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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Zur Revision manchesterlicher Lehren.

"charakterisirt," denn auch viele andre, vielleicht fast alle Industriezweige nehmen
Teil an jener lebhaften Thätigkeit, ganz insbesondre die gesamte Eisenindustrie
vom Bergbau bis zu den Maschinenfabriken. Zugleich wurde der Erdball mit
einem Gewebe von Telegraphendrähten umsponnen, wurden die Städte erweitert
und umgebaut, das häusliche Leben des Bürgers ward behaglicher und an¬
spruchsvoller, und die Kunst hielt ihren Einzug in das Gewerbe. Diese ganze
Bewegung der Gegenwart bedürfte der Unterstützung des in der Vergangenheit
angesammelten Kapitals in hohem Grade, und der Zinsfuß mußte deshalb
steigen. Er stand höher als fünf Prozent, und das Allgemeine deutsche Handels¬
gesetzbuch, dessen Verkündigung in den Anfang der sechziger Jahre fällt, hat
sechs Prozent für nicht vereinbarte Zinsen im Handelsverkehre für einen billigen
Satz gehalten. Nach der herrschenden Lehre hätten in dieser Periode dem hohen
Zinsfuß niedrige Arbeitslöhne gegenüberstehen müsse". Aber das Gegenteil
war der Fall, sie stiegen unaufhörlich in vorher ungeahnter Weise bis zum
Ende dieser Periode.

Diese Glanzperiode der Gütererzeugung hat die Völker bereichert und eine
Masse neuer Kapitalien erzeugt, die nun Verwendung suchen, während die
Thätigkeit der Industrie ein sehr bedächtiges Tempo angenommen hat. Das
Beispiel eines einzigen Jndustriezweiges in einem einzigen Lande mag genügen,
um einen Begriff von der Größe und Bedeutung des Umschlages zu geben.

In den dreiunddreißig Jahren von 1847 bis 1879 wurden in Preußen
5098500000 Mark oder durchschnittlich im Jahre 154500000 Mark für Eisen¬
bahnbauten dem Kapitalmarkte entnommen. Dieser Aufwand sank in der Pe¬
riode von 1879 bis 1884 auf 272^ Millionen oder jährlich 54^ Millionen.
Zieht man davon noch die zur Verwendung gelangten, bereits vorhanden gewesenen
Fonds der in Staatsbesitz übergegangenen Eisenbahnen mit 166 Millionen ab,
so wurden in dieser neuesten Periode jährlich nicht ganz 22 Millionen gegen
1542/2 Millionen in der vorhergegangenen dreinnddreißigjährigen Periode von
1847 bis 1879 dein Kapitalmarkte entzogen; die Differenz beträgt also jährlich
132-/2 Millionen! Aber auch dieser Rest von Kapitalbedarf des Staates von
22 Millionen verschwindet und verwandelt sich in eine Rückgabe des Staates
an den Kapitalmarkt von jährlich 11 Millionen, wenn man (mit dem Berliner
Ältestenkollegium) in Betracht zieht, daß nach dem Budget von 1884/85 der
preußische Staat 19108113 Mark für Amortisation von Staatsschulden und
13 bis 14 Millionen für Amortisation von Eisenbahnprioritäten, zusammen
über 33 Millionen auf den Kapitalmarkt zurückfließen läßt. Dies ist, wie gesagt,
nur das Beispiel eines einzigen, wenn auch sehr bedeutenden Zweiges der In¬
dustrie. Es würde nicht schwer fallen, ein gleiches oder doch ähnliches Ver¬
halten auf dem gesamten Arbeitsfelde nachzuweisen. Wir wollen dies aber
unterlassen und statt dessen einen Blick auf einen Teil der Kapitalbildimg
werfen, welche sich gerade unter den weniger wohlhabenden Klaffen vollzieht


Zur Revision manchesterlicher Lehren.

„charakterisirt," denn auch viele andre, vielleicht fast alle Industriezweige nehmen
Teil an jener lebhaften Thätigkeit, ganz insbesondre die gesamte Eisenindustrie
vom Bergbau bis zu den Maschinenfabriken. Zugleich wurde der Erdball mit
einem Gewebe von Telegraphendrähten umsponnen, wurden die Städte erweitert
und umgebaut, das häusliche Leben des Bürgers ward behaglicher und an¬
spruchsvoller, und die Kunst hielt ihren Einzug in das Gewerbe. Diese ganze
Bewegung der Gegenwart bedürfte der Unterstützung des in der Vergangenheit
angesammelten Kapitals in hohem Grade, und der Zinsfuß mußte deshalb
steigen. Er stand höher als fünf Prozent, und das Allgemeine deutsche Handels¬
gesetzbuch, dessen Verkündigung in den Anfang der sechziger Jahre fällt, hat
sechs Prozent für nicht vereinbarte Zinsen im Handelsverkehre für einen billigen
Satz gehalten. Nach der herrschenden Lehre hätten in dieser Periode dem hohen
Zinsfuß niedrige Arbeitslöhne gegenüberstehen müsse». Aber das Gegenteil
war der Fall, sie stiegen unaufhörlich in vorher ungeahnter Weise bis zum
Ende dieser Periode.

Diese Glanzperiode der Gütererzeugung hat die Völker bereichert und eine
Masse neuer Kapitalien erzeugt, die nun Verwendung suchen, während die
Thätigkeit der Industrie ein sehr bedächtiges Tempo angenommen hat. Das
Beispiel eines einzigen Jndustriezweiges in einem einzigen Lande mag genügen,
um einen Begriff von der Größe und Bedeutung des Umschlages zu geben.

In den dreiunddreißig Jahren von 1847 bis 1879 wurden in Preußen
5098500000 Mark oder durchschnittlich im Jahre 154500000 Mark für Eisen¬
bahnbauten dem Kapitalmarkte entnommen. Dieser Aufwand sank in der Pe¬
riode von 1879 bis 1884 auf 272^ Millionen oder jährlich 54^ Millionen.
Zieht man davon noch die zur Verwendung gelangten, bereits vorhanden gewesenen
Fonds der in Staatsbesitz übergegangenen Eisenbahnen mit 166 Millionen ab,
so wurden in dieser neuesten Periode jährlich nicht ganz 22 Millionen gegen
1542/2 Millionen in der vorhergegangenen dreinnddreißigjährigen Periode von
1847 bis 1879 dein Kapitalmarkte entzogen; die Differenz beträgt also jährlich
132-/2 Millionen! Aber auch dieser Rest von Kapitalbedarf des Staates von
22 Millionen verschwindet und verwandelt sich in eine Rückgabe des Staates
an den Kapitalmarkt von jährlich 11 Millionen, wenn man (mit dem Berliner
Ältestenkollegium) in Betracht zieht, daß nach dem Budget von 1884/85 der
preußische Staat 19108113 Mark für Amortisation von Staatsschulden und
13 bis 14 Millionen für Amortisation von Eisenbahnprioritäten, zusammen
über 33 Millionen auf den Kapitalmarkt zurückfließen läßt. Dies ist, wie gesagt,
nur das Beispiel eines einzigen, wenn auch sehr bedeutenden Zweiges der In¬
dustrie. Es würde nicht schwer fallen, ein gleiches oder doch ähnliches Ver¬
halten auf dem gesamten Arbeitsfelde nachzuweisen. Wir wollen dies aber
unterlassen und statt dessen einen Blick auf einen Teil der Kapitalbildimg
werfen, welche sich gerade unter den weniger wohlhabenden Klaffen vollzieht


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[0462] Zur Revision manchesterlicher Lehren. „charakterisirt," denn auch viele andre, vielleicht fast alle Industriezweige nehmen Teil an jener lebhaften Thätigkeit, ganz insbesondre die gesamte Eisenindustrie vom Bergbau bis zu den Maschinenfabriken. Zugleich wurde der Erdball mit einem Gewebe von Telegraphendrähten umsponnen, wurden die Städte erweitert und umgebaut, das häusliche Leben des Bürgers ward behaglicher und an¬ spruchsvoller, und die Kunst hielt ihren Einzug in das Gewerbe. Diese ganze Bewegung der Gegenwart bedürfte der Unterstützung des in der Vergangenheit angesammelten Kapitals in hohem Grade, und der Zinsfuß mußte deshalb steigen. Er stand höher als fünf Prozent, und das Allgemeine deutsche Handels¬ gesetzbuch, dessen Verkündigung in den Anfang der sechziger Jahre fällt, hat sechs Prozent für nicht vereinbarte Zinsen im Handelsverkehre für einen billigen Satz gehalten. Nach der herrschenden Lehre hätten in dieser Periode dem hohen Zinsfuß niedrige Arbeitslöhne gegenüberstehen müsse». Aber das Gegenteil war der Fall, sie stiegen unaufhörlich in vorher ungeahnter Weise bis zum Ende dieser Periode. Diese Glanzperiode der Gütererzeugung hat die Völker bereichert und eine Masse neuer Kapitalien erzeugt, die nun Verwendung suchen, während die Thätigkeit der Industrie ein sehr bedächtiges Tempo angenommen hat. Das Beispiel eines einzigen Jndustriezweiges in einem einzigen Lande mag genügen, um einen Begriff von der Größe und Bedeutung des Umschlages zu geben. In den dreiunddreißig Jahren von 1847 bis 1879 wurden in Preußen 5098500000 Mark oder durchschnittlich im Jahre 154500000 Mark für Eisen¬ bahnbauten dem Kapitalmarkte entnommen. Dieser Aufwand sank in der Pe¬ riode von 1879 bis 1884 auf 272^ Millionen oder jährlich 54^ Millionen. Zieht man davon noch die zur Verwendung gelangten, bereits vorhanden gewesenen Fonds der in Staatsbesitz übergegangenen Eisenbahnen mit 166 Millionen ab, so wurden in dieser neuesten Periode jährlich nicht ganz 22 Millionen gegen 1542/2 Millionen in der vorhergegangenen dreinnddreißigjährigen Periode von 1847 bis 1879 dein Kapitalmarkte entzogen; die Differenz beträgt also jährlich 132-/2 Millionen! Aber auch dieser Rest von Kapitalbedarf des Staates von 22 Millionen verschwindet und verwandelt sich in eine Rückgabe des Staates an den Kapitalmarkt von jährlich 11 Millionen, wenn man (mit dem Berliner Ältestenkollegium) in Betracht zieht, daß nach dem Budget von 1884/85 der preußische Staat 19108113 Mark für Amortisation von Staatsschulden und 13 bis 14 Millionen für Amortisation von Eisenbahnprioritäten, zusammen über 33 Millionen auf den Kapitalmarkt zurückfließen läßt. Dies ist, wie gesagt, nur das Beispiel eines einzigen, wenn auch sehr bedeutenden Zweiges der In¬ dustrie. Es würde nicht schwer fallen, ein gleiches oder doch ähnliches Ver¬ halten auf dem gesamten Arbeitsfelde nachzuweisen. Wir wollen dies aber unterlassen und statt dessen einen Blick auf einen Teil der Kapitalbildimg werfen, welche sich gerade unter den weniger wohlhabenden Klaffen vollzieht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/462>, abgerufen am 23.07.2024.