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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Zur Revision manchesterlicher Tehren.

hatte auf dem Festlande nicht wie in England große Reichtümer erzeugt, auch
war der verhältnismäßig geringe Vorrat an Kapitalien in den langen Kriegs¬
jahren zum Teil aufgebraucht; das Angebot von Kapitalien war daher gering;
ebenso gering war aber auch die Nachfrage, denn Handel und Industrie waren
so gut wie vernichtet, Mangel an Verkehrswegen, zahllose Binnenzölle, ver¬
altete Gesetze und Gewohnheiten hielten die Gewerbthcitigkeit in Fesseln;
Mutlosigkeit herrschte überall, und willig überließ man es dem Auslande, uns
mit den nötigen Waaren zu versorgen. So trat denn, nachdem das Kapital-
bcdnrfnis der Regierungen unmittelbar nach dem Frieden zu hohen Zinsen
befriedigt worden war, eine Periode niedrigen Zinses ein, als deren Grenzen
etwa die Jahre 1830 und 1845 zu bezeichnen sind. In diese Periode fällt
auch das wirtschaftliche Erwachen der Nation; der Zollverein wurde be¬
gründet, man begann Maschinen in die Landwirtschaft und Industrie einzu¬
führen. Eisenbahnen zu bauen. Die Gegenwart begann also erhöhte Ansprüche
an die Vergangenheit (das Kapital) zu machen; trotzdem blieb der Zinsfuß
niedrig. Es ist dies auffällig, aber es erklärt sich durch die große Langsamkeit,
womit sich der Fortschritt vollzog, und durch eine starke Beteiligung fremden,
namentlich englischen Kapitals. Wenn dagegen Kohn in seinem verdienstlichen
Buche "Geschichte des Zinsfußes in Deutschland" (Stuttgart, Cotta, 1884),
dem ich sonst gern überall folge, den niedrigen Zinsfuß dieser Periode der
Kapitalbildung zuschreibt, welche die Folge der durch den Frieden und die
Gründung des Zollvereins angeregten Industrie gewesen sei, so ist dies doch
offenbar eine irrigeAnsicht. Denn einmal war der Zinsfuß in den ersten andert¬
halb Jahrzehnten nach dem Frieden hoch, und dann ist folgendes zu beachten.
Wenn eine gesteigerte Produktion überhaupt Einfluß auf den Zinsfuß übt, fo
kann es zunächst doch nur eine Steigerung desselben sein, weil die erhöhte
Produktion erhöhte Ansprüche (Nachfrage) an die vorhandenen Kapitalien macht.
Erst im späteren Verlaufe kann eine gesteigerte Produktion neue Kapitalbildung
zur Folge haben, also auf den Zinsfuß drücken, wenn die Nachfrage nach Ka¬
pital nicht in gleichem Maße fortdauert. Kohn übersieht, daß die Ursache einer
gewissen Zeit bedarf, um eine Wirkung zu erzeuge". Dies ist in unserm Falle
umsomehr zu beachten, als der wirtschaftliche Aufschwung jener Periode außer¬
ordentlich langsam von statten ging. Die Wirkungen des Aufschwunges zeigten
sich erst in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre, als er ein erhöhtes Tempo
annahm, und diese Wirkung war Nachfrage nach Kapital, nicht Sinken, sondern
Steigerung des Zinsfußes!

Mit der zweiten Hälfte der vierziger Jahre beginnt eine etwa dreißig Jahre
andauernde Periode der lebhaftesten Thätigkeit fast aller Völker der zivilistrten
Welt. Diese Periode ist durch die Ausbildung des Systems von Eisenbahnen
charakterisirt, welche jetzt fast alle Länder in der dem heutigen Bedürfnis ent¬
sprechenden Menge bedecken. Ich sage, diese Periode wird durch den Eisenbahnbau


Grenzboten I. 1885. S7
Zur Revision manchesterlicher Tehren.

hatte auf dem Festlande nicht wie in England große Reichtümer erzeugt, auch
war der verhältnismäßig geringe Vorrat an Kapitalien in den langen Kriegs¬
jahren zum Teil aufgebraucht; das Angebot von Kapitalien war daher gering;
ebenso gering war aber auch die Nachfrage, denn Handel und Industrie waren
so gut wie vernichtet, Mangel an Verkehrswegen, zahllose Binnenzölle, ver¬
altete Gesetze und Gewohnheiten hielten die Gewerbthcitigkeit in Fesseln;
Mutlosigkeit herrschte überall, und willig überließ man es dem Auslande, uns
mit den nötigen Waaren zu versorgen. So trat denn, nachdem das Kapital-
bcdnrfnis der Regierungen unmittelbar nach dem Frieden zu hohen Zinsen
befriedigt worden war, eine Periode niedrigen Zinses ein, als deren Grenzen
etwa die Jahre 1830 und 1845 zu bezeichnen sind. In diese Periode fällt
auch das wirtschaftliche Erwachen der Nation; der Zollverein wurde be¬
gründet, man begann Maschinen in die Landwirtschaft und Industrie einzu¬
führen. Eisenbahnen zu bauen. Die Gegenwart begann also erhöhte Ansprüche
an die Vergangenheit (das Kapital) zu machen; trotzdem blieb der Zinsfuß
niedrig. Es ist dies auffällig, aber es erklärt sich durch die große Langsamkeit,
womit sich der Fortschritt vollzog, und durch eine starke Beteiligung fremden,
namentlich englischen Kapitals. Wenn dagegen Kohn in seinem verdienstlichen
Buche „Geschichte des Zinsfußes in Deutschland" (Stuttgart, Cotta, 1884),
dem ich sonst gern überall folge, den niedrigen Zinsfuß dieser Periode der
Kapitalbildung zuschreibt, welche die Folge der durch den Frieden und die
Gründung des Zollvereins angeregten Industrie gewesen sei, so ist dies doch
offenbar eine irrigeAnsicht. Denn einmal war der Zinsfuß in den ersten andert¬
halb Jahrzehnten nach dem Frieden hoch, und dann ist folgendes zu beachten.
Wenn eine gesteigerte Produktion überhaupt Einfluß auf den Zinsfuß übt, fo
kann es zunächst doch nur eine Steigerung desselben sein, weil die erhöhte
Produktion erhöhte Ansprüche (Nachfrage) an die vorhandenen Kapitalien macht.
Erst im späteren Verlaufe kann eine gesteigerte Produktion neue Kapitalbildung
zur Folge haben, also auf den Zinsfuß drücken, wenn die Nachfrage nach Ka¬
pital nicht in gleichem Maße fortdauert. Kohn übersieht, daß die Ursache einer
gewissen Zeit bedarf, um eine Wirkung zu erzeuge». Dies ist in unserm Falle
umsomehr zu beachten, als der wirtschaftliche Aufschwung jener Periode außer¬
ordentlich langsam von statten ging. Die Wirkungen des Aufschwunges zeigten
sich erst in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre, als er ein erhöhtes Tempo
annahm, und diese Wirkung war Nachfrage nach Kapital, nicht Sinken, sondern
Steigerung des Zinsfußes!

Mit der zweiten Hälfte der vierziger Jahre beginnt eine etwa dreißig Jahre
andauernde Periode der lebhaftesten Thätigkeit fast aller Völker der zivilistrten
Welt. Diese Periode ist durch die Ausbildung des Systems von Eisenbahnen
charakterisirt, welche jetzt fast alle Länder in der dem heutigen Bedürfnis ent¬
sprechenden Menge bedecken. Ich sage, diese Periode wird durch den Eisenbahnbau


Grenzboten I. 1885. S7
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[0461] Zur Revision manchesterlicher Tehren. hatte auf dem Festlande nicht wie in England große Reichtümer erzeugt, auch war der verhältnismäßig geringe Vorrat an Kapitalien in den langen Kriegs¬ jahren zum Teil aufgebraucht; das Angebot von Kapitalien war daher gering; ebenso gering war aber auch die Nachfrage, denn Handel und Industrie waren so gut wie vernichtet, Mangel an Verkehrswegen, zahllose Binnenzölle, ver¬ altete Gesetze und Gewohnheiten hielten die Gewerbthcitigkeit in Fesseln; Mutlosigkeit herrschte überall, und willig überließ man es dem Auslande, uns mit den nötigen Waaren zu versorgen. So trat denn, nachdem das Kapital- bcdnrfnis der Regierungen unmittelbar nach dem Frieden zu hohen Zinsen befriedigt worden war, eine Periode niedrigen Zinses ein, als deren Grenzen etwa die Jahre 1830 und 1845 zu bezeichnen sind. In diese Periode fällt auch das wirtschaftliche Erwachen der Nation; der Zollverein wurde be¬ gründet, man begann Maschinen in die Landwirtschaft und Industrie einzu¬ führen. Eisenbahnen zu bauen. Die Gegenwart begann also erhöhte Ansprüche an die Vergangenheit (das Kapital) zu machen; trotzdem blieb der Zinsfuß niedrig. Es ist dies auffällig, aber es erklärt sich durch die große Langsamkeit, womit sich der Fortschritt vollzog, und durch eine starke Beteiligung fremden, namentlich englischen Kapitals. Wenn dagegen Kohn in seinem verdienstlichen Buche „Geschichte des Zinsfußes in Deutschland" (Stuttgart, Cotta, 1884), dem ich sonst gern überall folge, den niedrigen Zinsfuß dieser Periode der Kapitalbildung zuschreibt, welche die Folge der durch den Frieden und die Gründung des Zollvereins angeregten Industrie gewesen sei, so ist dies doch offenbar eine irrigeAnsicht. Denn einmal war der Zinsfuß in den ersten andert¬ halb Jahrzehnten nach dem Frieden hoch, und dann ist folgendes zu beachten. Wenn eine gesteigerte Produktion überhaupt Einfluß auf den Zinsfuß übt, fo kann es zunächst doch nur eine Steigerung desselben sein, weil die erhöhte Produktion erhöhte Ansprüche (Nachfrage) an die vorhandenen Kapitalien macht. Erst im späteren Verlaufe kann eine gesteigerte Produktion neue Kapitalbildung zur Folge haben, also auf den Zinsfuß drücken, wenn die Nachfrage nach Ka¬ pital nicht in gleichem Maße fortdauert. Kohn übersieht, daß die Ursache einer gewissen Zeit bedarf, um eine Wirkung zu erzeuge». Dies ist in unserm Falle umsomehr zu beachten, als der wirtschaftliche Aufschwung jener Periode außer¬ ordentlich langsam von statten ging. Die Wirkungen des Aufschwunges zeigten sich erst in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre, als er ein erhöhtes Tempo annahm, und diese Wirkung war Nachfrage nach Kapital, nicht Sinken, sondern Steigerung des Zinsfußes! Mit der zweiten Hälfte der vierziger Jahre beginnt eine etwa dreißig Jahre andauernde Periode der lebhaftesten Thätigkeit fast aller Völker der zivilistrten Welt. Diese Periode ist durch die Ausbildung des Systems von Eisenbahnen charakterisirt, welche jetzt fast alle Länder in der dem heutigen Bedürfnis ent¬ sprechenden Menge bedecken. Ich sage, diese Periode wird durch den Eisenbahnbau Grenzboten I. 1885. S7

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/461>, abgerufen am 23.07.2024.