiel? Weißt du's, wir sind ja Götter, die Welt ist unser Spiel.... Die gemeinen Sterblichen haben es vergessen, daß sie selber beschlossen haben,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/539>, abgerufen am 23.07.2024.