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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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F. M. Dostojewsky.

geläuterte, vom Mönchtnme befreite, orthodoxe Kirche aber hat nicht Beherrscher,
sondern nur Berater und Leiter zu sein. Und von keinem andern erhofft der
Dichter die Regeneration seines Vaterlandes, als vom Volke selbst, nicht von
den Mönchen und nicht von den Nihilisten: "Vom Volke wird Rußlands
Rettung kommen. Das russische Kloster aber stand von jeher zum Volke. Ist
aber das Volk isolirt, so sind auch wir isolirt. Das Volk ist gläubig in unsrer
Weise, und eine ungläubige Kraft, mag sie auch noch so aufrichtigen Herzens,
noch so genialen Geistes sein, wird bei uns, in Rußland, nie etwas ausrichten.
Das Volk wird dem Atheisten begegnen und wird ihn bewältigen und wird das
einige, rechtgläubige Nußland bleiben. schätzet das Volk und behütet sein Herz.
Erzieht es in der Stille. Das ist eure mönchische Aufgabe, deun dieses Volk
trägt Gott im Herzen" -- so die Ermahnungen des Trägers von Dostojewskys
geistlichem Ideale. (II, 196.)

Wir haben uns etwas lange bei der allgemeinen Darstellung des Geistes
unsers Dichters aufgehalten und haben bisher noch nichts von der Handlung
des Romanes der "Brüder Karamasow" erzählt. Indes scheint uns eben dieser
großartige allgemeine Gehalt des jüngern Werkes seine das ältere, "Raskolnikow,"
weitaus überwiegende Bedeutung auszumachen; denn bei dem Einfluß, welchen
Dostojewsky auf seine Nation ausübt, liegt in diesen seinen Bekenntnissen für
den Ausländer ein eminent kulturhistorisches Interesse; so wie er denkt, darf
man annehmen, denkt die Mehrzahl der Gebildeten und zugleich Vernünftigen
seiner Nation. Aber Unrecht würden wir seinem Werke thun, wollten wir es
nur so einseitig charakterisiren; wollten wir nicht gleich hinzufügen, daß es vom
rein epischen Standpunkte, im Reichtum der Handlung, der Gestalten und der
packendsten Szenen dem Ideengehalte die Waage hält. Man kann ohne Über¬
treibung sagen, daß die Handlung des Romans Himmel und Hölle umfaßt,
die ganze Stufenleiter sittlicher Gestaltung, die höchste Fülle an verschieden¬
artigen Charakteren, sodaß keine Klasse sozialer Verhältnisse darin fehlen dürfte.
Und in allen diesen Verschiedenheiten bewährt sich des Dichters große plastische
Kraft. Mag er uns die Seligkeit eines beschaulich frommen Lebens oder die
teuflischen Qualen eines an aller Wahrheit und Sittlichkeit verzweifelten Ge¬
mütes schildern; mag er uns mit der liebevollsten Hingabe in das Innere un¬
schuldiger und kindlich trotziger Knabenseelen einführen oder zu der ausschweifenden
Orgie eines verzweifelten Verbrechers geleiten, der entschlossen ist, sich aus dem
Höhepunkte seines wollüstigen Rausches eine Kugel durch das Hirn zu jagen;
mag er uns in die Psychologie der Liebe, oder, mit dem nur ihm eignen Be¬
hagen, in der ausführlichen Mitteilung eines vom Untersuchungsrichter geführten
Verhörs in die Psychologie des Verbrechens einführen; mag er den Ton des
Evangelisten oder Staatsanwalts, den Ton des analytischen Skeptikers oder
den des Schwärmers anschlagen -- Dostojewsky beherrscht alle diese Töne,
diese Leidenschaften, diese Charaktere, diese Zustünde, und ein Zweifel an der


F. M. Dostojewsky.

geläuterte, vom Mönchtnme befreite, orthodoxe Kirche aber hat nicht Beherrscher,
sondern nur Berater und Leiter zu sein. Und von keinem andern erhofft der
Dichter die Regeneration seines Vaterlandes, als vom Volke selbst, nicht von
den Mönchen und nicht von den Nihilisten: „Vom Volke wird Rußlands
Rettung kommen. Das russische Kloster aber stand von jeher zum Volke. Ist
aber das Volk isolirt, so sind auch wir isolirt. Das Volk ist gläubig in unsrer
Weise, und eine ungläubige Kraft, mag sie auch noch so aufrichtigen Herzens,
noch so genialen Geistes sein, wird bei uns, in Rußland, nie etwas ausrichten.
Das Volk wird dem Atheisten begegnen und wird ihn bewältigen und wird das
einige, rechtgläubige Nußland bleiben. schätzet das Volk und behütet sein Herz.
Erzieht es in der Stille. Das ist eure mönchische Aufgabe, deun dieses Volk
trägt Gott im Herzen" — so die Ermahnungen des Trägers von Dostojewskys
geistlichem Ideale. (II, 196.)

Wir haben uns etwas lange bei der allgemeinen Darstellung des Geistes
unsers Dichters aufgehalten und haben bisher noch nichts von der Handlung
des Romanes der „Brüder Karamasow" erzählt. Indes scheint uns eben dieser
großartige allgemeine Gehalt des jüngern Werkes seine das ältere, „Raskolnikow,"
weitaus überwiegende Bedeutung auszumachen; denn bei dem Einfluß, welchen
Dostojewsky auf seine Nation ausübt, liegt in diesen seinen Bekenntnissen für
den Ausländer ein eminent kulturhistorisches Interesse; so wie er denkt, darf
man annehmen, denkt die Mehrzahl der Gebildeten und zugleich Vernünftigen
seiner Nation. Aber Unrecht würden wir seinem Werke thun, wollten wir es
nur so einseitig charakterisiren; wollten wir nicht gleich hinzufügen, daß es vom
rein epischen Standpunkte, im Reichtum der Handlung, der Gestalten und der
packendsten Szenen dem Ideengehalte die Waage hält. Man kann ohne Über¬
treibung sagen, daß die Handlung des Romans Himmel und Hölle umfaßt,
die ganze Stufenleiter sittlicher Gestaltung, die höchste Fülle an verschieden¬
artigen Charakteren, sodaß keine Klasse sozialer Verhältnisse darin fehlen dürfte.
Und in allen diesen Verschiedenheiten bewährt sich des Dichters große plastische
Kraft. Mag er uns die Seligkeit eines beschaulich frommen Lebens oder die
teuflischen Qualen eines an aller Wahrheit und Sittlichkeit verzweifelten Ge¬
mütes schildern; mag er uns mit der liebevollsten Hingabe in das Innere un¬
schuldiger und kindlich trotziger Knabenseelen einführen oder zu der ausschweifenden
Orgie eines verzweifelten Verbrechers geleiten, der entschlossen ist, sich aus dem
Höhepunkte seines wollüstigen Rausches eine Kugel durch das Hirn zu jagen;
mag er uns in die Psychologie der Liebe, oder, mit dem nur ihm eignen Be¬
hagen, in der ausführlichen Mitteilung eines vom Untersuchungsrichter geführten
Verhörs in die Psychologie des Verbrechens einführen; mag er den Ton des
Evangelisten oder Staatsanwalts, den Ton des analytischen Skeptikers oder
den des Schwärmers anschlagen — Dostojewsky beherrscht alle diese Töne,
diese Leidenschaften, diese Charaktere, diese Zustünde, und ein Zweifel an der


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[0363] F. M. Dostojewsky. geläuterte, vom Mönchtnme befreite, orthodoxe Kirche aber hat nicht Beherrscher, sondern nur Berater und Leiter zu sein. Und von keinem andern erhofft der Dichter die Regeneration seines Vaterlandes, als vom Volke selbst, nicht von den Mönchen und nicht von den Nihilisten: „Vom Volke wird Rußlands Rettung kommen. Das russische Kloster aber stand von jeher zum Volke. Ist aber das Volk isolirt, so sind auch wir isolirt. Das Volk ist gläubig in unsrer Weise, und eine ungläubige Kraft, mag sie auch noch so aufrichtigen Herzens, noch so genialen Geistes sein, wird bei uns, in Rußland, nie etwas ausrichten. Das Volk wird dem Atheisten begegnen und wird ihn bewältigen und wird das einige, rechtgläubige Nußland bleiben. schätzet das Volk und behütet sein Herz. Erzieht es in der Stille. Das ist eure mönchische Aufgabe, deun dieses Volk trägt Gott im Herzen" — so die Ermahnungen des Trägers von Dostojewskys geistlichem Ideale. (II, 196.) Wir haben uns etwas lange bei der allgemeinen Darstellung des Geistes unsers Dichters aufgehalten und haben bisher noch nichts von der Handlung des Romanes der „Brüder Karamasow" erzählt. Indes scheint uns eben dieser großartige allgemeine Gehalt des jüngern Werkes seine das ältere, „Raskolnikow," weitaus überwiegende Bedeutung auszumachen; denn bei dem Einfluß, welchen Dostojewsky auf seine Nation ausübt, liegt in diesen seinen Bekenntnissen für den Ausländer ein eminent kulturhistorisches Interesse; so wie er denkt, darf man annehmen, denkt die Mehrzahl der Gebildeten und zugleich Vernünftigen seiner Nation. Aber Unrecht würden wir seinem Werke thun, wollten wir es nur so einseitig charakterisiren; wollten wir nicht gleich hinzufügen, daß es vom rein epischen Standpunkte, im Reichtum der Handlung, der Gestalten und der packendsten Szenen dem Ideengehalte die Waage hält. Man kann ohne Über¬ treibung sagen, daß die Handlung des Romans Himmel und Hölle umfaßt, die ganze Stufenleiter sittlicher Gestaltung, die höchste Fülle an verschieden¬ artigen Charakteren, sodaß keine Klasse sozialer Verhältnisse darin fehlen dürfte. Und in allen diesen Verschiedenheiten bewährt sich des Dichters große plastische Kraft. Mag er uns die Seligkeit eines beschaulich frommen Lebens oder die teuflischen Qualen eines an aller Wahrheit und Sittlichkeit verzweifelten Ge¬ mütes schildern; mag er uns mit der liebevollsten Hingabe in das Innere un¬ schuldiger und kindlich trotziger Knabenseelen einführen oder zu der ausschweifenden Orgie eines verzweifelten Verbrechers geleiten, der entschlossen ist, sich aus dem Höhepunkte seines wollüstigen Rausches eine Kugel durch das Hirn zu jagen; mag er uns in die Psychologie der Liebe, oder, mit dem nur ihm eignen Be¬ hagen, in der ausführlichen Mitteilung eines vom Untersuchungsrichter geführten Verhörs in die Psychologie des Verbrechens einführen; mag er den Ton des Evangelisten oder Staatsanwalts, den Ton des analytischen Skeptikers oder den des Schwärmers anschlagen — Dostojewsky beherrscht alle diese Töne, diese Leidenschaften, diese Charaktere, diese Zustünde, und ein Zweifel an der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/363>, abgerufen am 23.07.2024.