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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.

darf sich niemand einbilden, wenn er Trumpfaß ausspielt, könne er nicht über¬
trumpft werden, oder wenn er an der Wand sitzt, könne niemand "linker"
sitzen: die einen steigen ihm auf den Kopf, die andern versuchen mit dem
eignen Kopfe durch die Wand zu rennen und erklären alle, die dazu noch zu viel
Vernunft oder Vorsicht besitzen, für Reaktionäre und Verräter. Goethe hat
diesen Erfahrungssatz einmal in ziemlich unhöflicher Form ausgesprochen. Wenn
Herr Liebknecht sich daraus nichts macht, daß frühere Freunde ihn in die Acht
erklären, ist das schon ein gutes Zeichen. Denn, wie ich mir habe sagen lassen,
handeln nicht selten Politiker gegen ihre bessere Einsicht lediglich aus Furcht,
daß irgendein entschiedener Dummkopf sie als Unentschiedene, als Halbe, als
Abtrünnige ausschreien werde. Dem Terrorismus solcher Helden muß man
begegnen wie den Gespenstererscheinungeu. Also nur fest zugegriffen, Herr
Liebknecht, und der Popanz wird niemand mehr in Schrecken setzen.

Aber wie noch jedesmal, wenn sie über das Ausnahmegesetz Klage führen,
sind die Redner der sozialdemokratischen Partei anch in der Neichstagssitzung
vom 31. Januar der Beantwortung der entscheidenden Frage vorsichtig aus
dem Wege gegangen. Es giebt gewiß in Deutschland hente keinen politischen
Menschen, der nicht sofort das Svzialistengcsetz durch ein andres ersetzen möchte,
welches nur auf diejenigen Parteien gemünzt wäre, welche den Umsturz des
Staates und der Gesellschaftsordnung mit allen Mitteln auf ihre Fahne ge¬
schrieben haben. Niemand will den Arbeitern die Diskussion der sozialen Frage
verbieten. Wenn sie glauben, sich ihre sauer erworbenen Pfennige absparen zu
müssen, um sich von Nichtarbeitern etwas von einem Zukunftsstaate vorphan--
tasiren und sich gegen die praktischen Bestrebungen zur Besserung ihrer Lage
einnehmen zu lassen, so wird man das in ihrem Interesse beklagen, aber da¬
gegen nicht die Polizei zu Hilfe rufen. Denn die ruhige Neformarbeit muß
endlich doch den Leuten die Augen öffnen. Aber lossagen müssen sie sich offen
und unzweideutig von den Mordbrennern und Meuchelmördern, ausstoßen müssen
sie die gewissenlosen Schwätzer, welche ihnen einen Hebert, Delescluze u. s. w.
als Vorbilder aufstellen. Warum halten die Wortführer im Parlament hinter
dem Berge? Fürchtet sich etwa auch da einer vor dem andern? Giebt eS
auch unter ihnen Communards, Cordeliers und Jakobiner, die einander nicht
über den Weg trauen?

Da sollten sie sich an den Freisinnigen ein Exempel nehmen. Richter und
Rickert, Nickert und Richter, ein Herz und eine Seele, bald wird man ihre
beiden Namen in einen zusammenziehen können. Doch glaubt man immer, der¬
jenige, welcher zuletzt gesprochen hat, sei der größere. War --et-- nicht er¬
haben in der Kornzvlldebatte? So habe ich mir immer Savonarola vorgestellt,
wenn er düster lodernden Blickes die Florentiner zur Buße und zum Opfer
alles sündigen Besitzes, der Landwirtschaft, des Gewerbes :c. auf dem Altar reinen
Freihandels antrieb. Oder würde ich ihn besser mit den Propheten des alten


Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten.

darf sich niemand einbilden, wenn er Trumpfaß ausspielt, könne er nicht über¬
trumpft werden, oder wenn er an der Wand sitzt, könne niemand „linker"
sitzen: die einen steigen ihm auf den Kopf, die andern versuchen mit dem
eignen Kopfe durch die Wand zu rennen und erklären alle, die dazu noch zu viel
Vernunft oder Vorsicht besitzen, für Reaktionäre und Verräter. Goethe hat
diesen Erfahrungssatz einmal in ziemlich unhöflicher Form ausgesprochen. Wenn
Herr Liebknecht sich daraus nichts macht, daß frühere Freunde ihn in die Acht
erklären, ist das schon ein gutes Zeichen. Denn, wie ich mir habe sagen lassen,
handeln nicht selten Politiker gegen ihre bessere Einsicht lediglich aus Furcht,
daß irgendein entschiedener Dummkopf sie als Unentschiedene, als Halbe, als
Abtrünnige ausschreien werde. Dem Terrorismus solcher Helden muß man
begegnen wie den Gespenstererscheinungeu. Also nur fest zugegriffen, Herr
Liebknecht, und der Popanz wird niemand mehr in Schrecken setzen.

Aber wie noch jedesmal, wenn sie über das Ausnahmegesetz Klage führen,
sind die Redner der sozialdemokratischen Partei anch in der Neichstagssitzung
vom 31. Januar der Beantwortung der entscheidenden Frage vorsichtig aus
dem Wege gegangen. Es giebt gewiß in Deutschland hente keinen politischen
Menschen, der nicht sofort das Svzialistengcsetz durch ein andres ersetzen möchte,
welches nur auf diejenigen Parteien gemünzt wäre, welche den Umsturz des
Staates und der Gesellschaftsordnung mit allen Mitteln auf ihre Fahne ge¬
schrieben haben. Niemand will den Arbeitern die Diskussion der sozialen Frage
verbieten. Wenn sie glauben, sich ihre sauer erworbenen Pfennige absparen zu
müssen, um sich von Nichtarbeitern etwas von einem Zukunftsstaate vorphan--
tasiren und sich gegen die praktischen Bestrebungen zur Besserung ihrer Lage
einnehmen zu lassen, so wird man das in ihrem Interesse beklagen, aber da¬
gegen nicht die Polizei zu Hilfe rufen. Denn die ruhige Neformarbeit muß
endlich doch den Leuten die Augen öffnen. Aber lossagen müssen sie sich offen
und unzweideutig von den Mordbrennern und Meuchelmördern, ausstoßen müssen
sie die gewissenlosen Schwätzer, welche ihnen einen Hebert, Delescluze u. s. w.
als Vorbilder aufstellen. Warum halten die Wortführer im Parlament hinter
dem Berge? Fürchtet sich etwa auch da einer vor dem andern? Giebt eS
auch unter ihnen Communards, Cordeliers und Jakobiner, die einander nicht
über den Weg trauen?

Da sollten sie sich an den Freisinnigen ein Exempel nehmen. Richter und
Rickert, Nickert und Richter, ein Herz und eine Seele, bald wird man ihre
beiden Namen in einen zusammenziehen können. Doch glaubt man immer, der¬
jenige, welcher zuletzt gesprochen hat, sei der größere. War —et— nicht er¬
haben in der Kornzvlldebatte? So habe ich mir immer Savonarola vorgestellt,
wenn er düster lodernden Blickes die Florentiner zur Buße und zum Opfer
alles sündigen Besitzes, der Landwirtschaft, des Gewerbes :c. auf dem Altar reinen
Freihandels antrieb. Oder würde ich ihn besser mit den Propheten des alten


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[0484] Ungehaltene Reden eines Nichtgewählten. darf sich niemand einbilden, wenn er Trumpfaß ausspielt, könne er nicht über¬ trumpft werden, oder wenn er an der Wand sitzt, könne niemand „linker" sitzen: die einen steigen ihm auf den Kopf, die andern versuchen mit dem eignen Kopfe durch die Wand zu rennen und erklären alle, die dazu noch zu viel Vernunft oder Vorsicht besitzen, für Reaktionäre und Verräter. Goethe hat diesen Erfahrungssatz einmal in ziemlich unhöflicher Form ausgesprochen. Wenn Herr Liebknecht sich daraus nichts macht, daß frühere Freunde ihn in die Acht erklären, ist das schon ein gutes Zeichen. Denn, wie ich mir habe sagen lassen, handeln nicht selten Politiker gegen ihre bessere Einsicht lediglich aus Furcht, daß irgendein entschiedener Dummkopf sie als Unentschiedene, als Halbe, als Abtrünnige ausschreien werde. Dem Terrorismus solcher Helden muß man begegnen wie den Gespenstererscheinungeu. Also nur fest zugegriffen, Herr Liebknecht, und der Popanz wird niemand mehr in Schrecken setzen. Aber wie noch jedesmal, wenn sie über das Ausnahmegesetz Klage führen, sind die Redner der sozialdemokratischen Partei anch in der Neichstagssitzung vom 31. Januar der Beantwortung der entscheidenden Frage vorsichtig aus dem Wege gegangen. Es giebt gewiß in Deutschland hente keinen politischen Menschen, der nicht sofort das Svzialistengcsetz durch ein andres ersetzen möchte, welches nur auf diejenigen Parteien gemünzt wäre, welche den Umsturz des Staates und der Gesellschaftsordnung mit allen Mitteln auf ihre Fahne ge¬ schrieben haben. Niemand will den Arbeitern die Diskussion der sozialen Frage verbieten. Wenn sie glauben, sich ihre sauer erworbenen Pfennige absparen zu müssen, um sich von Nichtarbeitern etwas von einem Zukunftsstaate vorphan-- tasiren und sich gegen die praktischen Bestrebungen zur Besserung ihrer Lage einnehmen zu lassen, so wird man das in ihrem Interesse beklagen, aber da¬ gegen nicht die Polizei zu Hilfe rufen. Denn die ruhige Neformarbeit muß endlich doch den Leuten die Augen öffnen. Aber lossagen müssen sie sich offen und unzweideutig von den Mordbrennern und Meuchelmördern, ausstoßen müssen sie die gewissenlosen Schwätzer, welche ihnen einen Hebert, Delescluze u. s. w. als Vorbilder aufstellen. Warum halten die Wortführer im Parlament hinter dem Berge? Fürchtet sich etwa auch da einer vor dem andern? Giebt eS auch unter ihnen Communards, Cordeliers und Jakobiner, die einander nicht über den Weg trauen? Da sollten sie sich an den Freisinnigen ein Exempel nehmen. Richter und Rickert, Nickert und Richter, ein Herz und eine Seele, bald wird man ihre beiden Namen in einen zusammenziehen können. Doch glaubt man immer, der¬ jenige, welcher zuletzt gesprochen hat, sei der größere. War —et— nicht er¬ haben in der Kornzvlldebatte? So habe ich mir immer Savonarola vorgestellt, wenn er düster lodernden Blickes die Florentiner zur Buße und zum Opfer alles sündigen Besitzes, der Landwirtschaft, des Gewerbes :c. auf dem Altar reinen Freihandels antrieb. Oder würde ich ihn besser mit den Propheten des alten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/484>, abgerufen am 22.07.2024.