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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Friedrich Hebbols Tagobnchev.

Aufgaben der Poesie, die Forderung einer unbedingten Lebenswahrheit, den
Grundanschauungen, welche Hebbel in ein so entschiednes Mißverhältnis zu der
Mehrzahl seiner schreibenden (nicht seiner dichtenden) Zeitgenossen gebracht haben,
weit näher zu liegen. Allein man vergegenwärtige sich nur einmal, was der
größte Teil der jüngsten Belletristen und Feuilletonisten, Bühnenschriftsteller
und Erzähler unter Lebenswahrheit eigentlich versteht, man rufe sich ins Ge¬
dächtnis, wie scheu sie allem edleren Leben (und wenn es in der Wirklichkeit
zehntausend- und hunderttauseudmal existirt) ausweichen, wie sehr sie "alles
schreckt, was eine Tiefe hat," wie flach und platt man gerade im Augenblicke
nach Rezepten der Mode arbeitet nud "Gewerbeknnst" auch in der Poesie treibt,
um einzusehen, daß der wirklich schöpferische Dichter, soweit ihm nicht die Gunst
eines glücklichen Naturells Eingang verschafft, heute keineswegs besser gestellt
ist als in den vierziger Jahren.

Von Hebbel gelte" zwar jene Worte, die Wilbrandt in seiner Biographie
Heinrichs von Kleist gesprochen, nur zum Teil, aber doch gerade genug, um es
begreiflich zu macheu, daß er kein Liebling des großen Publikums sein konnte.
"Eine finstere Klarheit des Auges zerstörte ihm den geheimnisvollen Farben¬
glanz der Welt, er sah die Blüten des Lebens nur als Erscheinungen vorüber¬
wandeln, die sittliche Welt verriet ihm kein innewohnendes unzerstörbares Gesetz.
Eine innerliche Hitze und Heftigkeit warf ihm seine Kräfte durcheinander, und
so spotteten sie seines Strebens, sie zu reiner und mächtiger Harmonie zu
zwingen. Mit unbezwinglich haftender Leidenschaft hielt er alles, was er er¬
griffen, fest; wie er stets sein ganzes Leben daran setzt, so sollen ihm auch die
Dinge, nach denen er ringt, sich ganz und ans einmal ergeben. So schlürft
er jedes Gefühl, jede Leidenschaft, jede Seligkeit und jeden Schmerz unersättlich
bis auf den letzten Tropfen aus; sonst wären sie nicht sein eigen, wären sie
wertlos. Und wie leicht erkennt man, daß auch der Künstler Kleist in diese
verhängnisvolle Flut getaucht ist. Auch er muß jedes Problem erschöpfen, es
auch auf die zerbrechlichste Spitze stellen; bis ins Kleinste hinab, bis in Bilder
und Gleichnisse, flüchtige Züge, Spiele des Augenblicks verfolgt ihn derselbe
Trieb, und von dem Trank der Schönheit, den er uns reicht, soll nus auch
die Hefe nicht erspart sein." (Wilbrandt, Heinrich von Kleist, S. 416.) Völlig
kann, wie gesagt, diese Charakteristik eines ähnlich gearteten Talentes nicht auf
Hebbel angewandt werden; so entschieden der moderne Dichter hinter gewissen
Kräften und Eigenschaften Kleists zurückblieb, so sicher übertraf er ihn in andern,
für das Ungestüm seiner Seele und seines Lebensbedürfnisses fand Hebbel ein Maß,
und das Glück kam ihm, wenn auch sehr spät, doch immerhin noch rechtzeitig
zu Hilfe. Aber soweit die Charakteristik Anwendung auf ihn leidet, soweit
erklärt sie das Widerstreben der naiv Genießenden und Befriedigung ihrer
begrenzten persönlichen Genußbedürfnisse von jedem Dichter Fordernden gegen
seine Schöpfungen. Mit der kritischen Feindseligkeit gegen den Dichter ist dies


Friedrich Hebbols Tagobnchev.

Aufgaben der Poesie, die Forderung einer unbedingten Lebenswahrheit, den
Grundanschauungen, welche Hebbel in ein so entschiednes Mißverhältnis zu der
Mehrzahl seiner schreibenden (nicht seiner dichtenden) Zeitgenossen gebracht haben,
weit näher zu liegen. Allein man vergegenwärtige sich nur einmal, was der
größte Teil der jüngsten Belletristen und Feuilletonisten, Bühnenschriftsteller
und Erzähler unter Lebenswahrheit eigentlich versteht, man rufe sich ins Ge¬
dächtnis, wie scheu sie allem edleren Leben (und wenn es in der Wirklichkeit
zehntausend- und hunderttauseudmal existirt) ausweichen, wie sehr sie „alles
schreckt, was eine Tiefe hat," wie flach und platt man gerade im Augenblicke
nach Rezepten der Mode arbeitet nud „Gewerbeknnst" auch in der Poesie treibt,
um einzusehen, daß der wirklich schöpferische Dichter, soweit ihm nicht die Gunst
eines glücklichen Naturells Eingang verschafft, heute keineswegs besser gestellt
ist als in den vierziger Jahren.

Von Hebbel gelte« zwar jene Worte, die Wilbrandt in seiner Biographie
Heinrichs von Kleist gesprochen, nur zum Teil, aber doch gerade genug, um es
begreiflich zu macheu, daß er kein Liebling des großen Publikums sein konnte.
„Eine finstere Klarheit des Auges zerstörte ihm den geheimnisvollen Farben¬
glanz der Welt, er sah die Blüten des Lebens nur als Erscheinungen vorüber¬
wandeln, die sittliche Welt verriet ihm kein innewohnendes unzerstörbares Gesetz.
Eine innerliche Hitze und Heftigkeit warf ihm seine Kräfte durcheinander, und
so spotteten sie seines Strebens, sie zu reiner und mächtiger Harmonie zu
zwingen. Mit unbezwinglich haftender Leidenschaft hielt er alles, was er er¬
griffen, fest; wie er stets sein ganzes Leben daran setzt, so sollen ihm auch die
Dinge, nach denen er ringt, sich ganz und ans einmal ergeben. So schlürft
er jedes Gefühl, jede Leidenschaft, jede Seligkeit und jeden Schmerz unersättlich
bis auf den letzten Tropfen aus; sonst wären sie nicht sein eigen, wären sie
wertlos. Und wie leicht erkennt man, daß auch der Künstler Kleist in diese
verhängnisvolle Flut getaucht ist. Auch er muß jedes Problem erschöpfen, es
auch auf die zerbrechlichste Spitze stellen; bis ins Kleinste hinab, bis in Bilder
und Gleichnisse, flüchtige Züge, Spiele des Augenblicks verfolgt ihn derselbe
Trieb, und von dem Trank der Schönheit, den er uns reicht, soll nus auch
die Hefe nicht erspart sein." (Wilbrandt, Heinrich von Kleist, S. 416.) Völlig
kann, wie gesagt, diese Charakteristik eines ähnlich gearteten Talentes nicht auf
Hebbel angewandt werden; so entschieden der moderne Dichter hinter gewissen
Kräften und Eigenschaften Kleists zurückblieb, so sicher übertraf er ihn in andern,
für das Ungestüm seiner Seele und seines Lebensbedürfnisses fand Hebbel ein Maß,
und das Glück kam ihm, wenn auch sehr spät, doch immerhin noch rechtzeitig
zu Hilfe. Aber soweit die Charakteristik Anwendung auf ihn leidet, soweit
erklärt sie das Widerstreben der naiv Genießenden und Befriedigung ihrer
begrenzten persönlichen Genußbedürfnisse von jedem Dichter Fordernden gegen
seine Schöpfungen. Mit der kritischen Feindseligkeit gegen den Dichter ist dies


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[0038] Friedrich Hebbols Tagobnchev. Aufgaben der Poesie, die Forderung einer unbedingten Lebenswahrheit, den Grundanschauungen, welche Hebbel in ein so entschiednes Mißverhältnis zu der Mehrzahl seiner schreibenden (nicht seiner dichtenden) Zeitgenossen gebracht haben, weit näher zu liegen. Allein man vergegenwärtige sich nur einmal, was der größte Teil der jüngsten Belletristen und Feuilletonisten, Bühnenschriftsteller und Erzähler unter Lebenswahrheit eigentlich versteht, man rufe sich ins Ge¬ dächtnis, wie scheu sie allem edleren Leben (und wenn es in der Wirklichkeit zehntausend- und hunderttauseudmal existirt) ausweichen, wie sehr sie „alles schreckt, was eine Tiefe hat," wie flach und platt man gerade im Augenblicke nach Rezepten der Mode arbeitet nud „Gewerbeknnst" auch in der Poesie treibt, um einzusehen, daß der wirklich schöpferische Dichter, soweit ihm nicht die Gunst eines glücklichen Naturells Eingang verschafft, heute keineswegs besser gestellt ist als in den vierziger Jahren. Von Hebbel gelte« zwar jene Worte, die Wilbrandt in seiner Biographie Heinrichs von Kleist gesprochen, nur zum Teil, aber doch gerade genug, um es begreiflich zu macheu, daß er kein Liebling des großen Publikums sein konnte. „Eine finstere Klarheit des Auges zerstörte ihm den geheimnisvollen Farben¬ glanz der Welt, er sah die Blüten des Lebens nur als Erscheinungen vorüber¬ wandeln, die sittliche Welt verriet ihm kein innewohnendes unzerstörbares Gesetz. Eine innerliche Hitze und Heftigkeit warf ihm seine Kräfte durcheinander, und so spotteten sie seines Strebens, sie zu reiner und mächtiger Harmonie zu zwingen. Mit unbezwinglich haftender Leidenschaft hielt er alles, was er er¬ griffen, fest; wie er stets sein ganzes Leben daran setzt, so sollen ihm auch die Dinge, nach denen er ringt, sich ganz und ans einmal ergeben. So schlürft er jedes Gefühl, jede Leidenschaft, jede Seligkeit und jeden Schmerz unersättlich bis auf den letzten Tropfen aus; sonst wären sie nicht sein eigen, wären sie wertlos. Und wie leicht erkennt man, daß auch der Künstler Kleist in diese verhängnisvolle Flut getaucht ist. Auch er muß jedes Problem erschöpfen, es auch auf die zerbrechlichste Spitze stellen; bis ins Kleinste hinab, bis in Bilder und Gleichnisse, flüchtige Züge, Spiele des Augenblicks verfolgt ihn derselbe Trieb, und von dem Trank der Schönheit, den er uns reicht, soll nus auch die Hefe nicht erspart sein." (Wilbrandt, Heinrich von Kleist, S. 416.) Völlig kann, wie gesagt, diese Charakteristik eines ähnlich gearteten Talentes nicht auf Hebbel angewandt werden; so entschieden der moderne Dichter hinter gewissen Kräften und Eigenschaften Kleists zurückblieb, so sicher übertraf er ihn in andern, für das Ungestüm seiner Seele und seines Lebensbedürfnisses fand Hebbel ein Maß, und das Glück kam ihm, wenn auch sehr spät, doch immerhin noch rechtzeitig zu Hilfe. Aber soweit die Charakteristik Anwendung auf ihn leidet, soweit erklärt sie das Widerstreben der naiv Genießenden und Befriedigung ihrer begrenzten persönlichen Genußbedürfnisse von jedem Dichter Fordernden gegen seine Schöpfungen. Mit der kritischen Feindseligkeit gegen den Dichter ist dies

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/38>, abgerufen am 22.07.2024.