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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Der Richter von Zalainea.

Wenn wir nun aber auf den Kern der Sache eingehen und, indem wir
uns losmachen von dem bestrickenden Zauber der Form, uns Rechenschaft geben
über den Eindruck, den das "Was" des Gebotenen in uns hinterläßt, so ge¬
langen wir allerdings zu einem Resultate, welches uns zunächst erklärt, warum
dieses Stück trotz seiner hervorragenden dichterischen Schönheiten nicht schon
längst ans der deutschen Bühne Fuß gefaßt hat. Das Stück war ja unsern
Literaturkennern und Dramaturgen nicht aus den Augen geschwunden, und
mehrfache Versuche sind gemacht worden, es bei uns, sowie auch auf andern
außerdeutschen Bühnen einzubürgern. Unter andern gab kein geringerer als der
berühmte Schröder eine Bearbeitung und trat selbst mit großem Erfolge in der
Rolle des Richters Crespo auf. Otto von der Malsburg, dessen Übersetzung
mir vorliegt und ans dessen Vorrede ich obige Notiz entnehme, bemerkt dazu:
"In allen diesen Versuchen liegt das Gefühl einer ausnehmenden Wirksamkeit
des mannichfach veralteten Stoffes; und denkt man, wie die Zeit dem Dichter
in Anerkennung und Würdigung poetischer Tiefe nud Eigentümlichkeit näher¬
gerückt ist, so sollte man an der Möglichkeit eines weit approximativeren Ge¬
brauches für unsre jetzigen Bühnen nicht verzweifeln, wenn nicht diese Zeit
wieder das Wunderliche einer Prüderie hätte, die das Großartige nicht versöhnt."
Aber ich glaube nicht, daß bloße Prüderie die Ursache ist, wenn der Stoff des
"Richters von Zalamea" auf uns nicht die tiefgehende und nachhaltige Wirkung
ausübt, die uns die vollendete dichterische Gestaltung des Stoffes erwarten läßt.
Mit Recht nennt der feinsinnige Literarhistoriker Adolf Stern (in seiner "Ge¬
schichte der neueren Literatur") unser Werk "eine Dichtung, in welcher der Poet
über sich selbst und bei aller Volkstümlichkeit über sein Volk hinauswächst.
Die starre und dabei vollkommen äußerliche Standesehre, sagt Stern, ist hier in
jenes wahrhafte innerste heilige Ehrgefühl, welches in der Brust jedes Menschen
lebt, verwandelt; der Bauer Crespo ist eine so mächtige charakteristische Gestalt,
daß sie mit Recht als die beste Calderons bezeichnet werden möchte." Sehr
wahr! Aber wenn wir auch vollkommen mit dem Ehrgefühl, welches in der
Brust des Bauern Crespo lebt, shmpathisiren, so sind wir doch nicht mit ihm
darüber einig, wie weit er sich von diesem Ehrgefühl in seinem Handeln be¬
stimmen lassen darf.

Prüfen wir zunächst von unserm Standpunkte aus den Vorgang, durch
welchen das Ehrgefühl des Mannes verletzt wird.

Das an seinem Kinde verübte Verbrechen ist in unseru Augen nicht mehr
ein solches, das die Ehre befleckt; es gereicht dem armen Wesen, das davon
betroffen wird, so wenig zur Schande, als wenn es von einem tollen Hunde
gebissen oder von einer ansteckenden Seuche befallen würde. Und wenn wir
den Ausdruck "schänden" aus einer früheren, härter urteilenden Zeit beibehalten
haben, so entspricht dem nicht mehr unser Gefühl und unsre geläuterte Moral.
Für eine solche Unglückliche haben wir und sollen wir nur haben Mitleid.


Der Richter von Zalainea.

Wenn wir nun aber auf den Kern der Sache eingehen und, indem wir
uns losmachen von dem bestrickenden Zauber der Form, uns Rechenschaft geben
über den Eindruck, den das „Was" des Gebotenen in uns hinterläßt, so ge¬
langen wir allerdings zu einem Resultate, welches uns zunächst erklärt, warum
dieses Stück trotz seiner hervorragenden dichterischen Schönheiten nicht schon
längst ans der deutschen Bühne Fuß gefaßt hat. Das Stück war ja unsern
Literaturkennern und Dramaturgen nicht aus den Augen geschwunden, und
mehrfache Versuche sind gemacht worden, es bei uns, sowie auch auf andern
außerdeutschen Bühnen einzubürgern. Unter andern gab kein geringerer als der
berühmte Schröder eine Bearbeitung und trat selbst mit großem Erfolge in der
Rolle des Richters Crespo auf. Otto von der Malsburg, dessen Übersetzung
mir vorliegt und ans dessen Vorrede ich obige Notiz entnehme, bemerkt dazu:
„In allen diesen Versuchen liegt das Gefühl einer ausnehmenden Wirksamkeit
des mannichfach veralteten Stoffes; und denkt man, wie die Zeit dem Dichter
in Anerkennung und Würdigung poetischer Tiefe nud Eigentümlichkeit näher¬
gerückt ist, so sollte man an der Möglichkeit eines weit approximativeren Ge¬
brauches für unsre jetzigen Bühnen nicht verzweifeln, wenn nicht diese Zeit
wieder das Wunderliche einer Prüderie hätte, die das Großartige nicht versöhnt."
Aber ich glaube nicht, daß bloße Prüderie die Ursache ist, wenn der Stoff des
„Richters von Zalamea" auf uns nicht die tiefgehende und nachhaltige Wirkung
ausübt, die uns die vollendete dichterische Gestaltung des Stoffes erwarten läßt.
Mit Recht nennt der feinsinnige Literarhistoriker Adolf Stern (in seiner „Ge¬
schichte der neueren Literatur") unser Werk „eine Dichtung, in welcher der Poet
über sich selbst und bei aller Volkstümlichkeit über sein Volk hinauswächst.
Die starre und dabei vollkommen äußerliche Standesehre, sagt Stern, ist hier in
jenes wahrhafte innerste heilige Ehrgefühl, welches in der Brust jedes Menschen
lebt, verwandelt; der Bauer Crespo ist eine so mächtige charakteristische Gestalt,
daß sie mit Recht als die beste Calderons bezeichnet werden möchte." Sehr
wahr! Aber wenn wir auch vollkommen mit dem Ehrgefühl, welches in der
Brust des Bauern Crespo lebt, shmpathisiren, so sind wir doch nicht mit ihm
darüber einig, wie weit er sich von diesem Ehrgefühl in seinem Handeln be¬
stimmen lassen darf.

Prüfen wir zunächst von unserm Standpunkte aus den Vorgang, durch
welchen das Ehrgefühl des Mannes verletzt wird.

Das an seinem Kinde verübte Verbrechen ist in unseru Augen nicht mehr
ein solches, das die Ehre befleckt; es gereicht dem armen Wesen, das davon
betroffen wird, so wenig zur Schande, als wenn es von einem tollen Hunde
gebissen oder von einer ansteckenden Seuche befallen würde. Und wenn wir
den Ausdruck „schänden" aus einer früheren, härter urteilenden Zeit beibehalten
haben, so entspricht dem nicht mehr unser Gefühl und unsre geläuterte Moral.
Für eine solche Unglückliche haben wir und sollen wir nur haben Mitleid.


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[0367] Der Richter von Zalainea. Wenn wir nun aber auf den Kern der Sache eingehen und, indem wir uns losmachen von dem bestrickenden Zauber der Form, uns Rechenschaft geben über den Eindruck, den das „Was" des Gebotenen in uns hinterläßt, so ge¬ langen wir allerdings zu einem Resultate, welches uns zunächst erklärt, warum dieses Stück trotz seiner hervorragenden dichterischen Schönheiten nicht schon längst ans der deutschen Bühne Fuß gefaßt hat. Das Stück war ja unsern Literaturkennern und Dramaturgen nicht aus den Augen geschwunden, und mehrfache Versuche sind gemacht worden, es bei uns, sowie auch auf andern außerdeutschen Bühnen einzubürgern. Unter andern gab kein geringerer als der berühmte Schröder eine Bearbeitung und trat selbst mit großem Erfolge in der Rolle des Richters Crespo auf. Otto von der Malsburg, dessen Übersetzung mir vorliegt und ans dessen Vorrede ich obige Notiz entnehme, bemerkt dazu: „In allen diesen Versuchen liegt das Gefühl einer ausnehmenden Wirksamkeit des mannichfach veralteten Stoffes; und denkt man, wie die Zeit dem Dichter in Anerkennung und Würdigung poetischer Tiefe nud Eigentümlichkeit näher¬ gerückt ist, so sollte man an der Möglichkeit eines weit approximativeren Ge¬ brauches für unsre jetzigen Bühnen nicht verzweifeln, wenn nicht diese Zeit wieder das Wunderliche einer Prüderie hätte, die das Großartige nicht versöhnt." Aber ich glaube nicht, daß bloße Prüderie die Ursache ist, wenn der Stoff des „Richters von Zalamea" auf uns nicht die tiefgehende und nachhaltige Wirkung ausübt, die uns die vollendete dichterische Gestaltung des Stoffes erwarten läßt. Mit Recht nennt der feinsinnige Literarhistoriker Adolf Stern (in seiner „Ge¬ schichte der neueren Literatur") unser Werk „eine Dichtung, in welcher der Poet über sich selbst und bei aller Volkstümlichkeit über sein Volk hinauswächst. Die starre und dabei vollkommen äußerliche Standesehre, sagt Stern, ist hier in jenes wahrhafte innerste heilige Ehrgefühl, welches in der Brust jedes Menschen lebt, verwandelt; der Bauer Crespo ist eine so mächtige charakteristische Gestalt, daß sie mit Recht als die beste Calderons bezeichnet werden möchte." Sehr wahr! Aber wenn wir auch vollkommen mit dem Ehrgefühl, welches in der Brust des Bauern Crespo lebt, shmpathisiren, so sind wir doch nicht mit ihm darüber einig, wie weit er sich von diesem Ehrgefühl in seinem Handeln be¬ stimmen lassen darf. Prüfen wir zunächst von unserm Standpunkte aus den Vorgang, durch welchen das Ehrgefühl des Mannes verletzt wird. Das an seinem Kinde verübte Verbrechen ist in unseru Augen nicht mehr ein solches, das die Ehre befleckt; es gereicht dem armen Wesen, das davon betroffen wird, so wenig zur Schande, als wenn es von einem tollen Hunde gebissen oder von einer ansteckenden Seuche befallen würde. Und wenn wir den Ausdruck „schänden" aus einer früheren, härter urteilenden Zeit beibehalten haben, so entspricht dem nicht mehr unser Gefühl und unsre geläuterte Moral. Für eine solche Unglückliche haben wir und sollen wir nur haben Mitleid.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/367>, abgerufen am 22.07.2024.