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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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ist, so sehr mußte es auffallen, daß, wenn man die ältesten Denkmäler in Betracht
zieht und namentlich wenn man die Vasenbilder auf diesen Punkt hin durch¬
mustert, nicht nur von einem Übergange ans dieser dorischen Tracht in jene
ionische nichts zu bemerken ist, sondern daß auch die Frauentracht auf den
ältesten Denkmälern ganz und gar keine Ähnlichkeit hat mit der sonst als dorisch
bezeichneten. Daß das reiche Material, welches uns zur Lösung dieser Frage
in den Vasenbildern und alten Reliefs vorliegt, bis in die neueste Zeit noch
fast gänzlich unbenutzt geblieben ist, erscheint in der That auffallend. Es muß
daher umso freudiger begrüßt werden, daß ein soeben erschienenes Schriftchen
von I. Bostan*) den Versuch macht, diese Frage und damit im Zusammenhange
die nach der älteren griechischen Frauentracht überhaupt in gründlicher und mit
Hilfe eines eingehenden Denkmalerstudiums angestellter Untersuchung zu lösen.
Bei den vielfach noch sehr irrigen Ansichten, welche über die griechische Tracht
nicht bloß beim Laienpnblitnm verbreitet sind, halte ich es für wohl angebracht,
den wesentlichen Inhalt des Schriftchens in dieser Besprechung einem größeren
Leserkreise vorzuführen, obwohl ich bemerken muß, daß ich in verschiednen
Punkten vou den Ansichten des Verfassers mich ganz beträchtlich entferne.

In den Vasenbildern des ältesten Stiles sehen wir die Frauen bekleidet
mit einem ziemlich engen, um die Hüften gegürteten Chiton, welcher bis zu den
Füßen reicht, ohne dieselben jedoch zu verdecken; die Brust bedeckt eine Art
Jacke, welche den Oberkörper lose hängend umgiebt und nicht ganz bis zum
Gürtel herabreicht. Da die Gürtung in der Regel ziemlich hoch liegt, so ist
dieser jackenartige Überwurf meist kurz. Die Art, wie derselbe angelegt wurde,
ist nicht überall deutlich zu erkennen; in zahlreichen Fällen aber bemerkt man
auf der einen Schulter einen halbrunden, von hinten nach vorn darübergehenden
Überschlag oder Zipfel, und es ist in hohem Grade wahrscheinlich, daß der
Überwurf eben an dieser Stelle durch eine Nadel oder Fibel befestigt war.
Freilich kommen daneben auch andre Formen vor. Wir finden Jäckchen, die
mit kurzen, einen kleinen Teil des Oberarmes bedeckenden Ärmeln versehen
sind; wir finden andre, bei denen zwar keine Ärmel, aber deutlich Armlöcher
da sind. Beide Arten müssen genäht gewesen sein; wie sie aber angelegt wurden,
wo sie den Schlitz und den Nadelverschluß hatten, läßt sich aus den Abbil¬
dungen nicht erkennen. Diese Kleidung entspricht nun gar wenig der, die wir
sonst gewohnt sind als dorischen Chiton zu bezeichnen; daß wir aber trotzdem
sie für diejenige zu halten habe", welche Herodot als die früher allgemeine der
später üblichen ionischen entgegensetzt, darin werden wir durch die Beobachtung



*) Johannes BSHlau, Hmwsti<nos alö ro vsstiaria, Sriwoormll. Weimar, 1884. Das; das
Büchlein (wizhl eine Doktordissertation) lateinisch geschrieben ist, muß bedauert werden: die
Deutlichkeit und Klarheit hat darunter wesentlich gelitten. Wann wird man endlich sich
damit begnügen, den Gebrauch der lateinischen Sprache auf kritische und grammatische Unter¬
suchungen zu beschränken!

ist, so sehr mußte es auffallen, daß, wenn man die ältesten Denkmäler in Betracht
zieht und namentlich wenn man die Vasenbilder auf diesen Punkt hin durch¬
mustert, nicht nur von einem Übergange ans dieser dorischen Tracht in jene
ionische nichts zu bemerken ist, sondern daß auch die Frauentracht auf den
ältesten Denkmälern ganz und gar keine Ähnlichkeit hat mit der sonst als dorisch
bezeichneten. Daß das reiche Material, welches uns zur Lösung dieser Frage
in den Vasenbildern und alten Reliefs vorliegt, bis in die neueste Zeit noch
fast gänzlich unbenutzt geblieben ist, erscheint in der That auffallend. Es muß
daher umso freudiger begrüßt werden, daß ein soeben erschienenes Schriftchen
von I. Bostan*) den Versuch macht, diese Frage und damit im Zusammenhange
die nach der älteren griechischen Frauentracht überhaupt in gründlicher und mit
Hilfe eines eingehenden Denkmalerstudiums angestellter Untersuchung zu lösen.
Bei den vielfach noch sehr irrigen Ansichten, welche über die griechische Tracht
nicht bloß beim Laienpnblitnm verbreitet sind, halte ich es für wohl angebracht,
den wesentlichen Inhalt des Schriftchens in dieser Besprechung einem größeren
Leserkreise vorzuführen, obwohl ich bemerken muß, daß ich in verschiednen
Punkten vou den Ansichten des Verfassers mich ganz beträchtlich entferne.

In den Vasenbildern des ältesten Stiles sehen wir die Frauen bekleidet
mit einem ziemlich engen, um die Hüften gegürteten Chiton, welcher bis zu den
Füßen reicht, ohne dieselben jedoch zu verdecken; die Brust bedeckt eine Art
Jacke, welche den Oberkörper lose hängend umgiebt und nicht ganz bis zum
Gürtel herabreicht. Da die Gürtung in der Regel ziemlich hoch liegt, so ist
dieser jackenartige Überwurf meist kurz. Die Art, wie derselbe angelegt wurde,
ist nicht überall deutlich zu erkennen; in zahlreichen Fällen aber bemerkt man
auf der einen Schulter einen halbrunden, von hinten nach vorn darübergehenden
Überschlag oder Zipfel, und es ist in hohem Grade wahrscheinlich, daß der
Überwurf eben an dieser Stelle durch eine Nadel oder Fibel befestigt war.
Freilich kommen daneben auch andre Formen vor. Wir finden Jäckchen, die
mit kurzen, einen kleinen Teil des Oberarmes bedeckenden Ärmeln versehen
sind; wir finden andre, bei denen zwar keine Ärmel, aber deutlich Armlöcher
da sind. Beide Arten müssen genäht gewesen sein; wie sie aber angelegt wurden,
wo sie den Schlitz und den Nadelverschluß hatten, läßt sich aus den Abbil¬
dungen nicht erkennen. Diese Kleidung entspricht nun gar wenig der, die wir
sonst gewohnt sind als dorischen Chiton zu bezeichnen; daß wir aber trotzdem
sie für diejenige zu halten habe», welche Herodot als die früher allgemeine der
später üblichen ionischen entgegensetzt, darin werden wir durch die Beobachtung



*) Johannes BSHlau, Hmwsti<nos alö ro vsstiaria, Sriwoormll. Weimar, 1884. Das; das
Büchlein (wizhl eine Doktordissertation) lateinisch geschrieben ist, muß bedauert werden: die
Deutlichkeit und Klarheit hat darunter wesentlich gelitten. Wann wird man endlich sich
damit begnügen, den Gebrauch der lateinischen Sprache auf kritische und grammatische Unter¬
suchungen zu beschränken!
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/415>, abgerufen am 23.07.2024.